05_Digitalisierung

Künstliche Intelligenz – ein Praxishandbuch

An „intelligenten“ Maschinen und „intelligenter“ Software wird seit Jahrzehnten geforscht, doch außer Mathematikern und Informatikern hat dies lange Zeit kaum jemand wahrgenommen. Dass sich künstliche Intelligenz (KI) bereits in immer mehr Prozesse unseres privaten wie beruflichen Alltags eingeschlichen hat, wird der Öffentlichkeit erst allmählich bewusst. Längst wertet eine KI unsere Röntgenbilder aus und analysiert Aktienmärkte, steuert unser Konsumverhalten, unser „Smart“-Phone und „smart“ vernetzte Gebäudefunktionen unseres Eigenheims. Unsere Autos sollen demnächst selbst fahren und Maschinen wie ganze Fertigungsstraßen werden zu intelligenten und selbstlernenden Systemen.

Ängste und Bedenken fokussierten zunächst auf Science-Fiction entlehnten Szenarien wie Amok laufenden Kampfrobotern oder Supercomputern, die ein unkontrollierbares Eigenleben entwickeln. Inzwischen wächst die Erkenntnis, dass die Risiken eines Einsatzes von KI – der prognostizierten Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts – ganz woanders liegen könnten.

KI hat längst begonnen,
die Arbeitswelt zu verändern

Die Diskussionen um Persönlichkeitsrechte und Überwachungsmechanismen werden lauter, ebenso die Befürchtungen, dass ganze Berufsgruppen überflüssig und durch intelligente Systeme abgelöst werden könnten. Der derzeitige Tenor lautet, dass der Einsatz von KI ethischer Vorgaben bedarf, eine in Kürze geplante KI-Verordnung auf EU-Ebene soll dafür einen Rahmen schaffen.

Damit wird es allerhöchste Zeit, dass sich auch Betriebe und Unternehmen, Beschäftigte und Mitarbeitervertreter mit dem Thema befassen. Denn ob lernende Maschinen oder neuronale Netze, intelligente Algorithmen oder smarte Alltagsgegenstände – KI wird auch die Arbeitswelt verändern und dieser Prozess hat längst begonnen. Doch die Thematik ist komplex, und wer sich fragt, was KI für das eigene Arbeitsleben bedeutet, muss sich mit unterschiedlichen Perspektiven und einer Vielzahl von Aspekten befassen. Genau dies liefert ein neues Werk, das 2022 im Bund-Verlag erschienen ist.

Beginnend mit Begriffsdefinition und einer Klassifizierung der KI-Systeme spannen die Autoren auf mehr als 450 Seiten einen weiten Bogen. Von den Grundrechten bis zum Betriebsrätemodernisierungsgesetz, über Datenschutz und Arbeitsschutz, Diversität und Diskriminierungsfreiheit, Ergonomie und Sozialverträglichkeit bis zu Fragen der Mitbestimmung werden konsequent die Chancen und Risiken von KI-Anwendungen herausgearbeitet.

Den Einsatz von KI im eigenen Betrieb aktiv mitgestalten

Die Autoren schlagen sich dabei keineswegs einseitig auf die Seite der Kritiker und Skeptiker. Sie gehen davon aus, dass KI zu kürzeren Arbeitszeiten führen wird, zu klügeren Entscheidungen und zu einer Steigerung der Produktivität. Aber die Einführung und Anwendung von KI in Betrieben und Unternehmen bedarf Regeln. Standardisierung, Rationalisierung und drohende Arbeitsverdichtung benötigen einen Ordnungsrahmen und Möglichkeiten der Mitgestaltung. Damit will das Werk aufklären und die Angst vor KI nehmen, aber auch Praxishilfe sein, um IT-Anwendungen im eigenen Arbeitsumfeld kritisch einzuordnen.

Das Werk ist trotz seines Umfangs gut lesbar und besticht durch eine Vielzahl von Checklisten und Prüffragen. Letztere sollen betriebliche Interessenvertretungen ermutigen und befähigen, sich vorausschauend in Diskussionen einzubringen. Der Fokus des Werks liegt damit auf den Gestaltungsmöglichkeiten für Betriebs- und Personalräte, aber auch für Gewerkschaftssekretäre, Rechtsanwälte und jeden, der sich dafür interessiert, wie künstliche Intelligenz sein Berufsleben verändert. Eine Fülle von Fußnoten bietet Ansatzpunkte, sich noch tiefer in die Materie einzuarbeiten.

Die Redaktion des Sicherheitsingenieur hat sich mit Lothar Schröder, einem der Autoren unterhalten. Herr Schröder ist ehemaliges Mitglied im ver.di Bundesvorstand und Vorsitzender des Innovationsausschusses im Aufsichtsrat der Deutschen Telekom.

Herr Schröder, sehen Sie KI in der Arbeitswelt eher als letzte Stufe einer konsequenten Digitalisierung betrieblicher Prozesse oder kommt damit etwas ganz Neues in unser Arbeitsleben?

Künstliche Intelligenz wird nicht die letzte Stufe der Digitalisierung bleiben, es ist aber die aktuellste und herausforderndste, mit der wir gegenwärtig zu tun haben. KI ist nicht in jeder Hinsicht neu, derartige Systeme bleiben IT-Systeme, trotz des klangvollen Namens.

Neu daran ist aber, dass sich die Systeme fortentwickeln können und wir es nun mit lernenden Maschinen zu tun haben. Neuartig ist, dass oft eine Sensorik genutzt wird, die die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit bei Weitem überschreitet. Gewöhnungsbedürftig wird sein, dass wir nicht in jeder Hinsicht eine „Wenn-Dann“-Programmierung brauchen, um einer Software zu sagen, was sie zu tun hat. Für die betriebliche Gestaltung ist es eine Herausforderung, dass KI-Systeme eine große Datenmenge brauchen, um Güte zu produzieren. Das ist ein Wertkonflikt für das Prinzip der Datenminimierung. Auch die Aspektvielfalt von KI ist ein Thema. In den meisten Debatten um Folgeabschätzungen derartiger Systeme wird über Datenschutz geredet, aber es kommen der Arbeitsschutz und die Betriebssicherheit zu kurz.

Ist die Skepsis vor einem Einsatz von KI in Unternehmen aus Ihrer Sicht berechtigt und begründet? Oder fällt das unter die aus der Geschichte bekannten Fortschrittsängste von Bedenkenträgern, wie sie etwa auch bei der Einführung der Eisenbahn, der Computer oder des Internets geäußert wurden?

Skepsis ist sicher angebracht, nicht aber Ignoranz oder Resignation. KI ist von Menschen gemacht und deswegen von Menschen beeinflussbar, aber Einfluss braucht Kenntnis und Initiative. Dazu müssen wir uns der Risiken ebenso bewusst werden, wie der Chancen, die derartige Systeme haben, und wir brauchen Gestaltungsziele differenziert nach unterschiedlichen Anwendungen. Wenn lernende Maschinen die Arbeit steuern, müssen neben dem Datenschutz gesunde Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt stehen. Wenn derartige Systeme Personalentscheidungen vorbereiten, muss es um Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung gehen. Wenn Künstliche Intelligenz unsere Sprache und Mimik auswertet, müssen der Schutz der Privatsphäre und die Freiheit der Gedanken im Vordergrund stehen. Wenn derartige Systeme über Chatbots und Sprachausgaben kommunizieren, ist die freie Meinungsbildung ein Gut, das es zu schützen gilt.

Bei lernenden Maschinen, die sich fortentwickeln muss die ständige Evaluation auf die Tagesordnung, um die demokratische Kontrolle zu erhalten, die uns in Deutschland die Mitbestimmung gibt. Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Regelkonformität, Robustheit, Kontrollierbarkeit, Sozialverträglichkeit und Nachhaltigkeit, das sind wesentliche Gestaltungsfaktoren.

Wo sehen Sie die größten Risiken, dass KI heutige Arbeitsplätze und Beschäftigungsformen abwerten oder gar überflüssig machen könnte?

Es ist schon ein Unterschied, ob Künstliche Intelligenz uns mit Übersetzungen, Zuarbeit und Suchhilfen unterstützt oder z.B. personalwirksame Entscheidungen trifft. Beschäftigte sind skeptisch, wenn sie das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren. Sie fürchten, dass ihre Qualifikationen entwertet werden und ihr einkommensrelevanter Wertstatus verloren geht. Natürlich ist die Sorge, Arbeit zu verlieren, relativ groß. In der Enquetekommission haben wir die Geschichte der Digitalisierung untersucht, aber keinen Beleg dafür gefunden, dass bilanziert mit der Digitalisierung mehr Jobs weggefallen sind, als neue entstanden sind.

Für KI gibt es noch keine belastbaren Zahlen, aber eine beispielhafte Vermutung meinerseits will ich Ihnen nicht vorenthalten. Ich glaube, dass lernende Maschinen in einigen Jahren autonome Fahrzeuge hervorbringen werden, was im Verkehrswesen, in der Logistik und im Taxigewerbe negative Beschäftigungswirkung haben wird. Bis dorthin wird die KI-Fähigkeit, schnell riesige Textmengen auszuwerten und Übersetzungen zu liefern, immer höhere Güte bieten, was die Nutzer gern annehmen werden. Bei Dolmetschern und juristischen Hilfsfunktionen beispielsweise wird das ebenfalls negative Beschäftigungswirkung entfalten. Es werden aber auch neue Jobs entstehen dort, wo KI angelernt, trainiert, überwacht und administriert werden muss. Keine Maschine läuft von sich allein. Sie muss entwickelt und beaufsichtigt werden. Dafür braucht es arbeitende Menschen.

Wie wirken sich „intelligente“ Anwendungen auf die betriebliche Mitbestimmung aus? Eröffnet KI uns neue Chancen zum selbstbestimmten Arbeiten oder wird sie unsere Handlungsspielräume einschränken?

Unsere Mitbestimmung ist ein Vorteil bei der Gestaltung von KI-Systemen. Sie kann helfen, aus Angst Sorgen und aus Sorgen Gestaltungsmuster zu entwickeln. Angst haben wir vor Dingen, die wir nicht verstehen. Sorgen bereiten uns Sachverhalte, die wir einzuschätzen wissen. Unbesorgt werden wir aber erst durch Beteiligung und Nützlichkeit des Neuen. Mitbestimmung kann dabei helfen, nützliche Anwendungen zu implementieren und Betroffene zu Beteiligten zu machen. Betriebsräte haben sogar ein neues Recht erhalten, dazu Sachverständige einfacher zu nutzen als bisher. Jetzt wird es notwendig und möglich, betriebliche Gestaltungsarbeit zu entwickeln, die über die Einflussnahme auf die häufig zitierte maschinelle Leistung oder Verhaltenskontrolle hinausgeht. Es geht ebenso um Arbeitsschutz wie den Datenschutz. Es geht um Persönlichkeitsrechte und Sicherheit im Betrieb, um Ethik und Grundrechte.

Eine Betriebsvereinbarung nach herkömmlichem Muster, die über Hunderte von Seiten die abschließend zulässigen Auswertungen beschreibt, wird nicht mehr passen, wenn Systeme Erkenntnisse liefern, auf die der Mensch von sich aus nicht kommt, und dies mit einer Geschwindigkeit, bei der der Mensch nicht mehr mitkommt. Es wird darum gehen, im laufenden Betrieb zu evaluieren und Trainingserfahrungen auch zum Gegenstand der Mitbestimmung zu machen. Die Einführung von KI-Systemen im Betrieb ist ein Prozess und kein einmaliger Akt. Dem sollten sich Mitbestimmungsakteure stellen. Im Selbstlauf wird KI nicht dafür sorgen, dass sie den Beschäftigten mehr Zeit für die Kunden, selbstbestimmtes und entspannteres Arbeiten, weniger Arbeitsdichte und menschlichere Arbeitsbedingungen bringt. Dies bedarf der Gestaltung und der Einflussnahme.

In Ihrem Praxishandbuch finden sich eine Vielzahl von Checklisten mit insgesamt Hunderten von Prüffragen. Womit sollte ein Leser anfangen, der die Einführung von KI-Anwendungen im eigenen Unternehmen kritisch begleiten möchte?

Die Leserinnen und Leser sollten überhaupt erst mal anfangen. Sie sollten sich aber bewusst sein, dass man auch wieder aufhören muss. Was ich damit meine: Bei KI wird es unmöglich sein, alle Aspekte auf einmal aufzurufen und alle Fragen auf einmal zu stellen, die wir in unserem Buch auflisten. Es ist sinnvoll, sich erstmal klarzumachen, welche sinnvolle Prinzipien es im Betrieb zur IT-Gestaltung schon gibt, die für KI passen. Die nächste Frage sollte lauten: Wo wollen wir mit unserer Einflussnahme eigentlich hin? Es geht um Qualitätsfaktoren, die das Ziel der Einflussnahme beschreiben, und es geht um deren Priorisierung.

Natürlich muss man die Frage stellen, womit man es überhaupt zu tun hat, welche Art von KI und welche Anwendung im Betrieb eingeführt werden soll. Aber um Einfluss zu nehmen, sollte man nicht warten, bis man die programmtechnisch-mathematischen Grundlagen neuronaler Netzwerke verstanden hat. Die wenigstens von uns wissen, wie man einen Motor zusammengeschraubt, aber wir haben eine verbreitete Vorstellung davon, dass wir eine Straßenverkehrsordnung brauchen. So ist es mit KI im Betrieb auch. Wir brauchen eine Vorstellung von einem stimmigen, für die Kultur des Betriebes und die Risikorelevanz des Systems gültigen Qualitätsmodell. So ein Modell stellen wir in unserem Buch vor. Betriebs- und Personalräten, betrieblichen Praktikern raten wir, daraus ihr eigenes Zielmodell in mehreren Schritten zu entwickeln. Wir haben 50 Jahre Erfahrung mit der Gestaltung von IT-Systemen in Deutschland gesammelt. Erfahrungen mit KI-Systemen können nicht von heute auf morgen entstehen. Sich das Recht zu nehmen, zu experimentieren, ist eine sehr wohl politische als auch sinnvolle Entscheidung.

Die im Buch geschilderten Visionen für 2030 wirken sehr optimistisch. Worauf begründen Sie diese positive Sicht?

Ich finde, wir brauchen eine positive Zukunftsvorstellung davon, wie unsere Zukunft mit KI eigentlich aussehen soll. Ein resignatives Zukunftsbild ermutigt niemanden zur Einflussnahme. Zumindest in den Debatten, zu denen ich eingeladen werde, wird jedoch viel, vielleicht zu viel, von kritischen Aspekten, Risiken und Befürchtungen geredet, leider aber zu wenig vom Nutzen und den Chancen. Für die Erörterung von Lösungswegen bleibt oft keine Zeit mehr. Daraus ist bei mir die Überzeugung gereift: Wir brauchen positive Impulse. Wir brauchen eine Vorstellung davon, wo wir hinwollen, und wir brauchen entschlossene Initiativen, vielleicht tastende Schritte, um da hinzukommen.


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