06_Betrieblicher Infektionsschutz

Erforschung von Long/Post-COVID und klinische Versorgung Betroffener verbunden mit der notwendigen Aufklärung und Kommunikation

Ausgangslage in Deutschland

Während der vergangenen beiden Jahre der COVID-19 Pandemie standen die akute COVID-19 Erkrankung, deren Krankheitslast und die Kapazitäten des Gesundheitswesens im Vordergrund, weitaus weniger aber die Langzeitfolgen der Infektion. Mögliche Langzeitfolgen von viralen Infektionen waren bereits bekannt und zeigten sich auch in der Folge der ersten Pandemiewelle 2020 bei SARS-CoV-2. Im Gegensatz zu der akuten COVID-19 Erkrankung sind Folgezustände vielschichtig und nicht immer eindeutig quantifizierbar. Die Bandbreite der Beschwerden reicht von Folgen der Akutinfektion für einige Wochen bis hin zu schweren langwierigen, teils irreversiblen Folgeschäden. Die Auswirkungen dieser potentiell langfristigen Komplikationen auf die Gesellschaft und das Sozialversicherungs- und Gesundheitssystem sind angesichts der hohen Infektionszahlen von hoher gesamtgesellschaftlicher Bedeutung.

Definition von Long COVID und Post-COVID

Während die meisten Betroffenen nach überstandener SARS-CoV-2-Infektion ohne erkennbare Folgen gesunden, kommt es bei einigen zu lang andauernden Folgebeschwerden. Bestehen mit einer SARS-CoV-2-Infektion assoziierte Symptome noch später als vier Wochen, wird dies derzeit unter dem Oberbegriff Long COVID zusammengefasst. Als Post-COVID– Zustand hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Oktober 2021 eine Unterform der Langzeitfolgen definiert, bei der anderweitig nicht erklärbare Symptome noch drei Monate nach der SARS-CoV-2-Infektion bestehen und zu relevanten Einschränkungen im Alltag führen. Große epidemiologische Studien zeigen, dass eine Mehrheit der PatientInnen mit schwerem, intensivpflichtigem COVID-19 Verlauf Langzeitkomplikationen entwickelt, während nach einer milden Infektion etwa 10 % der Betroffenen die Kriterien für Post-COVID erfüllen1.

Bei Post-COVID handelt es sich um einen komplexen Krankheitszustand, bei der die Lebensqualität der Betroffenen über lange Zeit erheblich eingeschränkt sein kann. Post-COVID kann mit einer Vielzahl körperlicher, kognitiver und psychischer Symptome einher gehen. Im Wesentlichen sind zwei PatientInnen-Gruppen zu unterscheiden: Erstens ältere (60 Jahre), häufiger männliche Betroffene mit Folgeerkrankungen nach schwerem, teilweise intensivpflichtigem COVID-19 Verlauf und zweitens jüngere (60 Jahre), überwiegend weibliche (im Verhältnis 2:1) PatientInnen, die nach einem milden oder moderaten COVID-19-Verlauf ohne Krankenhausaufenthalt langanhaltende Symptome entwickeln.

Auch Kinder und Jugendliche können von Long/Post-COVID betroffen sein. Junge Kinder erkranken deutlich seltener an Long/Post-COVID als Jugendliche. Allerdings sind Einschätzungen zur Krankheitslast durch Long/Post-COVID in den pädiatrischen Altersgruppen aufgrund der aktuell verfügbaren Studiendaten noch schwierig.

Klinisches Erscheinungsbild von Long/Post-COVID

Die Symptomatik von Long/Post-COVID ist in der Regel komplex und aufgrund des Fehlens diagnostischer Möglichkeiten nicht immer eindeutig organisch fassbar. Post-COVID beeinträchtigt bei vielen PatientInnen die Alltagsfunktion und Lebensqualität, bei schwer Betroffenen auch die soziale Teilhabe bis hin zu Ausbildungs- oder Berufsunfähigkeit.

Ein führendes Symptom vieler Post-COVID-Betroffener ist eine erhebliche Erschöpfung (Fatigue) und eingeschränkte Belastbarkeit. Einige berichten über eine stunden- oder tagelang anhaltende Symptomverschlechterung nach alltäglicher körperlicher Aktivität, sogenannte Post-Exertionelle Malaise (PEM). Oft zeigt sich die Krankheitsverschlechterung nach dem Versuch, die Berufstätigkeit, schulische oder sportliche Aktivitäten wieder aufzunehmen.

Zu den Beschwerden zählen auch kognitive Beeinträchtigungen, auch als brain fog bezeichnet, mit einhergehender verminderter Aufmerksamkeit und Gedächtnisfunktion. Kopf- und Muskelschmerzen treten ebenfalls auf und bergen bei unzureichender Behandlung ein hohes Risiko, chronisch zu werden.

Des Weiteren zeigen sich bei vielen Betroffenen Fehlfunktionen des vegetativen (autonomen) Nervensystems mit einhergehenden Kreislaufproblemen (Posturales Tachykardie-Syndrom, POTS) und Kurzatmigkeit. Strukturelle Organauffälligkeiten verbleiben häufig nach einem schweren COVID-19 Verlauf, sind jedoch nach milden Krankheitsverläufen selten zu finden, was die Diagnosestellung erschwert.

Studien weisen auf Überschneidungen zwischen Post-COVID und Myalgischer Encephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) hin. Dies ist eine komplexe, schwere, chronische Erkrankung, die nach unterschiedlichen Infektionskrankheiten auftreten kann und für die es bisher weder gute diagnostische Laborwerte (sogenannte Biomarker) noch eine gezielte Therapie gibt. Betroffene leiden unter einer schweren körperlichen und mentalen Fatigue, einer länger als 14 Stunden anhaltenden PEM sowie variabel ausgeprägten neurokognitiven und autonomen Störungen.

Neuere Studien zeigen auch einen möglichen Zusammenhang zwischen SARS-CoV-2-Infektionen und neu aufgetretenen chronischen Erkrankungen, darunter Einschränkungen der Nierenfunktion, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Thrombosen und Diabetes mellitus. Neuere epidemiologische und klinische Daten weisen darauf hin, dass verschiedene Vorerkrankungen und Risikofaktoren bei der Entstehung von Long/Post-COVID eine Rolle spielen können.

Mögliche Ursachen für
Long/Post-COVID

Die medizinischen Ursachen von Long/Post-COVID sind bislang nicht ausreichend aufgeklärt. Zu den Ursachen, die derzeit erforscht werden, gehören andauernde Entzündungsreaktionen, Autoimmunreaktionen, Gefäßveränderungen und das fortbestehende Vorhandensein von Virusbestandteilen, sowie mögliche psychosomatische Komponenten. Die Identifikation von Krankheitsmechanismen ist eine Voraussetzung für eine verbesserte Diagnostik und Therapie von Post-COVID.

Diagnostik und Therapie von
Long/Post-COVID

Da bisher keine spezifischen Biomarker zur Verfügung stehen ist eine oft aufwendige und kostenintensive Differenzialdiagnostik mit Ausschluss zahlreicher anderer Krankheitsursachen erforderlich. Wegweisend können hier messbare Funktionsstörungen sein, beispielsweise eine Minderung der Muskelkraft sowie Störungen von Kreislauf, Durchblutung, Konzentration und Gedächtnis. Eine besondere Herausforderung liegt gelegentlich darin, Long/Post-COVID von psychischen oder psychosomatischen Folgen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung abzugrenzen. Dies gilt insbesondere auch für Kinder und Jugendliche. Eine fälschliche Zuordnung der Beschwerden kann zu einer fehlerhaften Versorgung und zu Folgeschäden führen.

Wirksame ursächliche Therapieansätze fehlen bislang, weshalb die Behandlung symptomorientiert erfolgt. Dies erfordert eine enge intersektorale, interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit. Zudem müssen spezielle Rehabilitationskonzepte geschaffen werden, die mobile, aufsuchende Versorgungsoptionen einschließlich der Telemedizin enthalten. Eine ausführliche Beratung zum belastungsadaptierten Selbstmanagement ist unerlässlich. Neben der medikamentösen und physikalischen Therapie hat die psychosoziale Unterstützung einen hohen Stellenwert.

COVID-19-Impfung und
Long/Post-COVID

Mehrere Studien zeigen inzwischen, dass die COVID-19-Impfung das Risiko von Long/Post-COVID deutlich mindert. Allerdings gibt es einzelne Berichte von Long/Post-COVID-ähnlichen Symptomen nach einer COVID-19 Impfung. Die Erfassung und Versorgung aller PatientInnen sollten im Rahmen der unten genannten Maßnahmen erfolgen. Ferner gibt es keine Kontraindikation, Long/Post-COVID Betroffene gemäß STIKO Empfehlung zu impfen.

Empfehlungen zum Umgang mit Long/Post-COVID

Long/Post-COVID wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine langfristige Belastung der Gesellschaft sowie des Gesundheits- und Sozialversicherungssystems darstellen. Vor der Pandemie wurde für Deutschland mit etwa 250.000 ME/CFS Betroffenen gerechnet, darunter etwa 40.000 Kinder und Jugendliche. Die Zahl der Betroffenen wird in Folge der SARS-CoV-2-Pandemie deutlich ansteigen.

Einige Kliniken bieten inzwischen interdisziplinäre Long/Post-COVID-Ambulanzen oder Rehabilitationsprogramme an. Erste Empfehlungen zur Versorgung finden sich in der von verschiedenen deutschen Fachgesellschaften erarbeiteten S1-Leitlinie der AWMF. Angesichts der steigenden Zahl an PatientInnen ist das derzeitige Versorgungsangebot jedoch bei Weitem nicht ausreichend.

Eine weitere Herausforderung ist, dass die begrenzten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer ungenügenden Kommunikation zum Thema Long/Post-COVID führen. Dies resultiert in Wissenslücken, Unkenntnis und Verunsicherung in der Bevölkerung. Ungenügende Aufklärung sowie mangelnde Schulung von Risikopersonen, Betroffenen und Versorgenden bergen ein hohes Risiko für schwere Erkrankungen, Fehlversorgung und Stigmatisierung.

Dringend notwendige Maßnahmen:

  1. Etablierung flächendeckender, intersektoraler und interdisziplinärer Versorgungsstrukturen für Betroffene aller Altersgruppen (Versorgungsalgorithmen, Netzwerke geschulter niedergelassener HausärztInnen sowie Kinder- und JugendärztInnen, weiteren FachärztInnen, Kompetenzzentren, Spezialambulanzen und Rehabilitationskliniken). Aufbau und Refinanzierung ambulanter und stationärer Strukturen an Kliniken zur Bündelung der Fachexpertise und Verbesserung des Behandlungsangebots für Betroffene.
  2. Enge Verzahnung ambulanter und klinischer Versorgungsstrukturen mit konsentierten Qualitätskriterien in der Behandlung von Long/Post-COVID Betroffenen. Transparente Ausweisung entsprechender medizinischer Anlaufstellen z.B. auf der Website des RKI, der Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern.
  3. Ausweitung der Förderung der klinischen und translationalen Forschung, Grundlagenforschung und Versorgungsforschung zu Post-COVID sowie deren Koordination, Harmonisierung und Vernetzung.
  4. Etablierung von Zentren für klinische Studien u.a. zur Prüfung von bereits zugelassenen (drug re-purposing) und neuen Medikamenten und Behandlungsverfahren. Nutzung des Standortvorteils (pharmazeutische Industrie mit vielversprechenden Kandidaten für Medikamente und Medizinprodukte, Expertise zu ME/CFS und bestehende Studienplattformen).
  5. Aufklärungs- und Informationskampagnen für alle AkteurInnen im Gesundheitswesen (einschließlich Gesundheitsämtern) und von sonstigen versorgungsrelevanten Berufsgruppen (z.B. LehrerInnen, JuristInnen) in Form von Öffentlichkeitsarbeit sowie von Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogrammen.
  6. Aufklärung der Bevölkerung durch professionelle Gesundheitskommunikation darüber, was bekannt und noch unbekannt ist, wie man sich schützen kann (z.B. die Bedeutung des Impfens auch als bestmöglicher Schutz vor Long/Post-COVID) und welche sonstigen Handlungsempfehlungen und Unterstützungsmöglichkeiten bestehen (siehe z.B. die Leitlinie „Long/Post-COVID-Syndrom für Betroffene, Angehörige, nahestehende und pflegende Personen“ der AWMF2). Dies sollte durch eine für alle Bevölkerungsgruppen ansprechende und intensivierte Impfkampagne begleitet werden.
  7. Erstellung einer detaillierten wissenschaftlichen Analyse mit qualitativer und quantitativer Einordnung von Long/Post-COVID.
  8. Einbindung von PatientInnen-Organisationen (siehe hierzu Nationaler Aktionsplan und Nationale Klinische Studien-Gruppe von „Long COVID Deutschland“ und „Deutsche Gesellschaft für ME/CFS“ vom 18.2.2022).

Zustimmung im ExpertInnenrat:
19 von 19

1Die unterschiedlichen Einschätzungen zur Häufigkeit von Post-COVID sind von den jeweils untersuchten PatientInnen-Gruppen abhängig.

2https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/020–027p_S1_Post_COVID_Long_COVID_2021–12.pdf

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