11_Aktuelles aus dem Recht

Das Tun und das Nicht-Tun

Die Pflichtverletzung kann eine Handlung sein, aber auch ein Unterlassen – insoweit geht es um die Pflicht und Verantwortung, etwas zu tun – und dieses Etwas, was getan werden muss, kann aus dem Arbeitsschutzrecht folgen. Die Rechtsordnung richtet sich an den Menschen. Rechtlich relevant handeln können nur Rechtsfähige.

  • Technik allein kann im rechtlichen Sinne nichts tun oder unterlassen – Automaten und Roboter und andere Produkte sind nicht haftungsfähig.
  • Auch „Organisationen handeln nicht. Menschen entscheiden und sind verantwortlich für das, was sie tun“ (1). Handlungen von natürlichen Personen können aber juristischen Personen zugerechnet werden.

Menschliches Handeln ist der „Urgrund der Haftung“ (2). „Wenn Menschen infolge der Verwendung gesundheitsschädlicher Produkte sterben, muss stets geprüft werden, auf welches konkretes menschliches Verhalten welcher konkreten Person der Erfolg zurückzuführen ist“ (3).

Es gibt nur Tun oder Nicht-Tun

Verhalten ist Tun oder Unterlassen. „Wir sind verantwortlich für das, was wir tun, aber auch für das, was wir nicht tun“ (4). „Im Straßenverkehr, bei der Ausführung von Arbeitsaufträgen, als Bürger eines Staates, in der Familie oder bei der Lebensgestaltung: Verantwortung ist unser ständiger Begleiter. Für unser Tun und Unterlassen tragen wir Verantwortung“ (5).

Die Verantwortung für Unterlassen bringt § 15 Abs. 1 Satz 2 ArbSchG für den Arbeitsschutz so zum Ausdruck: Beschäftigte „haben auch für die Sicherheit und Gesundheit der Personen zu sorgen, die von ihren Handlungen oder Unterlassungen bei der Arbeit betroffen sind“. Im Strafrecht regelt der enorm bedeutsame § 13 StGB die Unterlassungsverantwortung: „Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht“. Wer „Garant“ in diesem Sinne ist, ist verantwortlich und kann bei Nichterfüllung von (Arbeitsschutz-)Pflichten strafrechtlich haften – wenn es zu einem (Arbeits-)Unfall gekommen ist (6). Im Vergleich zu Tätigkeitsdelikten „stellt sich hier die Frage nach den persönlichen Verantwortlichen in besonderer Weise“ (7).

  • Einerseits: Die Verantwortung für (sicherheitswidriges) Tun besteht immer – auch (und gerade), wenn man keine Befugnis hatte, zu handeln.
  • Andererseits: Die Verantwortung für Unterlassen einer Sicherheitsmaßnahme ist begrenzt auf die Reichweite der Befugnisse – aber diese Befugnisse kann man auch erhalten haben durch vorheriges Tun.

Konkretes menschliches Verhalten

Im Rahmen der Haftungsvoraussetzungen kommt es immer auf ein „konkretes menschliches Verhalten“ an – nicht „schlechte Lebensführung“ oder „rechtsfeindliche Gesinnung“ (8). Ohne Bedeutung ist es indes nicht, wie man sich „führt“:

  • Strafzumessung: Das Landgericht Neubrandenburg wertete es als strafverschärfend, dass der Vorgesetzte „offenbar nicht engagiert genug um die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften bemüht war“ – und das „wirft kein gutes Licht auf ihn und ist Ausdruck einer Persönlichkeit, die zu mangelnder Sorgfalt neigt“ (9).
  • Kündigungsschutzklagen: Das Landesarbeitsgericht Mainz wertete „die mehrfache Nichtbefolgung der Sicherheitsanweisungen“ als „nicht nur geringfügigen, sondern einen schwerwiegenden Pflichtenverstoß. Dieser ist vorliegend auch deswegen besonders gravierend, weil der Kläger als Obermonteur eine Vorbildfunktion inne hatte und er in dieser Position seinerseits u.a. darüber zu wachen hatte, dass die übrigen Mitarbeiter die Sicherheitsvorschriften einhalten“ (10).

Abgrenzung zwischen
Tun und Unterlassen

Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen ist wichtig, weil – so der Gesetzgeber – „das Unterlassen der Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges regelmäßig weniger schwer wiegt als die Herbeiführung dieses Erfolges durch ein positives Tun“ (11), weil – so die Strafrechtsliteratur – „es zur Vornahme einer positiven Handlung in der Regel stärkerer Willensintensität bedarf als zu einem untätigen Geschehenlassen“ (12). Konsequenz ist § 13 Abs. 2 StGB, nach dem bei Unterlassen „die Strafe gemildert werden kann“. Diese Vorschrift wird in erstaunlich vielen Urteilen nach Arbeitsunfällen nicht diskutiert – obwohl der BGH fordert, dass der „Richter in einer wertenden Gesamtwürdigung der wesentlichen unterlassungsbezogenen Gesichtspunkte prüfen und seine Auffassung nachprüfbaren Weise darlegen muss“ (13).

Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen kann schwierig sein:

  • Im Einstellungsbeschluss nach dem ICE-Unfall bei Eschede ließ das Landgericht Lüneburg offen, woran es beim Konstruktionsleiter des Herstellers des gebrochenen Radreifens anknüpfte – und sprach von „einer möglichen Unrechtshandlung bzw. einem vorwerfbaren Unterlassen von gebotenen Handlungen“.
  • Nach Einsturz der Eishalle in Bad Reichenhall sagte das Landgericht Traunstein im Strafverfahren gegen den Prüfingenieur: „Wer ungeprüfte und nicht beauftragte Feststellungen trifft, die sich in der Folge als falsch herausstellen, dem ist nicht ein Unterlassen vorzuwerfen, sondern ein aktives Tun, nämlich eine ungeprüfte falsche Behauptung aufzustellen“.
  • Nach langer Diskussion warf das Amtsgericht Donaueschingen einer Fachkraft für Arbeitssicherheit nicht Unterlassung ordnungsgemäßer Beratung, sondern pflichtwidriges Tun vor, indem sie den Entwurf einer Gefährdungsbeurteilung ungeprüft übernommen habe (14). „Nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ist vorliegend von einem aktiven Tun und nicht von einem bloßen Unterlassen auszugehen“.
  • Das Amtsgericht Düsseldorf urteilte (15): „Der Angeklagte als Unternehmensführer hatte es pflichtwidrig unterlassen, ein für das Aufstellen des Spielgerätes geeignetes Arbeitsmittel einzusetzen und dieses Gerät ausreichend zu sichern, um ein Verrutschen oder Umkippen der Last zu verhindern“ (16). Verurteilt wird der Bauunternehmer wegen „pflichtwidrigen Unterlassens“, obwohl der Schwerpunkt auf einem Tun liegt – nämlich dem sicherheitswidrigen Einsatz des Gabelstaplers. Es muss also heißen: „Der Angeklagte hatte pflichtwidrig ein für das Aufstellen des Spielgerätes ungeeignetes Arbeitsmittel eingesetzt“ – der Unternehmer steuerte nämlich vor Ort den Stapler.

Hinweis: Bitte beachten Sie ergänzend zu diesem Fachbeitrag auch die folgende Erörterung des Autors zum Urteil im Prozess zum Transrapid-Unfall.

Literaturverzeichnis

Niels Pfläging, Führen mit flexiblen Zielen – Beyond Budgeting in der Praxis, 2006.

Erwin Ahrens / Hans-Jürgen Ahrens, Deliktsrecht, 5. Aufl. 2009, Rn. 81, 82 und 88, S. 36 und 38.

Jörg Eisele / Bernd Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2017, Rn. 121, S. 19 f.

Dieser Satz wird Voltaire und Molière zugeschrieben.

Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW), Verantwortung im Arbeitsschutz – Rechtspflichten und Rechtsfolgen, Broschüre B 2, Februar 2017, Einführung.

Ausführlich Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen (2020).

Johannes Kaspar, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2015, Rn. 937, S. 255.

Jörg Eisele / Bernd Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2017, Rn. 128 und 358,
S. 52 und 137.

LG Neubrandenburg, Urteil v. 16.06.2003
(Az. 9 Ns 53/01); Urteilbesprechung in Wilrich/Wilrich, Gefahrstoffrecht vor Gericht, 2021, Fall 8 „Acetylenexplosion beim Schweißen“,
S. 51 ff.

LAG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 14. April 2005 (Az. 11 Sa 810/04).

BT-Drs. V/4095, S. 8 („V“ steht für 5. Wahlperiode).

Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 13 Rn. 17.

GH, Beschluss v. 30.06.2011 (Az. 4 StR 241/11).

Ich halte dieses Urteil aus mehreren Gründen für falsch – Besprechung in Wilrich, Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure, 2022, Fall 12 „Schlagschere“,
S. 353 ff.

AG Düsseldorf, Urteil v. 06.12.2012
(Az. 106 Ls-90 Js 7375/11–12/12).

Urteilsbesprechung in Wilrich, Bausicherheit – Arbeitsschutz, Baustellenverordnung, Koordination, Bauüberwachung, Verkehrssicherungspflichten und Haftung der Baubeteiligten, 2021, Fall 23 „Gabelstaplerunfall beim Kletterturm-Aufbau“, S. 237 ff.


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