Aktuelle Entwicklungen – KI auf dem Vormarsch
Dr. Siegmann: Herr Pott, welche konkreten Einsatzmöglichkeiten von Künstlicher Intelligenz (KI) sehen Sie derzeit in der Arbeitsmedizin – und in welchen Bereichen kann sie schon heute eine spürbare Unterstützung im Praxisalltag bieten?
G. Pott: Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Arbeitsmedizin hat in den letzten Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen – und das Interesse in der Fachwelt ist spürbar gewachsen. Ein aktuelles Beispiel dafür war die Veranstaltung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) am 14.05.2025 im Rahmen des Dresdner Treffpunkts zum Thema „Chatbotguide – Sprachmodelle im Arbeitsschutz nutzen?“. Mit einer dreistelligen Zahl an Teilnehmenden wurde dort eindrucksvoll sichtbar, wie groß das Interesse an Chatbots und KI-Assistenten im betrieblichen Arbeitsschutz inzwischen ist.
In der arbeitsmedizinischen Praxis lassen sich aktuell vor allem drei Einsatzfelder klar benennen:
- Analyse komplexer Gesundheits- und Arbeitsplatzdaten, um Muster, Trends und Risikoprofile schneller zu erkennen.
- Optimierung administrativer Prozesse und Dokumentation, etwa durch automatisierte Erstellung von Vorsorgeplänen, Gefährdungsbeurteilungen oder Informationsschreiben.
- Unterstützung der Rechtssicherheit, indem KI-gestützte Systeme relevante Leitlinien und gesetzliche Vorgaben unmittelbar in ihre Vorschläge integrieren.
Gerade bei zeitintensiven Routinetätigkeiten zeigt sich der Nutzen unmittelbar: Ärztinnen und Ärzte werden entlastet, sodass mehr Zeit für persönliche Beratung, Prävention und strategische Gesundheitssteuerung bleibt. Ein anschauliches Beispiel für einen praxisnahen Einsatz ist Copilot24.de, ein speziell entwickelter KI-Assistent für Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit.
Copilot24.de –
Ein digitaler Fachkollege
Dr. Siegmann: Können Sie unseren Leserinnen und Lesern erläutern, wie genau Copilot24.de in der Praxis funktioniert?
G. Pott: Copilot24.de funktioniert wie ein digitaler Fachkollege, der auf einem umfangreichen, fachlich geprüften Wissensfundament arbeitet. Der Betriebsarzt/ärztin gibt strukturierte Informationen ein – beispielsweise Beschreibungen von Arbeitsplätzen, Angaben zu Gefährdungen, arbeitsmedizinische Fragestellungen oder anonymisierte Ergebnisse aus Vorsorgeuntersuchungen. Das System analysiert diese Eingaben, gleicht sie mit aktuellen medizinischen Leitlinien, Arbeitsschutzverordnungen und branchenspezifischen Standards ab und liefert anschließend passgenaue Handlungsempfehlungen. Hierbei können mittels Nachfragen wunschgemäße Konkretisierungen ausgearbeitet werden.
Zusätzlich kann Copilot24.de aus einem integrierten Katalog praxisgerechte Dokumentenvorlagen, Checklisten und Formulierungshilfen generieren. Die Wissensbasis wird fortlaufend aktualisiert, sodass rechtliche Änderungen, neue Studienergebnisse und anerkannte Best Practices automatisch einfließen können. Dank kontinuierlicher Aktualisierung unterstützt der Assistent mit stets aktuellen, gut recherchierten Empfehlungen für den Arbeitsalltag. Es bleibt aber stets zu beachten, dass diese Hinweise keine verbindliche Rechtsauskunft ersetzen können und immer eigenständig geprüft werden müssen.
Prävention und Früherkennung – Auffälligkeiten vor Symptomen erkennen
Dr. Siegmann: Wie kann KI dazu beitragen, arbeitsbedingte Erkrankungen oder Belastungen früher zu erkennen, und wo liegen hier die Grenzen der derzeitigen Systeme, z. B. durch automatisierte Auswertung von Vorsorge- oder Screeningergebnissen?
G. Pott: KI kann in der Prävention und Früherkennung eine wertvolle Rolle spielen, indem sie große Datenmengen aus Vorsorgeuntersuchungen, Screeningprogrammen und Verlaufsbeobachtungen automatisiert analysiert. Beispielsweise lassen sich Abweichungen von Referenzwerten oder sich entwickelnde Trends – wie steigende Lärmbelastung, zunehmende Muskel-Skelett-Beschwerden oder Auffälligkeiten in Lungenfunktionswerten – frühzeitig erkennen.
Die Systeme können zudem Daten aus verschiedenen Quellen miteinander verknüpfen, etwa medizinische Parameter mit Arbeitsplatzbelastungen oder ergonomischen Risikofaktoren. Das ermöglicht eine fundierte Risikoeinschätzung noch bevor Symptome klinisch manifest werden.
Grenzen bestehen aktuell in der Qualität und Standardisierung der erhobenen Daten sowie in der notwendigen ärztlichen Plausibilitätsprüfung. Die KI liefert Hinweise, die finale Bewertung und Interpretation muss aber immer durch den Arzt erfolgen.
Ergonomie und Belastungsanalyse – Von Rohdaten zur Handlungsempfehlung
Dr. Siegmann: Inwiefern können KI-Assistenten Daten aus Wearables, Arbeitsplatzanalysen oder Sensorik interpretieren und den Betriebsarzt/ärztin bei ergonomischen Bewertungen oder Gefährdungsbeurteilungen entlasten?
G. Pott: KI-Assistenten sind in der Lage, kontinuierlich erhobene Bewegungs-, Kraft- oder Belastungsdaten aus Wearables oder Arbeitsplatzsensoren zu verarbeiten. Sie können diese Werte mit arbeitswissenschaftlichen Normen und Referenzwerten abgleichen und Abweichungen oder Belastungsspitzen automatisch kennzeichnen. Auch komplexe Bewegungsmuster lassen sich analysieren, um ergonomische Fehlbelastungen zu identifizieren.
Für den Betriebsarzt/ärztin bedeutet das eine deutliche Zeitersparnis: Anstatt sich durch unüberschaubare Rohdaten zu arbeiten, erhält er eine verdichtete, interpretierte Analyse mit klaren Handlungsempfehlungen. Die ärztliche Fachkompetenz wird dann gezielt zur Feinbewertung und Priorisierung eingesetzt.
Individualisierte Betreuung – Maßgeschneiderte Empfehlungen
Dr. Siegmann: Wie lassen sich mithilfe von KI-Assistenten personalisierte arbeitsmedizinische Empfehlungen ableiten, die sowohl den individuellen Gesundheitsstatus als auch die spezifischen Arbeitsplatzbedingungen berücksichtigen?
G. Pott: Ein KI-Assistent kann individuelle Gesundheitsdaten – zum Beispiel Vorsorgeergebnisse, bekannte Vorerkrankungen oder Belastungstoleranzen – mit Arbeitsplatzprofilen und branchenspezifischen Risiken zusammenführen. Daraus entstehen präzise, personalisierte Empfehlungen, die passgenau auf die konkrete Belastungssituation zugeschnitten sind.
Das Spektrum reicht von gezielten Präventionsmaßnahmen, über individuelle Anpassung von Schutzausrüstung bis hin zu passgenauen Intervallplanungen für Vorsorgeuntersuchungen. Diese personalisierte Herangehensweise ermöglicht eine effizientere Prävention und reduziert sowohl gesundheitliche Risiken für den Mitarbeiter als auch betriebliche Ausfallzeiten.
Datenschutz und Ethik –
Absolute Priorität
Dr. Siegmann: Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich im Umgang mit sensiblen Gesundheits- und Beschäftigtendaten bei KI-Anwendungen, insbesondere im Hinblick auf DSGVO und ärztliche Schweigepflicht?
G. Pott: Der Umgang mit sensiblen Gesundheits- und Beschäftigtendaten erfordert höchste Sicherheitsstandards – sowohl technisch als auch organisatorisch. Die Einhaltung aller Datenschutzanforderungen liegt dabei stets in der Verantwortung des Anwenders.
Im Idealfall wird der KI-Assistent in einer technisch besonders gesicherten und isolierten Umgebung betrieben, die keine direkte Verbindung zum Internet aufweist. In der Praxis arbeiten viele KI-Assistenten jedoch mit verfügbaren Sprachmodellen (LLMs), die auf eine breite Wissensbasis über das Internet zugreifen. Deshalb ist es besonders wichtig, dass der Anwender neben der uneingeschränkten ärztlichen Schweigepflicht ebenfalls sicherstellt, dass weder Fragestellungen noch Analysedaten Rückschlüsse auf einzelne Personen zulassen.
Personenbezogene Daten unterliegen einem besonderen Schutz gemäß DSGVO und dürfen bei der Nutzung des Assistenten nicht ohne entsprechende Anonymisierung verarbeitet oder offengelegt werden. Dies ist ausnahmslos vom Anwender zu gewährleisten.
Entscheidungsunterstützung vs. Verantwortung
Dr. Siegmann: Wo sollte die Grenze zwischen KI-gestützter Entscheidungsunterstützung und der eigenständigen medizinischen Beurteilung durch den Betriebsarzt/ärztin gezogen werden?
G. Pott: KI darf ausschließlich als Unterstützungstool fungieren, das relevante Informationen filtert, strukturiert und aufbereitet. Die ärztliche Entscheidungshoheit bleibt unangetastet. Das bedeutet: Empfehlungen der KI sind Hinweise – keine Entscheidungen.
Der Betriebsarzt/-ärztin muss jede Aussage der KI kritisch hinterfragen, in den individuellen Kontext einordnen und gegebenenfalls durch eigene Untersuchungen ergänzen. Medizinische Verantwortung kann weder an Software noch an externe Stellen delegiert werden.
Evidenzbasierung – Qualität muss überprüfbar sein
Dr. Siegmann: Welche Qualitätskriterien und Validierungsverfahren sind erforderlich, um die medizinische Verlässlichkeit von KI-Algorithmen im Arbeitsschutz sicherzustellen?
G. Pott: Um die medizinische Verlässlichkeit von KI-Algorithmen im Arbeitsschutz sicherzustellen, sind klare Qualitätskriterien entscheidend: Transparenz der genutzten Datenbasis, regelmäßige Aktualisierung entsprechend aktueller gesetzlicher Vorgaben, fachlicher Leitlinien und wissenschaftlicher Evidenz sowie eine unabhängige Überprüfung der Ergebnisse.
Die eingesetzten Sprachmodelle (LLMs) mit denen insbesondere KI-Assistenten arbeiten, sind nicht branchenspezifisch angebunden, sondern generieren ihre Antworten auf Grundlage der im Modell hinterlegten, öffentlich zugänglichen Informationen – beispielsweise Gesetze, Verordnungen, anerkannte Fachpublikationen von Verbänden sowie weiterer seriöser Quellen. Sie verfügen über interne Mechanismen, um die Genauigkeit ihrer Antworten zu maximieren.
Da die Algorithmen und Trainingsprozesse dieser Sprachmodelle (LLMs) nicht öffentlich einsehbar sind, ist eine vollständige Transparenz nicht gegeben. Daher müssen alle generierten Empfehlungen im Arbeitsschutz stets fachlich überprüft und mit den jeweils aktuellen Primärquellen abgeglichen werden.
Akzeptanz schaffen –
KI als Ergänzung, nicht als Ersatz
Dr. Siegmann: Wie können Betriebsärzte und Arbeitsschutzexperten die Akzeptanz für KI-gestützte Verfahren bei eigenen Arbeitnehmern fördern – insbesondere bei Skepsis oder Technikängsten?
G. Pott: Akzeptanz entsteht durch Transparenz, Partizipation und den klar erkennbaren Mehrwert des eingesetzten Werkzeugs. Bei einem KI-Assistenten wie Copilot24.de handelt es sich um ein internes Arbeitswerkzeug für Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit – vergleichbar mit einem digitalen Mitarbeiter, der ausschließlich der fachlichen Unterstützung dient. Die Nutzung erfolgt somit nicht zur direkten Interaktion mit Probanden oder Kundenunternehmen, sondern als Hilfsmittel für den Arbeitsschutzexperten im Hintergrund.
Praktisch bewährt haben sich Pilotprojekte mit klar definierten Zielen, regelmäßige Feedbackrunden und Schulungen, die Transparenz schaffen und mögliche Technikängste abbauen. Entscheidend ist die klare Kommunikation: Der KI-Assistent ergänzt die Arbeit des Experten – er ersetzt nicht die ärztliche Betreuung oder die persönliche Verantwortung der Fachkraft.
Blick in die Zukunft –
KI als Standardwerkzeug
Dr. Siegmann: Welche Entwicklungen erwarten Sie in den nächsten 5 bis 10 Jahren, und wie wird sich dadurch das Rollenbild des Betriebsarztes/der Betriebsärztin verändern?
G. Pott: In den kommenden Jahren werden KI-Assistenten zu Standardwerkzeugen im arbeitsmedizinischen Alltag. Andere technologiegetriebene Branchen sind hier sicher sog. „early adopter“ und geben den Weg vor. Die Systeme werden nicht nur Daten analysieren, sondern in Echtzeit mit Sensoren und betrieblichen Informationssystemen interagieren.
Das Rollenbild des Betriebsarztes / der Betriebsärztin wird sich weiterentwickeln – weg vom primären Verwaltungs- und Dokumentationsaufwand, hin zu einer stärker strategischen Rolle als Gesundheitsmanager und Berater, der KI-Analysen interpretiert, Prioritäten setzt und Maßnahmen zielgerichtet für den Kunden zur Umsetzung bringt. Die persönliche ärztliche Expertise wird dadurch nicht ersetzt, sondern um ein leistungsfähiges, datengetriebenes Werkzeug ergänzt.
Interviewpartner:
Herr Guido Pott, Entwickler von Copilot24.de – Gründer der Meduno Arbeitsschutz GmbH
Interviewer:
Dr. Silvester Siegmann, Redaktion ErgoMed
- Strukturierte Handlungsempfehlungen
- Dokumentenvorlagen und Checklisten
- Fortlaufende Aktualisierung mit Rechts- und Fachstandards
- Möglichkeit zur Präzisierung durch Rückfragen


