Arbeitsschutz

Quantitative Risikoeinschätzung bei Pandemie

Zusammenfassung Die neue Influenza A(H1N1) hat deutlich gemacht, wie schnell sich ein neues Grippe-Virus weltweit ausbreiten kann. Am Anfang des Grippeausbruchs in Mexiko und den USA Ende April und Anfang Mai war das Virus eine medienbeherrschende Neuigkeit. Obwohl sich das Virus inzwischen weltweit verbreitet hat und die Erkrankungsrate weltweit um den Faktor 100 zugenommen hat, wird viel seltener vom Grippe-Virus berichtet. Die Medienaufmerksamkeit ist deshalb kein geeignetes Maß, mit dem das Risiko der Gefahr durch das neue Influenza A(H1N1) Virus eingeschätzt werden kann. Seit Beginn des Grippeausbruchs veröffentlichen offizielle Stellen die kumulativen Fälle sowie die täglich neuen Fälle. Auch diese absoluten Zahlen sind nur mittelbar für die länderbezogene Risikoeinschätzung nutzbar, da sie nicht auf die Bevölkerungsdichte bezogen werden. Vor diesem Hintergrund haben wir eine quantitative länderbezogene Risikoschätzung auf der Basis der Vier-Wochen-Prävalenz für bestätigte Fälle von Influenza A(H1N1) entwickelt. Mittels webbasierter Technologie wird die Prävalenz in Form eines Geographic Information System (GIS) als auch in Tabellenform für jedes Land dargestellt und ein Farbstufen-abhängiges Ranking vorgenommen. Mittels eines fünfstufigen Risikomodells werden die Länder in unterschiedliche Risikostufen eingeteilt, die als Grundlage für z.B. Reiseempfehlungen dienen. Mit Hilfe von Schätzfaktoren können höhere Prävalenzen, z.B. klinisch erfasster, aber nicht labortechnisch bestätigter Fälle, simuliert werden. Am Beispiel des Webportals InPaRisKO (www.InPaRisKO.de) demonstrieren wir die Integration des Systems in bestehende Inter- oder Intranetportale. Schlüsselwörter: Pandemie – Influenza – Grippe – Risikomanagement – Pandemie-Informationssystem – Internet – Intranet – InPaRisKO – Surveillance – Prävalenz Quantitative risk assessment during a pandemic A new instrument for businesses to install risk adapted action during pandemic influenza Summary The fast development of new influenza A(H1N1) made very clear, how fast a new influenza virus can spread around the world. At the beginning of the disease outbreak in Mexico and the United States of America end of April beginning of May, global news coverage was at its peak. Although the virus has since spread all over the world, and morbidity increased by a factor of 100, news coverage has declined significantly. Therefore, media coverage is not a good measure for the risk assessment of the new influenza A(H1N1) virus. Since the beginning of the outbreak national and international agencies release the cumulative overall case counts as well as the daily new counts. Although these absolute numbers are important, they cannot be used directly to assess risk, since they are not related to population density. With these facts in mind, we have developed a quantitative risk assessment based on the four week prevalence of confirmed cases of influenza A(H1N1). Using web-based technology, the prevalence is visualized using a geographic information system as well as tables that are ranked and color-coded based on the prevalence values. Using a five level risk model, countries are classified into five risk categories, and this classification can now be used e.g. for travel recommendations. For simulation purposes, the prevalences of confirmed cases can be multiplied, e.g. to estimate the number of clinical cases that might not have been confirmed by laboratory tests. Using the specialized web portal InPaRisKO (www.inparisko.eu) we demonstrate how this quantitative risk management can be integrated in existing inter- oder intranet portals. Key words: pandemic influenza – influenza – risk management – pandemic information system – internet – intranet – InPaRisKO – surveillance – prevalence

Einleitung
Ein wesentlicher Bestandteil einer guten Pandemievorbereitung ist eine unternehmensspezifische aber auch allgemeine Risikoabschätzung unter Betrachtung der augenblicklichen weltweiten Situation. Hierfür ist eine entsprechende Informationsgewinnung zur Ausbreitung eines neuen Grippe-Virus notwendig1, 2, 3. In den ersten Tagen nach Bekanntwerden des Ausbruchs des neuen Influenza A(H1N1)-Virus kam es zu einer explosionsartigen Medienaufmerksamkeit quasi auf der ganzen Welt. Inzwischen ist das Virus weitestgehend aus den Medien verschwunden, obwohl die Zahl der Infizierten weit höher liegt als zu Beginn des Ausbruchs. Die Medien stellen somit ein ungeeignetes Informationsinstrument zur Risikoabschätzung dar. Dies spiegeln Informationssysteme wie das Web-basierte MediSys4 ebenfalls wider, die systematisch Medienberichte zu Infektionskrankheiten sammeln und aufbereiten. Solche Systeme können im Fall eines Grippe-Virus Ausbruchs zwar das Geschehen an sich erfassen, eine geographische Zuordnung des Ausmaßes des Ausbruchs im jeweiligen Land ist jedoch nicht möglich. Dies ist aber eine Grundvoraussetzung für eine länder-orientierte Risikoeinschätzung.

Von Seiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen internationalen und nationalen Gesundheitsbehörden werden täglich die kumulativen Fallzahlen labortechnisch bestätigter Krankheitsfälle berichtet5, 6, 7, 8. Diese Daten sind für eine Risikoeinschätzung von unschätzbarem Wert, als solches sind sie aber nicht direkt zur Risikoeinschätzung nutzbar, da ein Bezug zur jeweiligen Landesgröße und Bevölkerungsdichte fehlt. Absolute Zahlen sind insofern nur bedingt aussagekräftig. Erschwerend kommt hinzu, dass kumulative Zahlen bei Erkrankungen wie Virusgrippe wenig über das aktuelle Geschehen aussagen, da die Erkrankung nur wenige Tage bis Wochen dauert. Schon einen Monat nach dem Ausbruch sind kumulative Zahlen deshalb nicht mehr aussagekräftig, da sie die aktuellen Fallzahlen nicht widerspiegeln. Für eine Risikoabschätzung, die es Unternehmen erlauben würde, Reisetätigkeiten entsprechend der Krankheitsaktivität in der jeweiligen Region zu regeln, sind die verfügbaren Daten deshalb nur sehr schwer verwertbar. Es erstaunt deshalb nicht, dass Reiseempfehlungen international zurzeit nicht einheitlich geregelt werden. Ein definiertes Risikomodell zur Bestimmung von Risikogebieten existiert zurzeit nicht. Vor diesem Hintergrund haben wir ein System entwickelt, das eine länderspezifische Risikoeinschätzung auf der Basis der Vier-Wochen-Prävalenz ermittelt und diese anhand eines 5-stufigen Risikomodells sowohl in tabellarischer Form als auch in Form eines Geographic Information System (GIS) in webbasierter Form darstellt.

Anforderungen an eine quantitative Risikoeinschätzung
Um eine möglichst genaue Risikoeinschätzung bei pandemischer Ausbreitung einer Influenza-Grippe zu ermöglichen, bedarf es einer möglichst genauen Kenntnis der Zahl der Erkrankungsfälle. Die offiziellen Zahlen erfassen zurzeit lediglich die labortechnisch bestätigten Influenza-Fälle. Insbesondere bei schneller Ausbreitung ist davon auszugehen, dass nicht alle klinischen Fälle labortechnisch erfasst werden können. Dies trifft insbesondere für weniger entwickelte Länder zu, aber auch in hochentwickelten Ländern wie den USA muss davon ausgegangen werden, dass bei weitem nicht alle Fälle berichtet werden. Nach Angaben des US-amerikanischen Center for Disease Control and Prevention (CDC) wird bei der derzeitigen Ausbreitung des Influenza A(H1N1)-Virus in den USA nur noch jeder 20. Fall labortechnisch bestätigt7. Eine quantitative Risikoeinschätzung muss deshalb auch die Einführung von Schätzfaktoren vorsehen, um Simulationen mit höheren Fallzahlen zu ermöglichen. Entscheidend für die Risikoeinschätzung sind jedoch der Bezug zur Bevölkerungsdichte des jeweiligen Landes und die zeitliche Begrenzung der Fallzahlen, um den Verlauf der Grippeerkrankung korrekt zu reflektieren.

Prävalenz-Modell für die neue Influenza A(H1N1)
Aus den oben genannten Überlegungen ergibt sich folgerichtig, dass die Prävalenz mit begrenzter Zeitspanne ein adäquates Maß für die Risikoeinschätzung bei Grippepandemien darstellt. Unter der Prävalenz versteht man die Zahl der Erkrankungen in einem definierten Zeitraum (oftmals in einem Kalenderjahr) bezogen auf die Bevölkerungsdichte (in der Regel angegeben in Bezug auf 100 000 Einwohner). Aufgrund der meist nur Tage bis Wochen andauernden Grippeerkrankung ist ein Zeitraum von weniger als einem Jahr, z.B. ein Zeitraum von 4 Wochen aussagekräftiger. Alternativ könnte auch die Inzidenz, d.h. die Zahl aller neuen Erkrankungsfälle genutzt werden. Hier gilt gleiches wie für die Prävalenz, ein Bezug auf einen Zeitraum von einem Jahr ist für die Beurteilung der aktuellen Situation in einer Region oder einem Land nicht hilfreich, da die Erkrankung einen kürzeren Verlauf zeigt. Die Jahresinzidenz würde deshalb zu hohe Zahlen angeben.

Aufgrund dieser Überlegungen haben wir uns für ein Vier-Wochen Prävalenz-Modell als Grundlage für die Entwicklung einer quantitativen Risikoeinschätzung für Grippe entschieden.

Geographic Information System der Prävalenz
Der nächste Aspekt ist die Aufbereitung der Vier-Wochen Prävalenz auf Länderebene bzw. auf der Ebene der Bundesländer für Deutschland. Die Vier-Wochen Prävalenz wird zunächst für labortechnisch bestätigte Erkrankungsfälle berechnet und die Daten in einer zentralen SQL-Datenbank gespeichert. Für die Darstellung der Prävalenzen wurde ein web-basiertes geographisches Informationssystem (GIS) genutzt. Bei solchen GI-Systemen lassen sich die Prävalenzen für jedes Land, bzw. Bundesland tagesaktuell darstellen. Mit Hilfe von Farbskalen werden die entsprechenden Prävalenzen je nach ihrer Höhe im GIS System dargestellt (Abbildung 1). Das Beispiel in Abbildung 1 zeigt die Vier-Wochen Prävalenzen für Influenza A(H1N1) weltweit am 05.06.2009. Vergleichbar kann die Prävalenz für die Bundesländer angezeigt werden (Daten nicht gezeigt).

Tabellarisches Ranking als Grundlage für die quantitative Risikoeinschätzung
Neben der geographischen Aufbereitung der Prävalenzdaten wurde zusätzlich noch eine tabellarische Darstellung entwickelt (Abbildung 2). Hier wurde wiederum eine webbasierte Applikation gewählt, die z.B. in bestehende Inter- oder Intranetportale integrierbar ist. Die Tabelle zeigt neben dem jeweiligen Land die Jahresinzidenz, die Vier-Wochen Prävalenz, die kumulative Zahl der Fälle sowie der Todesfälle, und die neuen Fälle des ausgewählten Tages an. Die Tabelle kann nach allen Spalten sortiert werden. Zusätzlich wurde in die Tabelle ein fünf-stufiges Risikomodell integriert.

Fünfstufiges Risikomodell
Um aufgrund des Prävalenz-Modells unternehmerische Entscheidungen treffen zu können, wurde ein Modell mit fünf Risikostufen entwickelt (Tabelle 1). Die Risikostufen beruhen zunächst auf den Angaben der labortechnisch bestätigten Fälle. Je höher die Prävalenz für Influenza in einem Land ist, desto höher ist die Gefahr für eine Ansteckung. Mit Hilfe des Fünf-Stufen Modells besteht die Möglichkeit einer abgestuften Risikoeinschätzung und damit auch einer abgestuften Reaktion. Mit der Einführung von Schätzfaktoren können höhere Fallzahlen und damit auch höhere Prävalenzen simuliert werden. Dies kann insbesondere für Länder genutzt werden, für die bereits bekannt ist, dass die Zahl der tatsächlichen Fälle deutlich höher liegt als die der labortechnisch bestätigten Fälle.

Abbildung 3 verdeutlicht nochmals die Überlegenheit der Prävalenz für die quantitative Risikoeinschätzung. Während für die USA am 05.06.2009 13 217 kumulative Fälle bestätigt wurden, waren es für Panama lediglich 173 Fälle. Dennoch lag die Vier-Wochen Prävalenz aufgrund der geringeren Bevölkerungszahl in Panama höher (USA 4.19, Panama 5.17). Ähnliches gilt für Australien. Während die kumulative Zahl aller Fälle lediglich 1.006 betrug, lag die Prävalenz bei 4.85.

Nach dem Fünf-Stufen Modell zeigt sich nach Abbildung 2 für den 05.06.2007, dass die höchste Risikostufe für die Länder Panama, Kanada, Australien, USA, und Mexiko gelten würde. Dabei wurde Mexiko bereits von 4 Ländern übertroffen.

Ableitung von Unternehmensentscheidungen aufgrund der Risikoeinschätzung
Das hier vorgestellte Modell zur Risikoeinschätzung bezüglich der Ausbreitung eines neuen Influenza-Virus wie des Influenza A(H1N1) ermöglicht es, dezidierte unternehmerische Entscheidungen aufgrund quantitativer Angaben zum Geschehen der Ausbreitung zu treffen.

Dies kann am einfachen Beispiel von Reiseempfehlungen bei beruflichen Reisen aufgezeigt werden. So könnten z.B. für Länder, die sich in der höchsten Risikostufe befinden, Reisebeschränkungen oder -verbote ausgesprochen werden, für Länder in der zweit-höchsten Risikostufe z.B. nur als besonders dringlich eingestufte Reisen, für Länder in der dritt-höchsten Risikostufe z.B. Reiseverschiebungen empfohlen werden. Dabei kann der unternehmerische Krisenstab aufgrund der tagesaktuellen Datenlage eine an die Entwicklung der Pandemie exakt angepasste Entscheidung treffen.

Ein weiteres Beispiel wäre auf Länderbasis z.B. ein Risikostufen-adaptiertes Aussprechen von Geboten und Verboten für die Mitarbeiter. So könnte z.B. ab einer bestimmten Risikostufe Telearbeit angeordnet werden. Durch die Möglichkeit auf Bundesland-spezifische Daten zurückgreifen zu können, können bundesweit vertretene Unternehmen für unterschiedliche Regionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Maßnahmen anordnen und damit flexibler auf eine Grippeausbreitung reagieren.

Integration der quantitativen Risikoeinschätzung in bestehende Webportale
Am Beispiel des Webportals InPaRisKO (Influenza-Pandemie Risiko- und Krisenmanagement, www.inparisko.de) konnten wir aufzeigen, dass unser System zur Risikoeinschätzung leicht in bestehende Webportale integriert werden kann. Die technischen Details der Integration werden an anderer Stelle publiziert. Diese Variabilität ermöglicht es, z.B. aus einem Firmen-Intranet heraus, die quantitative Risikoeinschätzung direkt einzubinden, bzw. zu verlinken. Die Integration des Systems in weitere Webportale wird zurzeit vorbereitet.

Fazit
Eine fundierte und quantitative Risikoeinschätzung der aktuellen Ausbreitung einer pandemischen Grippe ist ein wesentliches Instrument, um Unternehmensentscheidungen mit den weltweiten Entwicklungen entsprechend abgleichen zu können. Auf Medienberichten basierende Systeme oder die Medienerfassung des Geschehens selbst sind aufgrund ihres gegenläufigen Verhaltens ungeeignet. Die Angabe kumulativer Fallzahlen kann ebenfalls nicht direkt für eine Risikoeinschätzung genutzt werden. Wir stellen hier ein webbasiertes fünfstufiges Risikomodell zur Risikoeinschätzung bei pandemischer Grippe vor, das auf der Vier-Wochen Prävalenz der Erkrankung aufbaut und die Daten sowohl in geographischer Form mittels GI-System als auch in tabellarischer Form darstellt. Ein fünfstufiges Risikomodell erlaubt entsprechend detaillierte und abgestufte Krisenbewältigungsstrategien.

Damit wird für Unternehmen erstmals ein Instrument verfügbar, mit dem tagesaktuell weltweite Risikoeinschätzungen zum aktuellen Geschehen der Influenza durchgeführt werden können und entsprechende unternehmerische Risikobewältigungsstrategien daraus abgeleitet werden können.

· Referenzen

http://www.state.gov/g/avianflu/77458.htm

Y-C Chen, JL Perry. Global Healthcare Crisis: How Information Technology Can Address Pandemics and Disasters. IBM White Paper Serious, 2006

Monto AS, Comanor L, Shay DK, Thompson WW. Epidemiology of pandemic influenza: use of surveillance and modeling for pandemic preparedness. J Infect Dis. 2006 Nov 1;194 Suppl 2:S92–7

http://medusa.jrc.it/medisys/alertedition/all/SwineFlu.html

http://www.who.int/csr/disease/ swineflu/updates/en/index.html

http://ecdc.europa.eu/en/Health_topics/novel_influenza_virus/2009_Outbreak/

http://www.cdc.gov/h1n1flu/

http://www.rki.de/cln_116/nn_205760/ DE/Content/InfAZ/I/Influenza/IPV/IPV__Node.html?__nnn=true

Joachim L. Schultze1, 21 LIMES-Institut, Genomik und Immunregulation, Universität Bonn 2 Schultze Know How Beteiligungsgesellschaft mbH

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