Gewalt am Arbeitsplatz

Gewalt am Arbeitsplatz erkennen und vermeiden

Gewalt am Arbeitsplatz darf kein Tabuthema sein – sonst ist eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema im Betrieb nicht möglich. Dieser Beitrag informiert, in welchen Formen sich Gewalt zeigt und stellt Präventionskonzepte vor.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt am Arbeitsplatz wirft zunächst die Frage auf, um was es eigentlich genau geht. Internationale Organisationen sind der Frage nach einer Definition des Begriffs Gewalt nachgegangen. Ein wesentliches Merkmal dieser Begriffsdefinitionen ist, dass es sich bei Gewalt um ein soziales und damit um ein menschliches Phänomen handelt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in ihrem „Weltbericht Gewalt und Gesundheit“ (WHO, 2002) eine Typologie veröffentlicht, welche verschiedene Gewaltformen in eine Matrix mit den beiden Dimensionen „Art der Gewalt“ und „Charakter der Gewalt“ einordnet. Die Weltgesundheitsorganisation gibt damit ein Raster vor, in welches die verschiedenen Gewaltformen einsortiert werden können.

Auch Unhöflichkeit sollte beachtet
werden

Eine andere Art der Klassifizierung nimmt die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) vor. Sie ordnet zwischenmenschliche Gewalt in die drei Kategorien „unhöfliches Verhalten“, „verbale und körperliche Gewalt“ und „Überfälle bzw. Übergriffe Dritter“ ein. Damit wird deutlich, dass es in den Gewaltformen auch Eskalationsstufen gibt. Häufig führt diese Erkenntnis zu dem Trugschluss, dass vermeintlich harmlose Vorfälle – zum Beispiel aus der Kategorie „unhöfliches Verhalten“ – nicht ernst genommen werden müssten. Problematisch ist dies vor allem deshalb, weil damit der Person, die den Vorfall meldet und der Person, die das unhöfliche Verhalten an den Tag gelegt hat, vermittelt wird, dass diese Art des zwischenmenschlichen Umgangs von der Organisation geduldet wird. Es besteht dann die Gefahr, dass sich eine „Negativspirale“ entwickelt.

Die Definition der gesetzlichen
Unfallversicherung

Die gesetzliche Unfallversicherung orientiert sich daher an einer Definition der Internationalen Arbeitsagentur (ILO, 2003). Diese definiert Gewalt am Arbeitsplatz als „jede Handlung, Begebenheit, oder von angemessenem Benehmen abweichendes Verhalten, wodurch eine Person im Verlauf oder in direkter Folge ihrer Arbeit schwer beleidigt, bedroht, verletzt, verwundet wird.“. Von grundsätzlicher Bedeutung ist, dass Gewalt nicht erst dann anfängt, wenn es zu körperlichen Aktionen kommt bzw. gekommen ist, sondern schon viel früher, bei der sogenannten verbalen Gewalt. Gleichzeitig wird damit erreicht, dass diese körperlose Form der Gewalt nicht verharmlost wird: Auch bei verbaler Gewalt können und müssen Präventionsmaßnahmen ergriffen werden. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass für alle Formen von Gewalt die gleichen Präventionsmaßnahmen sinnvoll sind.

Gewalt ist kein Tabuthema!

Wenn es zu schweren oder sogar tödlichen Verletzungen in Folge von Gewalt am Arbeitsplatz kommt, entsteht durch die Fokussierung auf diese Fälle mitunter der Eindruck, dass diese sehr oft vorkämen oder in gewisser Weise vielleicht sogar „normal“ seien. Die gute Nachricht an dieser Stelle ist jedoch: Dieser Eindruck ist falsch! Extrem schwere Gewaltvorfälle sind zum Glück selten und stellen eher die Ausnahme dar. Die schlechte Nachricht lautet jedoch: Es gibt dennoch ausreichend Gründe und Anlässe, sich intensiv mit der Thematik im Betrieb auseinanderzusetzen.

Ein kritischer Blick in die Statistik ist nötig

Wie bereits ausgeführt, fällt unangemessenes Verhalten im Sinne der ILO-Definition schon unter Gewalt. Aktuelle repräsentative Erhebungen, die auf europäischer Ebene das Ausmaß von unangemessenem Verhalten erfassen, weisen für Deutschland einen Wert von 16 Prozent aller befragten Personen auf, die von diesem Verhalten betroffen waren (EWCS, 2015). Ein Blick in die Statistik der gesetzlichen Unfallversicherung fördert Zahlen zu meldepflichtigen Unfällen zutage, die sich ebenfalls auf das Erleben von traumatischen Ereignissen – hier also Gewalterfahrungen – zurückführen lassen (vgl. Abbildung 1). Demnach sind allein bezogen auf die Gruppe der abhängig Beschäftigten mehr als 16.000 Fälle für das Berichtsjahr 2015 zu verzeichnen.

Die Besonderheiten dieser Zahlen bestehen zum einen darin, dass meldepflichtige Unfälle eine Abwesenheit vom Arbeitsplatz von mehr als drei Tagen voraussetzen. Außerdem muss es zu jedem dieser Unfälle eine Unfallmeldung geben. In diese wird nur die schwerste Verletzung in Folge des Unfalls aufgenommen. Da körperliche Folgen wie Brüche, Wunden usw. leichter erkenn- und einschätzbar sind als psychische Unfallfolgen, kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl der meldepflichtigen Unfälle im Bereich Gewalt am Arbeitsplatz zu niedrig ist.

Der Risikofaktor „Kundenkontakt“

An dieser Stelle muss jedoch eine Unterscheidung vorgenommen werden, die das Ausmaß der Betroffenheit stark beeinflusst. Diese Unterscheidung bezieht sich auf die Art der Tätigkeit, also das, was eine beschäftigte Person konkret arbeitet und unter welchen Bedingungen diese Arbeit verrichtet wird. Tatsächlich gibt es erhebliche Unterschiede, welche Tätigkeiten und damit auch welche Beschäftigten einem höheren Risiko für Gewalt am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Auch hier hat EU-OSHA einige zentrale Merkmale von Tätigkeiten zusammengetragen, die mit einem hohen Risiko für Gewalt am Arbeitsplatz zusammenhängen. Ein erhöhtes Risiko haben insbesondere Beschäftigte, die

  • Umgang mit Waren, Bargeld oder Wertsachen haben (zum Beispiel in Geschäften, Tankstellen, Banken);
  • an Einzelarbeitsplätzen tätig sind (zum Beispiel in Bussen oder Taxen);
  • Kontakt mit bestimmten Kunden-
    gruppen haben (zum Beispiel Patienten mit Krankheiten, die mit Gewalt einhergehen);
  • allgemeine Autoritätsfunktionen bzw. Kontrollen oder Überwachung ausüben (zum Beispiel bei der Polizei, Feuerwehr, Fahrausweisprüfung, im Wachdienst);
  • in schlecht organisierten Unternehmen und Behörden arbeiten, bei denen es zum Beispiel zu Rechnungsfehlern kommt oder die Personalressourcen nicht angemessen sind.

Der direkte berufliche Kontakt mit Kunden, Klienten, Patienten usw. ist demzufolge ein wesentlicher Risikofaktor. Dieser lässt sich aber in den wenigsten Fällen „beseitigen“. Insofern müssen Maßnahmen und Regelungen gefunden und durchgesetzt werden, mit denen sich die Eskalation einer Situation zu einem Konflikt möglichst vermeiden lässt.

Das TOP-Prinzip gilt auch bei Gewalt

Wie bei allen anderen Themen der Sicherheit und Gesundheit im Betrieb, gilt auch bei Gewalt am Arbeitsplatz die sogenannte „Schutzzielhierarchie“ (TOP-Prinzip). Damit ist gemeint, dass

  • zunächst technische (T) Maßnahmen zu prüfen sind
  • und erst danach organisatorische (O) Maßnahmen.
  • Personenbezogene (P) Maßnahmen werden zuletzt geprüft.

Darüber hinaus sind traumatische Ereignisse wie zum Beispiel Gewalterfahrungen eine psychische (Extrem-)Belastung und damit Bestandteil der verpflichtenden Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG).

Der erste Schritt zu mehr Sicherheit und Gesundheit ist eine ehrliche Bestandsaufnahme, wie es um die Situation im Betrieb oder der Einrichtung bestellt ist. Welche Situationen sind schon vorgekommen, welche Vorkommnisse gab bzw. gibt es vielleicht sogar häufig? Ein bewährtes Instrument zur Einordnung der Gefahrenlage ist das sogenannte „Aachener Modell“ (vgl. Glossar).

Was können Sifas tun?

Wie entsteht Gewalt am Arbeitsplatz? Die Aufdeckung der Entstehungs-
mechanismen ist die wichtigste Arbeit bei der Beschäftigung mit diesem Thema. Gewaltprävention setzt voraus, dass erstens erkannt wird, warum es immer wieder zu Vorfällen kommt und dass zweitens konsequent gehandelt wird. Lippenbekenntnisse oder die Formulierung von unrealistischen bzw. widersprüchlichen Vorgaben stehen dem entgegen. Sicherheitsingenieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit sollten immer wieder auf die Thematik aufmerksam machen und die innerbetriebliche Diskussion lösungsorientiert begleiten. Eine beispielhafte und keineswegs abschließende Sammlung von Handlungsmöglichkeiten in den Kategorien des TOP-Schemas (ergänzt um bauliche Aspekte) fasst Abbildung 2 zusammen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Gewaltvorfälle – entsprechend ihrem Wesen als „soziale Ereignisse“ – nicht gänzlich vorhersehbar und deshalb auch nicht vollständig vermeidbar sind. Dennoch haben sich verschiedene Präventionsmaßnahmen, gerade in der Kombination verschiedener Zugänge nach dem TOP-Prinzip, als hilfreich und wirksam erwiesen. Es liegt in der Verantwortung der Betriebe und Einrichtungen, diese Möglichkeiten zu nutzen. Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung stehen ihnen dabei beratend zur Seite.

Literatur:

  • 1International Labour Organization – ILO (2003): Code of practice on workplace violence in services sectors and measures to combat this phenomenon. Geneva: WHO.
  • European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (2015). 6th European Working Conditions Survey. Dublin.
  • Weltgesundheitsorganisation (2003). Weltbericht Gewalt und Gesundheit 2002, dt. Zusammenfassung Kopenhagen.
  • Unfallkasse Nordrhein-Westfalen (2010). Prävention in NRW 37 „Gewaltprävention – ein Thema für öffentliche Verwaltungen?! Das „Aachener Modell“ zur Reduzierung von Bedrohungen und Übergriffen an Arbeitsplätzen mit Publikumsverkehr“, Düsseldorf: Unfallkasse Nordrhein-Westfalen.


Autor:

Christian Pangert
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV), Abteilung Sicherheit und Gesundheit
E-Mail: christian.pangert@dguv.de


Glossar „Aachener Modell“

Das Modell wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes der gesetzlichen Unfallversicherung in Kooperation mit dem Polizeipräsidium Aachen entwickelt.

Es beinhaltet drei Stufen der Gefährdung und benennt adäquate Vorgehensweisen und Maßnahmen, um den möglichen Gefährdungen zu begegnen. Die Broschüre „Gewaltprävention – ein Thema für öffentliche Verwaltungen?!“ fasst die Ergebnisse zusammen (Download unter www.unfallkasse-nrw.de).

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