Gewalt am Arbeitsplatz

Helfende als Opfer? Gewalt im Krankenhaus vorbeugen

Wie Fachkräfte für Arbeitssicherheit zur Prävention von Gewalt und Aggression im Gesundheitsdienst beitragen können, zeigt das folgende Praxisbeispiel. Das St. Joseph-Stift Bremen setzt sich systematisch mit diesem Thema auseinander.

Wie weit verbreitet Gewalterfahrungen und erlebte Aggression im Arbeitsalltag sind, lässt sich nur schwer in Zahlen fassen. In die Statistik der gesetzlichen Unfallversicherung gehen viele Fälle schon deshalb nicht ein, weil sie keine längere Arbeitsunfähigkeit nach sich ziehen. Allerdings haben die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in den Jahren 2008 und 2009 fast 2.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen zu diesem Thema befragt. Das Ergebnis: 56 Prozent hatten in den vorangegangenen zwölf Monaten körperliche Gewalt erlebt, 78 Prozent verbale Gewalt. Deutlich wurde in der Studie ferner: Werden die Beschäftigten gut auf kritische Situationen und den Umgang mit Gewalt vorbereitet, haben sie ein geringeres Risiko, Gewalt zu erleben, und fühlen sich weniger belastet. Allerdings sah sich insgesamt nur ein Drittel der Befragten entsprechend gut vorbereitet.

Thema für den Arbeitsschutz

Die Prävention von Gewalt und Aggression gegen Beschäftigte und der richtige Umgang mit entsprechenden Vorfällen sind Themen für den betrieblichen Arbeitsschutz. Zum einen gilt es, Gewaltvorfälle zu verhindern und die Häufigkeit aggressiver Verhaltensweisen zu reduzieren. Zum anderen muss geregelt werden, wie sich die Beschäftigten im Falle eines Gewaltereignisses verhalten sollen und wie die Hilfe für die Betroffenen nach einem solchen Vorfall erfolgt.

Die Handlungsfelder reichen von der Bewusstseinsbildung über verschiedene Präventionsmaßnahmen bis hin zu Vorkehrungen für den Fall des Falles. Dabei sind technische, organisatorische und personenbezogene Maßnahmen zu treffen, die sich gegenseitig ergänzen. Zum Beispiel:

  • Fluchtmöglichkeiten, Rückzugsräume, Beleuchtung, Sicherheitsglasscheiben, das Vermeiden gefährlicher Gegenstände, der Einsatz von Personen-Notsignal-Geräten bei gefährlichen Alleinarbeitsplätzen usw.
  • ein Alarmierungssystem und ein Notfallplan, eine Rettungskette, Handlungsspielräume der Beschäftigten zur Deeskalation, Fachkonzepte zur Betreuung spezieller Personengruppen wie etwa demenziell Erkrankter, Erstbetreuung nach Vorfällen, systematische Auswertung von Vorfällen usw.
  • Aufbau von Know-how zum deeskalierenden Verhalten sowie zu körperlichen Abwehr- und Befreiungstechniken, geeignete Kleidung und entsprechendes Schuhwerk, Verzicht auf Schmuck, gute Fachqualifikation zum Umgang mit der jeweiligen Klientel,
  • regelmäßige Unterweisung zum Verhalten bei Gewaltvorfällen usw.

„Ich weiß, wann du Feierabend hast…“

Das Krankenhaus St. Joseph-Stift Bremen bearbeitet das Thema seit anderthalb Jahren systematisch in einem Projekt. Jörg Ferber ist als interne Fachkraft für Arbeitssicherheit aktiv dabei. „Schwerpunktmäßig treten Bedrohungen und Übergriffe unter anderem dort auf, wo Patienten oder Patientinnen und Angehörige in einer Akutsituation zum Krankenhaus kommen“, berichtet er. Beispielsweise am Empfang, in der Aufnahme und Notfallaufnahme. Zu kritischen Situationen führen nach seiner Erfahrung auch spezielle Situationen – etwa ein hohes Patientenaufkommen, gepaart mit Alkoholeinfluss, wenn Volksfeste oder andere große Veranstaltungen stattfinden. „Besonders betroffen sind zudem stationäre Bereiche, in denen die Ursache von Aggressionen in der Erkrankung oder der persönlichen Situation der dort Betreuten liegt, zum Beispiel in der Geriatrie“, fügt er hinzu. „Letztendlich kann es in einem Akutkrankenhaus aber in allen Bereichen zu Bedrohungen und Übergriffen kommen.“ Weiter konstatiert Ferber: „Aggressives oder gewalttätiges Verhalten geht keinesfalls nur von den Patienten und Patientinnen aus, sondern nach Erfahrung der Beschäftigten auch zu erheblichen Teilen von Angehörigen, Begleitpersonen oder anderen Besucherinnen und Besuchern.“ Ebenso breit ist das Spektrum an Ausprägungen, in denen Gewalt gegen Beschäftigte im Krankenhaus auftritt. „Spektakulär sind natürlich Fälle, in denen jemand unvermittelt über den Flur tobt, Beschäftigte verbal bedroht und Stühle oder Infusionsständer umwirft“, so Ferber. „Oder lautstark im Wartebereich ein völlig unangemessenes Verhalten an den Tag legt. Viel belastender sind für die Beschäftigten aber oftmals persönliche Beleidigungen oder einschüchternde und bedrohliche Sätze wie: „Ich weiß, wann du Feierabend hast.“

Von Einzelaktivitäten zum System

Den Anstoß zur vertieften Auseinandersetzung mit dem Themenfeld gaben die Beschäftigten in einem Projekt zur innerbetrieblichen Kommunikationskultur. Als erste Maßnahme etablierte das Krankenhaus Anfang 2016 einen internen Unfallmeldebogen für Bedrohungen und Übergriffe sowie Beinaheunfälle im Kontext von Gewalt und Aggression. Bis dahin waren im St. Joseph-Stift zwar Einzelfälle bekannt, aber nicht systematisch erfasst und strukturiert behandelt worden. „Nun führt unsere Betriebsärztin bei allen Fällen ein persönliches Gespräch mit den Betroffenen und bietet Unterstützung an. Schon das hat das Thema im Hause präsent gemacht“, resümiert Ferber. Nach den ersten Einzelaktivitäten wurde zudem eine verbindliche Steuerungsgruppe eingerichtet – mit dabei unter anderem der kaufmännische Leiter, die Projektmanagerin, die Leitungen der Aufnahme und Notfallaufnahme sowie das Qualitäts- und Beschwerdemanagement. „Dadurch konnten schnelle Entscheidungswege sichergestellt werden“, so Ferber. Die Steuerungsgruppe tage derzeit monatlich und habe die Themen Sicherheit und Deeskalation sehr vorangebracht. „Dabei hat sich die Beteiligung und Unterstützung verschiedener Leitungskräfte und auch der Mitarbeitervertretung sehr bewährt“, hebt Ferber hervor. „Zum Auftakt konnten wir sehr zügig eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Themenfelder machen. Konkrete Maßnahmenvorschläge gab es bereits ebenfalls reichlich. Diese wurden priorisiert und von den verschiedenen Akteuren und Akteurinnen angegangen. Und natürlich haben wir das Thema auch in Unterweisungen und Gremien wie dem Arbeitsschutzausschuss oder den Leitungsrunden des Hauses angesprochen.“

So können konkrete Maßnahmen
aussehen

Seither werden die technischen, organisatorischen und die personenbezogenen Schutzmaßnahmen optimiert. „Angefangen hat es sehr konkret damit, den Zutritt zum Haus – insbesondere nachts – zu begrenzen“, erinnert sich Ferber. „Dazu haben wir alle Nebentüren mit elektronischen, zeitgesteuerten Schlössern versehen. An anderen Stellen reichte es oft schon, Türklinken durch einen Knauf zu ersetzen. In wieder anderen Bereichen haben wir Kameras installiert. Künftig sollen noch die Alarmierungsmöglichkeiten der Telefonanlage besser genutzt werden, um aus benachbarten Arbeitsbereichen schnell Hilfe holen zu können. Auch einen Notrufknopf zur Polizei gibt es jetzt.“

Organisatorisch wurden bereits die Zeiten und Tätigkeiten des Sicherheitsdienstes überprüft. Derzeit steht die Hausordnung auf dem Prüfstand, um rechtlich sichere Regelungen als Grundlagen für das Handeln zu haben. „Wichtig sind uns unter anderem klare Zuständigkeiten und Befugnisse – wer zum Beispiel Hausverbote erteilen darf“, erläutert Ferber. Verbessert werden soll außerdem die Vermittlung von Unterstützungsangeboten hausinterner Stellen oder der BGW.

Personenbezogen führt das St. Joseph-Stift gerade ein zweitägiges Seminar zur Deeskalation und zum Umgang mit bedrohlichem Verhalten ein – die innerbetriebliche Fortbildung werde in der Einrichtung schon lange groß geschrieben. Weiter arbeitet das Haus an themenbezogenem Informationsmaterial für die Beschäftigten und aktualisiert derzeit den internen Alarmplan.

Langer Atem hilft weiter

„Natürlich gibt es gerade auf der baulich-technischen Ebene auch Wünsche und Ideen, die aus finanziellen Gründen kurz und mittelfristig nicht so einfach umsetzbar sind“, berichtet Ferber weiter. „Da sind Kompromissfähigkeit und ein langer Atem von großem Vorteil. Weiter sind oft mehrere externe Stellen beteiligt oder es tauchten unerwartete Fragen auf, die geklärt werden müssen. Solche Schwierigkeiten verzögern manchmal erheblich die Umsetzung von Maßnahmen.“ Wichtig sei, dranzubleiben, die Verantwortlichen immer wieder anzusprechen und im Bedarfsfall Unterstützung der Leitung einzuholen. „Das ist nicht immer erfreulich und bindet zeitliche Ressourcen, die im Alltagsgeschäft manchmal fehlen. Und als Fachkraft für Arbeitssicherheit muss man da auch manchmal die ‚Beraterrolle‘ bewusst verlassen und sich an der Umsetzung aktiv beteiligen.“

Fazit

Nach Einschätzung von Jörg Ferber kann die Fachkraft für Arbeitssicherheit den konstruktiven Umgang mit Gewalt- und Aggression in einem Betrieb erheblich voranbringen. „Entscheidend war bei uns, dass wir zunächst die Übergriffe und Bedrohungen wie andere Unfälle erfasst, thematisiert und analysiert haben. Und zwar nicht nur körperliche Schädigungen, sondern auch verbale Bedrohungen oder andere Übergriffe. Dies wurde von den Beschäftigten gut angenommen und als Unterstützung und Entlastung erlebt. Das klassische Verbandbuch wird nach meiner Erfahrung hierfür in der Regel nicht genutzt.“ Weiter stellt Ferber fest: „Eher unterschätzt habe ich den zeitlichen Aufwand, den eine intensive Beschäftigung mit dem Thema bedeuten kann. Trotzdem: Durch unsere guten Kenntnisse der Arbeitsbereiche und internen Strukturen, unsere regelmäßigen Begehungen und die vorliegenden Gefährdungsbeurteilungen haben gerade wir als Fachkräfte für Arbeitssicherheit viele Erkenntnisse, die bei der Bearbeitung des Themas entscheidend sind. Wir können unsere Arbeitsschutz-Instrumente gezielt weiterentwickeln und – wenn nicht bereits geschehen – um das Thema ‚Aggression und Gewalt‘ ergänzen. Beispiele waren in unserem Fall etwa die Erweiterung der Unfallstatistik, Schwerpunkte bei der Unterweisung, regelmäßige ‚Nachtbegehungen‘ der Außenbereiche und Eingänge sowie die Schulung der Sicherheitsbeauftragten. Auch bei der Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastung ist zu erwarten, dass das Thema von betroffenen Bereichen genannt wird. Und jenseits der technischen Maßnahmen bin ich sehr froh, dass wir schnell spezielle Schulungen zu Deeskalation und Konfliktprävention anbieten konnten, die wir in den nächsten Jahren bedarfsgerecht weiterentwickeln wollen.“


Das St. Joseph-Stift Bremen und die BGW

Das St. Joseph-Stift Bremen ist ein innerstädtisches Akutkrankenhaus mit neun Fachabteilungen, rund 450 Betten und etwa 900 Beschäftigten. Bei dem Projekt zum Umgang mit Gewalt und Aggression wird das St. Joseph-Stift Bremen unter anderem von der BGW beraten. Die Berufsgenossenschaft unterstützt ihre Mitgliedsbetriebe auf vielfältige Weise bei diesem Thema. Zu ihren Angeboten gehören Informationsmaterialien, Arbeitshilfen und Beratungen sowie Seminare für Arbeitsschutzverantwortliche sowie Akteurinnen und Akteure im Arbeitsschutz. Außerdem fördert die BGW die Ausbildung von innerbetrieblichen Deeskalationstrainerinnen und -trainern. Weitere Informationen sind unter
www.bgw-online.de/gewalt abrufbar.


Hilfe im Falle eines Falles

Wenn Beschäftigte Opfer eines Gewaltvorfalls im Betrieb werden, trägt die gesetzliche Unfallversicherung die Kosten für eine umfassende medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation. Die seelische Gesundheit steht dabei gleichwertig neben der körperlichen. Für traumatisierte Versicherte bietet die BGW in solchen Fällen schnelle Hilfe: In zunächst fünf probatorischen Sitzungen können die betroffenen Personen ihr Erlebnis psychotherapeutisch bearbeiten. Diese Soforthilfe kann innerhalb weniger Tage gewährt und bei Bedarf auch verlängert werden.


Autor:

Sandra Bieler
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
Kommunikation
E-Mail: sandra.Bieler@bgw-online.de

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