Prävention

Beschwerden am Bewegungsapparat – Vorgehen in der betriebsärztlichen Praxis

Zusammenfassung: Für eine effektive Prävention der nach wie vor im betrieblichen Alltag häufigen Beschwerden am Bewegungsapparat ist für den Betriebsarzt ein aufeinander aufbauendes modulares Vorgehen sinnvoll. Unter Berücksichtigung der Belastungsdaten des Arbeitsplatzes wird mit einer zielgerichteten Anamnese und einer unerlässlichen ärztlichen Funktionsuntersuchung des Muskel-Skelettsystems die Grundlage für eine individuelle, medizinisch orientierte Beanspruchungsbeurteilung geschaffen. Entscheidend für den präventiven wie auch rehabilitativen Erfolg ist die Berücksichtigung evtl. vorhandener funktioneller Störungen am Bewegungsapparat unter Anwendung des bio-psycho-sozialen Erklärungsmodells für Erkrankungen des Bewegungsapparates. Eine darauf aufbauende zielgerichtete Beratung für Arbeitgeber fokussiert eher auf verhältnispräventive Aspekte und Ergonomie, während die Beratung der Mitarbeiter den Schwerpunkt auf verhaltenspräventive Maßnahmen und Vermeidung von Inaktivität bzw. Chronifizierung legt. Dabei kommt dem Arbeitsmediziner eine Schlüsselrolle auf der Erstkontaktebene zu. Schlüsselwörter: Rückenschmerzen – Gefährdungsbeurteilung – Funktionsuntersuchungen – Bewegungsapparat – Belastungs-Beanspruchungsanalyse Musculoskeletal disorders – proceedings in occupational medicine Abstract: Occupational physicians are very often confronted with musculoskeletal disorders in their day-to-day work and current experience shows, that prevention activities under occupational medicine aspects should be conducted in a step-by-step proceeding. Physical work load data in addition with a targeted anamnesis and an essential function-oriented physical examination of the locomotor system are important for a medical analysis of the individual strain. To be successful with a medical assessment under prevention as well as under rehabilitation aspects it´s necessary that any detected functional disorder can be compared with workload data and individual bio-psycho-social aspects. This must be the basis for consideration or medical advice focussing on the employer in ergonomic details or in the employee in individuel behaviour. For that reason, the occupational physician plays a key role in first-level contact for employees with musculoskeletal disorders. Keywords: Low-Back-Pain – Workplace risk assessment – Function-oriented physical examination – Locomotor system – Stress-Strain-Analysis

Einleitung
Die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von Beschwerden am Bewegungsapparat befinden sich seit 2004 konstant auf einem Wert von ca 340 Tagen pro 100 Pflichtmitgliedern und haben sich damit gegenüber 1991 mehr als halbiert1. Dennoch spielen sie sowohl allgemeinmedizinisch wie auch im betrieblichen Alltag eine große Rolle. Etwa 85 % der Bevölkerung haben im Laufe ihres Lebens irgendwann einmal Rückenschmerzen und die Diagnose „unspezifische Rückenschmerzen“ (ICD M 54) zählt zu den häufigsten Diagnosen überhaupt. In einer Krankheitsartenübersicht der größten deutschen BKK beinhaltet die Hauptdiagnosegruppe „Muskel- und Skeletterkrankungen“ für einen Großbetrieb der metallverarbeitenden Industrie in Norddeutschland nahezu ebensoviel Fälle wie die Gruppe der Atemwegserkrankungen. In beiden Gruppen werden fast 50 % der Arbeitsunfähigkeitsfälle in 2005 erfasst, wobei die Muskel-Skeletterkrankungen hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeitsdauer eindeutig dominieren.

Für die Prävention akuter und chronischer Beschwerden am Bewegungsapparat wie auch für die Therapie gibt es eine Reihe praxisbewährter Empfehlungen, die sich von den relativ einfachen biomechanischen Modellvorstellungen der Rückenschulen früherer Jahre zu einem sehr komplexen bio-psycho-sozialen Erklärungsmodell gewandelt haben und damit das Problem insgesamt deutlich besser beschreiben2,3. Einen umfassenden und aktuellen Überblick dazu gibt der von der Bertelsmannstiftung im Internet veröffentlichte Ratgeber „Gesundheitspfad Rücken“. Im Mittelpunkt dieses Leitfadens für Entscheider und Gestalter stehen innovative Konzepte zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Rückenschmerzen4. Obwohl viele der dort aufgeführten Aspekte auch Relevanz für die betriebliche Prävention haben, ist dieser Schwerpunkt im Leitfaden nur unzureichend abgehandelt; es findet sich im Autorenkollektiv des „Expertenpanel Rückenschmerz“ weder für die Prävention noch für die rehabilitativen Aspekte arbeitsmedizinische Unterstützung.

Gerade in der arbeitsmedizinischen Praxis sind aber Fragen zur Belastbarkeit der Wirbelsäule und des Stütz- und Bewegungsapparates nicht nur im Rahmen einer Versorgung aufgrund akuter Beschwerden, sondern auch beispielsweise bei Einstellungs- oder Eignungsuntersuchungen und Wiedereingliederungen an der Tagesordnung. Insbesondere bei Beurteilungen zur Einsatzmöglichkeit aufgrund chronifizierter Wirbelsäulenerkrankungen oder nach Operationen, bei tätigkeitsbezogenen Problemen am Arbeitsplatz wie auch im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen muß der Arbeitsmediziner in der Lage sein, eine möglichst umfassende und zutreffende Einschätzung über die evtl. vorhandenen Störungen am Bewegungsapparat zu geben und vor allem die Relevanz für den vorgesehenen Einsatzbereich einschätzen zu können.

Dabei geht es nicht nur um mögliche Überforderungen, z.B. durch das Handhaben schwerer Lasten oder kurzzyklisch repetitive Arbeiten, sondern es können auch Unterforderungen durch unzureichende Bewegungs- oder Ausgleichsmöglichkeiten, beispielsweise bei Arbeiten in Zwangshaltungen, bei Überkopfarbeiten oder bei überwiegenden Steuer- und Überwachungstätigkeiten auftreten. Körperliche Belastungen sind zwar grundsätzlich geeignet, Beschwerden am Bewegungsapparat hervorzurufen, sie sind aber per se nicht von vorneherein als schädlich anzusehen – auch nicht bei vorbestehenden Beschwerden. Vielmehr braucht der Körper bestimmte adäquate Belastungsreize, um funktionsfähig zu bleiben oder auch um Funktionen wieder herzustellen. Dies wird oft bei präventiven oder ergonomischen Überlegungen im Betrieb übersehen, obwohl in Sportmedizin und Trainingslehre dieses Wissen schon seit langem Eingang beispielsweise in die Trainingssteuerung gefunden hat.

Im arbeitsmedizinischen Alltag hat sich für eine sinnvolle Prävention von Beschwerden am Bewegungsapparat unter der Berücksichtigung des Belastungs-Beanspruchungskonzeptes ein aufeinander aufbauendes modulares Vorgehen aus folgenden Bestandteilen als sinnvoll erwiesen:

· Gefährdungsbeurteilung des aktuellen Arbeitsplatzes und Belastungsdaten

· Anamnese und Vorbefunde zu Erkrankungen des Bewegungsapparates

· Gezielte arbeitsplatzbezogene Funktionsuntersuchungen

· Arbeitsmedizinische Beurteilung der individuellen Beanspruchung

· Beratung für Mitarbeiter und Arbeitgeber

Gefährdungsbeurteilung des aktuellen Arbeitsplatzes und Belastungsdaten
Die Kenntnis konkreter Gefährdungsbeurteilungsdaten zu Belastungen am aktuellen Arbeitsplatz ist für alle Erkrankungen des Bewegungsapparates von großer Bedeutung. Dies gilt nicht nur für Lastenhandhabung oder anderweitige körperliche Schwerarbeit, sondern betrifft auch Tätigkeiten mit Zwangshaltungen oder mit großen Anteilen haltungskonstanter Arbeiten, z.B. Überkopfarbeiten oder mit knieender/hockender Haltung sowie manuell-repetitive Arbeiten mit hohen Belastungen beispielsweise der Unterarme und Handgelenke. Bei der Gefährdungsbeurteilung sind möglichst umfangreich die belastungsrelevanten quantifizierbaren Daten des Arbeitsplatzes zu erheben. Dazu gehören auch Informationen zur Arbeits- und Pausenorganisation, Schichtsystem etc.

Eine betrieblich praktikable Gefährdungsbeurteilung mit dem Schwerpunkt auf den Belastungen des Bewegungsapparates erfolgt sinnvollerweise in 2 Stufen. Mit Hilfe einer einfachen orientierenden Checkliste werden die in Frage kommenden Arbeitsplätze auf die Notwendigkeit einer detaillierteren Bewertung, z.B. zu Lastenhandhabung o.ä. durch den Betriebsarzt im Zusammenwirken mit dem Unternehmer und der Sicherheitsfachkraft überprüft 5. Die Checkliste ist konzipiert für eine Nutzung bei Betriebsbegehungen und orientiert sich sehr eng an den tätigkeitsbezogenen Auswahlkriterien für den G 46, die in der BGI 506–46 umfassend beschrieben sind6. Falls notwendig können dann für eine erweiterte Belastungsabschätzung erprobte Verfahren wie die Leitmerkmalmethode für Heben/Tragen/Ziehen oder Schieben, eine Grenzlastermittlung nach DIN EN 1005–2 resp. das Ergon-Lift-PC-Programm und bei komplexeren Fragestellungen auch das Cuela-Meßverfahren oder die MDD-Kriterien Hilfestellung bieten. In grösseren Betrieben empfiehlt sich eine konsequente und dauerhafte Erfassung der Arbeitsplatzbelastungen im Zusammenwirken mit den für Planung und Gestaltung zuständigen Abteilungen, beispielsweise in einer an die betrieblichen und arbeitsmedizinischen Erfordernisse angepassten Datenbank als Arbeitsplatzkataster.

Anamnese und Vorbefunde zu Erkrankungen des Bewegungsapparates
Die in der Literatur beschriebenen Empfehlungen zu Anamnesen bei Beschwerden am Bewegungsapparat sind je nach Fachrichtung sehr unterschiedlich aufgebaut und oft eher allgemein gehalten oder speziell aus diagnostischen oder therapeutischen Gründen auf Schmerzangaben fixiert7,8. Da keine dieser Empfehlungen in ausreichendem Umfang auf Arbeitsplatzbedingungen eingeht, empfiehlt sich der Einsatz des doppelseitigen Anamnesebogens zum G 469,10. Dieser Fragebogen hat den Vorteil, dass der Mitarbeiter sich bereits bei dem Ausfüllen der Fragen auf der Vorderseite zur Eigenanamnese – beispielsweise im Wartezimmer – mit seinen evtl. vorhandenen individuellen Beschwerden beschäftigen kann. Damit wird die Fortführung einer zielgerichteten Anamnese auf der Rückseite durch den Arzt erheblich erleichtert.

Leider berücksichtigt der Fragebogen in der vorliegenden Form noch nicht ausreichend evtl. relevante psychomentale Einflussfaktoren wie Stress, Zeitdruck oder private Probleme und erfasst auch nicht eine individuelle Einschätzung der vorhandenen oder zukünftigen Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Diese von Person zu Person sehr unterschiedlichen empfundenen Belastungsfaktoren sollten daher zusätzlich gezielt in der ärztlichen Anamnese eruiert werden. Dies kann beispielsweise einfach und doch zielführend unter Nutzung der Empfehlungen des „WH0 5 Wohlbefinden“ Fragebogens11 oder mit dem Work Ability Index geschehen. Der Work Ability Index (WAI) ist ein Messinstrument zur Erfassung der Arbeitsfähigkeit von Erwerbstätigen und wird auch als Arbeitsfähigkeitsindex oder Arbeitsbewältigungsindex bezeichnet12. Er kann dazu beitragen, dass frühzeitig individueller Handlungsbedarf identifiziert wird und Präventionsmaßnahmen zum Erhalt und zur Förderung der Arbeitsfähigkeit eingeleitet werden. Diese gezielten Fragen auch nach psychomentalen Beanspruchungen sollten jedoch grundsätzlich nicht im Rahmen der eingangs beschriebenen betrieblichen Gefährdungsbeurteilung erhoben werden, sondern gehören zum diagnostischen Spektrum des Arztes. Nach wie vor gilt, dass aus anamnestischen Daten die besten Informationen zur Relevanz wie auch oft zur Progredienz der Beschwerden am Bewegungsapparat abgeleitet werden können.

Gezielte arbeitsplatzbezogene Funktionsuntersuchungen
Für die zu einer sachgerechten Beurteilung unabdingbare körperliche Untersuchung empfehlen sich einheitliche und systematisch festgelegte Untersuchungsgänge, bei denen unter arbeitsmedizinischen Fragestellungen aber nicht unbedingt immer der gesamte Körper untersucht werden muss. Es sollte eine Beschränkung der Funktionsuntersuchungen sowohl aus arbeitsplatzbezogenen Gründen wie auch aus zeitlichen Ressourcen auf die in Frage kommenden Körperregionen möglich sein13. Bei der arbeitsmedizinischen Untersuchung des Bewegungsapparates steht die Suche nach funktionellen Störungen im Vordergrund14. Die zugrundeliegenden Diagnosen sind erst in zweiter Linie von Interesse, da eine arbeitsmedizinische Beurteilung sich immer an einer konkret vorhandenen Leistungsfähigkeit und nicht an Diagnosen ausrichten muss. Befundfeststellungen wie „Impingement“ oder „Bandscheibenprolaps“ klingen zwar beeindruckend, sind aber auch bei umfangreichem diagnostischem Bildmaterial oft nur wenig hilfreich für die Bewertung der Arbeitsfähigkeit. Leider fehlt aber gerade bei Arbeitsmedizinern oft die Erfahrung mit praxisorientierten funktionellen Untersuchungstechniken am Bewegungsapparat. Orthopädische Untersuchungsabläufe sind meist eher auf therapeutische Belange ausgerichtet und damit für die arbeitsmedizinische Praxis wenig hilfreich.

Mit der im Rahmen des G 46 empfohlenen Untersuchungssystematik fokus©, die sich durch eine Gliederung der notwendigen funktionellen Untersuchungen (Screening – Funktionsdiagnostik), eine modulare Gestaltung anhand bestimmter Körperregionen und einer zuverlässigen und leicht zu erlernenden Diagnostik („Häufiges ist häufig“) auszeichnet, kann dies optimiert und recht einfach in der täglichen betrieblichen Praxis durchgeführt werden10,14,15. In Abbildung 1 sind die Inhalte für die Wirbelsäulenuntersuchung sowohl für die Screeningebene wie auch für die Funktionsdiagnostik dargestellt. Ein ergonomischer und zeitsparender Ablauf, eine möglichst einfache und einheitliche Dokumentation sowie ein grundsätzlicher Verzicht auf bildgebende Verfahren erleichtern den Einsatz dieser Systematik. Wenn beispielsweise anamnestisch keine Hinweise auf Probleme der oberen Extremität vorliegen und bei schulterbelastenden Arbeiten die Screeninguntersuchung der Schulter-Arm-Region unauffällig ist (Abbildung 2), muss funktionell nicht weiter differenziert werden, da die wesentlichsten Schulterfunktionen bereits mit der Screeninguntersuchung erfasst werden16. Neben der interindividuellen Standardisierung der Untersuchungsumfänge in betrieblichen Kollektiven erlaubt die Systematik auch den intraindividuellen Vergleich von Untersuchungsbefunden beim gleichen Mitarbeiter, beispielsweise im Verlauf einer Erkrankung oder eines Rehabilitationsverfahrens.

Bei der funktionellen Untersuchung stehen 3 Kriterien im Mittelpunkt, die für den untersuchten Mitarbeiter bzw. für die Einsatzfähigkeit von unterschiedlicher Wichtigkeit sind :

· Sind die festgestellten Funktionsstörungen relevant für die ausgeübte Tätigkeit bzw. sind weitere Gesundheitsschäden beim Verbleib in dieser Tätigkeit zu erwarten?

· Gibt es Hinweise für konkrete arbeitsbezogene Funktionsstörungen oder für Berufskrankheiten?

· Sind noch diagnostische, therapeutische oder rehabilitative Maßnahmen notwendig?

Für die arbeitsmedizinische Bewertung und die Festlegung der Einsatzmöglichkeiten sind in erster Linie individuelle funktionelle Störungen und daraus resultierende Leistungs- oder Bewegungseinschränkungen von Interesse und erst in zweiter Hinsicht die diesen Einschränkungen zugrundeliegenden Strukturschäden. Nur anhand einer funktionellen Bewertung kann arbeitsmedizinisch beurteilt werden, ob eine Einsatzeinschränkung für den Arbeitsplatz vorliegt und ob weitere diagnostische oder sonstige Maßnahmen notwendig sind oder ob Präventionsmöglichkeiten eher in arbeitsplatzgestaltender Ergonomie bzw. in arbeitsorganisatorischen Maßnahmen liegen. Neben der klassischen Fragestellung an den Arbeitsmediziner nach einem Arbeitsplatzzusammenhang oder Hinweisen für ein Berufskrankheitengeschehen wird sich der untersuchte Mitarbeiter naturgemäß eher für medizinische Hilfe bei seinem individuellen gesundheitlichen Problem interessieren.

Arbeitsmedizinische Beurteilung der individuellen Beanspruchung
Bei der Beurteilung der individuellen Beanspruchung sind die komplexen Beziehungen zwischen den unterschiedlichsten externen und internen Belastungsfaktoren zu berücksichtigen. Externe Belastungen wie z.B. die Notwendigkeit einer Lastenmanipulation/Lastenhandhabung am Arbeitsplatz, unvermeidbare und unterschiedliche lange Zwangshaltungen oder haltungskonstante Arbeiten, fehlende Ausgleichsmöglichkeiten durch job-rotation oder ungünstige Schichtarbeitszeiten und -formen stehen individuell sehr unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen der Beschäftigten (Gesundheit, Konstitution, Alter, Trainingszustand etc.) und oft den verschiedensten psychosozialen Belastungsfaktoren (Arbeitsplatz- oder Familienkonflikte, inadäquates Krankheitsverhalten, Somatisierungstendenz etc.) gegenüber. Funktionelle Befunde bedürfen der Berücksichtigung subjektiver Schmerzempfindlichkeit und -wahrnehmung, dem persönlichen Stressempfinden und den individuellen bzw. ergonomischen Gestaltungs- und Mitwirkungsspielräumen am Arbeitsplatz. Da vor allem der Fähigkeit einer psychischen Bewältigung von Beschwerden am Bewegungsapparat eine entscheidende Rolle in der Arbeitswelt zukommt, fällt im heutigen „Bio-Psycho-Sozialen“ Erklärungsmodell insbesondere den psychosozialen Faktoren die Rolle eines Warnsignals („yellow flag“) zu2,3,4.

In Einzelfällen, bei denen unter Berücksichtigung der Gefährdungsbeurteilungskenntnisse, der individuellen Anamnese, psychozialer Faktoren und der Ergebnisse einer funktionellen Untersuchung keine sichere Beurteilung der Einsatzmöglichkeiten erfolgen kann, empfiehlt sich ein zusätzlicher Einsatz von Assessmentverfahren wie z.B. der Evaluation funktioneller Leistungsfähigkeit (EFL) oder mit Hilfe des FCE Assessments Ergos® Work Simulator17. Beispielsweise kann bei einer EFL-Testung anhand von 29 verschiedenen Arbeitsanforderungen unter kontrollierten Bedingungen das konkrete individuelle Leistungsvermögen ausgetestet werden18. Dabei ist sowohl die Bestimmung von Grenzlastgewichten möglich wie auch eine Festlegung, wie lange bestimmte Arbeiten ausgeführt werden können.

Entscheidend ist bei der Beanspruchungsbeurteilung das arbeitsmedizinisch begründete Abwägen zwischen objektivierbaren Faktoren wie Arbeitsplatzbedingungen oder Funktionsbefunden und den individuellen Beanspruchungseinflüssen. Die Beanspruchungsbeurteilung zielt auf die Bewertung der individuellen Belastbarkeit am tatsächlichen Arbeitsplatz, der prognostischen Einschätzungen eines möglichen Gesundheitsrisikos unter den gegebenen Bedingungen inkl. möglicher ergonomischer oder eigenverantwortlicher Kompensationsmöglichkeiten sowie dem Erhalt oder der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Damit sind gleichzeitig die wesentlichsten Grundlagen für die notwendige Beratung der Mitarbeiter und der Arbeitgeber geschaffen.

Beratung für Mitarbeiter und Arbeitgeber
Eine umfassende arbeitsmedizinische und auf Fakten beruhende Beratung des Mitarbeiters wie auch des Arbeitgebers soll Veränderungen auf den verschiedensten Ebenen der Verhältnis- und Verhaltensprävention bewirken und langfristig wirksam sein. Dabei richtet sich die Beratung bei der festgestellten Notwendigkeit ergonomischer oder arbeitsorganisatorischer Verbesserungen zur Vermeidung von Über- und Fehlbelastungen direkt an den Arbeitgeber. Die bei der Gefährdungsbeurteilung (beispielsweise in der vorstehend aufgeführten betrieblichen Checkliste) gemeinsam festgelegten Belastungsbedingungen bieten dazu eine solide Beratungsgrundlage. Unter Kostengesichtspunkten hat sich darüberhinaus bewährt, unter Zuhilfenahme betriebsepidemiologischer Auswertungen von Vorsorgeuntersuchungsergebnissen oder aufgrund medizinischer Auffälligkeiten ggf. unter Berücksichtigung des Krankheitsgeschehens in bestimmten Arbeitsbereichen zu argumentieren.

Grundsätzlich zielt die ärztliche Untersuchung beim G 46 auf die Suche nach funktionellen Störungen, die das Ausüben der Tätigkeit erschweren oder verhindern bzw. sich durch weiteres Ausüben der Tätigkeiten verschlimmern könnten. Dementsprechend sind die Beratungsinhalte für den Mitarbeiter auch auf die erhobenen Funktionsdefizite unter Berücksichtigung der Arbeitsplatzbelastungen abzustimmen und weniger auf das Vorhandensein oder die Folgen bereits vordiagnostizierter morphologischer Schäden. Für eine individuelle Präventionsberatung der Mitarbeiter sind Empfehlungen zur Verbesserung der körperlichen Belastbarkeit im Rahmen von Gesundheitsförderungs- bzw. Rehabilitationsmaßnahmen bis hin zur Frage einer Arbeitsplatzumsetzung sorgfältig abzuwägen gegenüber den Gestaltungsmöglichkeiten des Arbeitsplatzes. Ein oft vergessener, aber zunehmend wichtig werdender Beratungsaspekt betrifft die Frage nach einer individuellen Lebensplanung des Mitarbeiters19. Besonderer Augenmerk sollte dabei dem Alter, der noch verbleibenden Lebensarbeitszeit, dem privaten Umfeld und den yellow flags der psychosozialen Faktoren gelten. Aus demographischen Notwendigkeiten muß verstärkt auf die individuelle Bereitschaft zur Mitwirkung bei der Prävention hingewirkt werden, dies gilt insbesondere bei geringem oder nicht vorhandenem Leidensdruck der Betroffenen. Fehlinformationen über Ursachen und Folgen von Rückenschmerzen sind weit verbreitet und oft wird eine einfache, aber meist unzutreffende Kausalität zwischen Arbeitsbedingungen und Beschwerden gesehen. Hauptinhalte der arbeitsmedizinischen Beratung sollten daher mitarbeiterbezogene Informationen sein, die einer Dramatisierung der Beschwerden und evtl. überzogenen Therapie- oder Rehabilitationserwartungen entgegentreten und ein Verändern des Tagesablaufes zugunsten gesteigerter körperlicher Aktivität im beruflichen und privaten Alltag, verbunden mit gezielter Stressreduktion erlauben.

Schlussfolgerung
Zusammenfassend muß darauf hingewiesen werden, dass der Erstkontakt- oder Erstbehandlerebene bei Prävention, Therapie und vor allem bei der Vermeidung einer Chronifizierung der Beschwerden am Bewegungsapparat eine entscheidende Rolle zukommt. Mit Hilfe einer funktionsorientierten Untersuchung des Bewegungsapparates unter Berücksichtigung privater und beruflicher Belastungsfaktoren sowie der individuellen Anamnese kann zielgerichtet nach Warnsignalen für schwerwiegendere Beschwerden gesucht werden und ggf. eine therapeutische Intervention erfolgen. Liegen solche Warnsignale nicht vor, kann über eine gezielte und eingehende Beratung und die möglichst frühzeitige Wiederaufnahme von Alltags- oder Berufstätigkeiten einer Chronifizierung entgegengewirkt werden. Dabei hat insbesondere der vor Ort tätige Arbeitsmediziner gegenüber allen anderen medizinischen Fachrichtungen den entscheidenden Vorteil, die tatsächlichen Arbeitsbedingungen nicht nur zu kennen, sondern auch gezielt beeinflussen zu können. Dies ermöglicht es dem Betriebsarzt, z.B. unter Anwendung der Empfehlungen der berufsgenossenschaftlichen Untersuchung G 46, nicht nur den Mitarbeiter, sondern auch den Arbeitgeber eingehend und umfassend beraten zu können20. Die betriebliche Arbeitsmedizin kann damit einen wesentlichen Beitrag zur Prävention wie auch bei der Rehabilitation von Beschwerden am Bewegungsapparat leisten.

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Berufsgenossenschaftliche Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen. 4. Auflage Gentner Verlag, Stuttgart, 2007

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