Prävention

Vorteile ergonomischer Transporthilfen – Fallbeispiel einer Leiter mit „roll-bar“-Traverse

Zusammenfassung Rückenschmerz und Erkrankungen der Wirbelsäule haben eine multifaktorielle Ätiologie. Sie sind weit verbreitet und kommen in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vor. Chronische Rückenschmerzen sind nach wie vor die Ursache Nummer eins für krankheitsbedingte Arbeitsausfälle. Bereits auf dem Markt existieren z. B. Stufenstehleitern mit ergonomischer Griffzone sowie Sprossenleitern mit „roll-bar“-Traverse zum Ziehen der Leitern, die laut Hersteller den Kraftaufwand für den Transport von Leitern um fast die Hälfte reduzieren können. Schonen solche Transporthilfen wirklich unseren Rücken? Haben ergonomische Leitertransportsysteme tatsächlich eine rückenentlastende Funktion? Ziel unserer Fragestellung war das Aufdecken und Quantifizieren eventueller Vorteile einer dieser ergonomischen Hilfsmittel unter biomechanisch-medizinischer Sicht. Als Fallstudie wurde eine elektromyografische Untersuchung der Rücken-, Bauch- und Schultermuskulatur eines gesunden männlichen Probanden im Alter von 30 Jahren beim Tragen und Ziehen einer Leiter mit „roll-bar“-Traverse durchgeführt. Es wurden 8 Muskeln der Wirbelsäule mittels elektromyografischer Ableitungen untersucht und auf neuromuskuläre Beanspruchung und Unterschiede zwischen den Transporttechniken analysiert. Das Tragen einer handelsüblichen Mehrzweckleiter weist insgesamt höhere Muskelaktivitäten auf als das Ziehen mit „roll-bar“-Traverse. Über eine Strecke von 5 x 100 m ist die muskuläre Leistung beim Tragen insgesamt um ein 16-Faches erhöht. Beide Transporttechniken zeigen asymmetrische muskuläre Beanspruchungen bei einseitiger Handhabung. Ergonomische Transportsysteme für Leitern haben eine rückenentlastende Funktion. Dennoch zeigt sich ebenfalls beim Ziehen schwerer Leitern eine asymmetrische Aktivierung der Rücken- und Bauchmuskulatur. Zur Verbesserung der entlastenden Wirkung ergonomischer Tragesysteme sollten Unterweisungen rückengerechter Zieh-/Schiebetechniken in spezifischen Arbeitsschutzmaßnahmen inbegriffen sein. .Schlüsselwörter

· Elektromyografie

· Rücken

· Ergonomie

· Biomechanik

· Muskelkoordination

· Electromyography

· Spine

· Ergonomics

· Biomechanics

· Muscle Coordination

Einführung
Rückenschmerz und Erkrankungen der Wirbelsäule haben eine multifaktorielle Ätiologie. Sie sind weit verbreitet und kommen in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vor. Unter den arbeitsbedingten Einwirkungen, die Rückenschmerzen im Bereich der LWS wesentlich mit verursachen und verschlimmern können, sind fortgesetztes Heben oder Tragen schwerer Lasten oder häufiges Arbeiten in extremer Beugehaltung des Rumpfes wichtige Gefahrenquellen.1 Chronische Rückenschmerzen sind nach wie vor die Ursache Nummer eins für krankheitsbedingte Arbeitsausfälle. Diese Problematik ist ein Grund, weshalb in Unternehmen Arbeitsschutzmaßnahmen wie die Bereitstellung von ergonomischen Arbeitsmitteln immer bedeutsamere Themen sind.2 Das Heben und Tragen von Lasten wirkt sich vornehmlich auf die Wirbelsäule, vor allem den Bereich der Lendenwirbelsäule, aus. Diese Belastung wird im Wesentlichen bestimmt durch Gewicht und Anzahl der zu hebenden oder zu tragenden Gegenstände und durch die dabei eingenommene Körperhaltung. Die Beschaffenheit der Last, ihre Griffigkeit, Umgebungseinflüsse und die individuelle Eignung des Beschäftigten spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.3 Bereits auf dem Markt existieren z. B. Stufenstehleitern mit ergonomischer Griffzone sowie Sprossenleitern mit „roll-bar“-Traverse zum Ziehen der Leitern, die laut Hersteller4 den Kraftaufwand für den Transport von Leitern um fast die Hälfte reduzieren können. Schonen solche Transporthilfen wirklich unseren Rücken? Haben ergonomische Leitertransportsysteme tatsächlich eine rückenentlastende Funktion? Ziel unserer Fragestellung war das Aufdecken und Quantifizieren eventueller Vorteile einer dieser ergonomischen Hilfsmittel unter biomechanisch-medizinischer Sicht. Zur Beurteilung von Hebe- und Tragetätigkeiten sind Aussagen zur Leistungsfähigkeit der Muskulatur von besonderer Bedeutung, da Muskeln die krafterzeugenden Organe sind. Eine gut geeignete Methode zur Erfassung von physiologischen Vorgängen der Muskulatur ist die Elektromyographie (EMG). Mit Hilfe dieser Methode können die Beanspruchung und die Ermüdung einzelner Muskelgruppen ermittelt werden.2

Methodik
In der vorliegenden Studie wurde eine elektromyografische Untersuchung der Rücken-, Bauch- und Schultermuskulatur beim Tragen und Ziehen einer Leiter mit „roll-bar“-Traverse durchgeführt. Untersucht wurden im Seitenvergleich der M. erectorspinae pars thorakal et lumbar, M. rectusabdomini und der M. trapezius pars desc. eines gesunden männlichen Probanden im Alter von 30 Jahren (Abbildung 1). Verglichen wurden zwei unterschiedliche Transporttechniken. Bedingung 1 umfasste das Tragen einer handelsüblichen Aluminium-Mehrzweckleiter (3 x 14, Günzburger Steigtechnik). Für Bedingung 2 wurde eine ergonomische Ziehvorrichtung („roll-bar“-Traverse der Firma Günzburger Steigtechnik) an der Leiter befestigt. Die Leiter wurde mit rechter Handfassung vom Probanden gezogen. Pro Bedingung wurden fünf Messungen im Wechsel durchgeführt. Jede Messung umfasste eine Strecke von ca. 100 m, welche durch vier quadratisch gelegene Teilstrecken von 25 m im Gegenuhrzeigersinn (Linkskurven) abgegangen wurde. Alle Versuche wurden per Videoaufnahme dokumentiert. Zur Normalisierung der EMG-Daten führte der Proband im Anschluss maximale isometrische Kontraktionen in Flexion und Extension des Rumpfes bzw. Elevation der Schulter zur Bestimmung der MVC (maximum voluntary contraction) der Rücken-, Bauch- und Schultermuskulatur durch. Die EMG-Daten wurden in der Auswertung gleichgerichtet, geglättet (RMS 100 ms) und entgegen der entsprechenden MVC-Messung normalisiert. Zur Auswertung der Daten wurden alle fünf Versuche jeder Bedingung in einer zusammenfassenden Grafik dargestellt (Abbildung 2) und die jeweilige Transportaufgabe in drei Phasen eingeteilt. Die Phase „Aufnehmen“ beinhaltet das Aufheben der Leiter bis zur Durchführung des ersten Schrittes. Die Phase „Transport“ beinhaltet die Aktivität des Tragens bzw. Ziehens der Leiter und letztlich die Phase „Ablegen“, die das Ablegen der Leiter zum Boden bis zum ruhigen Stand bezeichnet (Abbildung 3). Zum Vergleich der Daten wurden Mittelwerte und Maximalwerte der EMG-Signale herangezogen. In einer zweiten Datenanalyse wurde die neuromuskuläre Beanspruchung der jeweiligen Transportaufgabe untersucht. Anhand der MVC-Messungen (100 %) wurden prozentuale Aktivitätsbereiche definiert (0-40 % geringe Aktivität, 40-80 % mittlere Aktivität, 80-100 % hohe Aktivität) und die Dauer des Aktivitätsniveaus innerhalb dieser Bereiche analysiert.

Phasenanalyse
Das „Aufnehmen“ der Leiter in Bedingung 1 (Tragen) zeigt deutlich asymmetrische Aktivierungen des M. erectorspinae pars lumbar sowohl in den Mittelwerten der einzelnen Versuche als auch den Maximalwerten (Mittelwert: Re=156 %, Li=39,5 %; Maximum Re=301 %, Li=71,3 %). Ebenfalls zeigt sich ein asymmetrisches Aktivierungsmuster des M. erectorspinae pars thorakal in den Maximalwerten (Re=136 %, Li= 93,6 %). Im Vergleich zur Bedingung 2 zeigt sich in allen EMG-Ableitungen ein deutlich höheres muskuläres Aktivierungsniveau. Die „Transport“-Phase zeigt in beiden Bedingungen eine leicht asymmetrische Aktivierung der lumbalen Rückenmuskulatur (Mittelwert: Tragen=Li 41,6 %, Re 24,4 %; Ziehen=Li 32,2 %, Re 14,1 %). Im thorakalen Bereich bestehen höhere Mittelwerte und Maximalwerte der muskulären Aktivität bei Bedingung 1 (Tragen). Die Bauchmuskulatur zeigt in Bedingung 1 leichte, in Bedingung 2 deutliche Seitendifferenzen im Aktivierungsniveau (Mittelwert: Tragen= Li 79,2 %, Re 33,8 %; Ziehen= Li 121 %, Re 30,8 %). Im Bereich der Schultermuskulatur ist ebenfalls eine leichte Seitendifferenz vorhanden. Im Vergleich von Bedingung 1 und 2 zeigen sich höhere Maximalwerte der Muskelaktivierung beim Tragen der Leiter. Die dritte Phase, das „Ablegen“ der Leiter, zeigt in allen untersuchten Muskelgruppen höhere Maximalwerte der Muskelaktivität bei Bedingung 1. Des Weiteren findet sich bei beiden Bedingungen leichte bis deutliche Seitendifferenzen in der mittleren Muskelaktivierung.

Neuromuskuläre Beanspruchung
Die neuromuskuläre Beanspruchung der untersuchten Muskeln ist in Abbildung 4 zusammengefasst.

Diskussion
Das Tragen einer handelsüblichen Mehrzweckleiter weist insgesamt höhere Muskelaktivitäten auf als das Ziehen mit „roll-bar“-Traverse. So zeigt sich bei der lumbaren und thorakalen Rückenmuskulatur der tragenden Körperseite eine 3- bis 3,6-fach höhere muskuläre Anspannung. Diese deutlich höheren Aktivitäten zeigten sich vor allem beim Aufnehmen und Ablegen der Leiter.

Des Weiteren ist die Gesamtdauer der Belastung beim Tragen länger. Somit ist die Rücken-, Bauch- und Schultermuskulatur für die gleiche Strecke beim Tragen einer Leiter zeitlich länger und stärker aktiv als beim Ziehen einer Leiter. Daraus ergibt sich, dass die benötigte muskuläre Leistung beim Tragen im Vergleich zum Ziehen der Leiter über eine Strecke von 5 x 100 Metern um ein 16-faches erhöht ist.

Übertragen auf Alltags- und Arbeitsvorgänge mit Leitern ist zu vermuten, dass es beim Tragen der Leitern zu einer schnelleren neuromuskulären Ermüdung und somit schnelleren Überlastung der passiven Strukturen der Wirbelsäule und weiterer Gelenke kommt. Die teils sehr hohen und schnell einwirkenden Maximalwerte der muskulären Aktivierung, vor allem der Bauch- und Rückenmuskulatur beim Tragen der Leiter, lassen eine hohe und für passive Strukturen der Wirbelsäule ungünstige Belastung vermuten. Maximalkräfte, die auch nur kurzzeitig aufgebracht werden, bergen ein sehr hohes Gesundheitsrisiko in sich. Sie sind mit einer akuten Verletzungsgefahr verbunden.3 In beiden Bedingungen war die muskuläre Aktivierung asymmetrisch. Die Leiter wurde rechtsseitig getragen und rechtshändig gezogen. Um den Einfluss der angewendeten Technik auf die Stärke und Symmetrie der Muskelaktivierung zu überprüfen, wurde ein zweiter Versuch mit einem weiteren Probanden durchgeführt. Es zeigten sich ähnliche Ergebnisse wie hier dargestellt. Zusätzlich zeigte sich, dass beim Wechsel der Ziehtechnik innerhalb eines Probanden die Asymmetrie der Muskelaktivierung verändert werden kann. Technikabhängig können beim Ziehen und Schieben schwerer Lasten Belastungen auftreten, die vergleichbar mit den Belastungen sind, die durch das Heben und Tragen schwerer Lasten entstehen.5 In der vorliegenden Einzelfall-Studie zeigte sich, dass ein Technikwechsel positive Auswirkungen auf die muskuläre Aktivierung der Rücken- und Bauchmuskulatur bewirken kann. Betrachtet man das Gewicht und die Maße der angewendeten handelsüblichen Leiter, ist gut nachzuvollziehen, dass ein Technikwechsel (z. B. von der rechten zur linken Seite, beidhändiges Ziehen) beim Ziehen mit „roll-bar“-Traverse besser möglich ist, als beim Tragen der Leiter (letzteres müsste gegebenenfalls mit einem Ablegen und erneutem Aufnehmen der Leiter durchgeführt oder einem Wechsel auf die andere Schulterseite bewerkstelligt werden). Im Vergleich zum Ziehen stellt sich das Schieben von schweren Lasten als gesundheitsgerechtere und rückenschonendere Transportvariante dar.6

Schlussfolgerung
Das Heben und Tragen von Lasten zählt zu den Belastungsarten, auf die der menschliche Körper nur ungenügend eingerichtet ist. So tragen Hebe- und Tragearbeiten zu vorzeitigen Abnutzungserscheinungen des Stütz- und Bewegungsapparates des Menschen, die sich in Form von Rückenbeschwerden äußern können, bei. Aus diesem Grund hat die Europäische Gemeinschaft eine Richtlinie zur manuellen Handhabung von Lasten erlassen, deren Inhalt Eingang in eine deutsche Rechtsverordnung, die so genannte „Lastenhandhabungsverordnung“ gefunden hat.3 Ergonomische Transportsysteme für Leitern haben eine rückenentlastende Funktion. Dennoch zeigt sich ebenfalls beim Ziehen schwerer Leitern eine asymmetrische Aktivierung der Rücken- und Bauchmuskulatur. Leichte Änderungen von Ziehtechniken haben jedoch positive Auswirkungen. Wie von Beckhaus et al.6 vorgeschlagen, ist in Unternehmen ergänzend zu der alleinigen Beschaffung ergonomischer Vorrichtungen ebenso eine Schulung zu einer gesundheitsgerechten Nutzung der Arbeitsmittel nicht nur vorteilhaft, sondern auch vorgeschrieben. Zur Verbesserung der entlastenden Wirkung ergonomischer Tragesysteme müssen Unterweisungen rückengerechter Zieh-/Schiebetechniken in spezifischen Arbeitsschutzmaßnahmen inbegriffen sein.

Literatur

1. Berufskrankheiten- Verordnung, Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 1. Sept 2006 – Iva 4–45222–2108– Bundesarbeitsblatt 10–2006 S. 30 ff

2. Bongwald O., Luttmann A., Laurig W.. Leitfaden für die Beurteilung von Hebe- und Tragetätigkeiten. Gesundheitsgefährdung, gesetzliche Regelungen, Meßmethoden, Beurteilungskriterien und Beurteilungsverfahren. 1995 Hauptverband der Gewerblichen Berufgenossenschaften (HVBG).

3. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) (Hrsg.). Heben und Tragen ohne Schaden 6. unveränderte Auflage, Druck Verlag Kettler, Bönen/Westfalen, Februar 2011.

4. Industrieinformationen: Ergonomie-Investitionen zahlen sich aus. Arbeitsmed. Sozialmed. Umweltmed. 2012; 47,7: 96.

5. Hoozemans, M.J.M., Van der Beek, A.J., Frings-Dresen, M.H.W.,VanDijk, F.J.H., Van der Woude, L.H.V. Pushing and pulling in relation to musculoskeletal disorders: a review of riskfactors. Ergonomics 1998, 41, 757–781.

6. Backhaus C., Jubt K.-H., Post M., Ellegast R., Felten C., Hedtmann J.. Belastung des Muskel-Skelett-Systems beim Ziehen und Schieben von Müllgroßbehältern. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft (2012) 66 Nr. 4, S. 327–346

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