Psyche und Arbeit

„Wasch mich, aber mach mich bitte nicht nass“

Zusammenfassung Der Beitrag baut auf Erfahrungen auf, die bei der Begleitung von Projekten gewonnen wurden, die der Kategorie der “€žVerhaltensbasierten Sicherheitsprogramme”€œ zugerechnet werden können. Leitende Entscheidungsträger wollten sich mit der Einführung eines solchen Projektes nachhaltig für Sicherheit und Gesundheit engagieren und waren bereit, umfangreiche finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Die daraufhin auf dem Weg vom Top Management zu den Beschäftigten vor Ort in Gang gesetzten Entscheidungen und Aktivitäten werden vor dem Hintergrund der jeweiligen Ausgangsbedingungen in den Betrieben dahingehend hinterfragt, inwieweit sie zu Erfolg oder Misserfolg des Projektes beigetragen haben. Schlüsselwörter

· Sicherheitspsychologie

· Sicherheitskultur

· Sicherheitsprogramme

· Verhaltensbasierte Programme

· Sicherheitsmanagement

· Safety Psychology

· Safety Culture

· Safety Programmes

· Behaviour Based Programmes

· Safety Management

Einführung
Der Beitrag baut auf Erfahrungen im Referat Arbeitspsychologie der BG Chemie auf, die im Rahmen der Begleitung von Projekten in Mitgliedsbetrieben gewonnen wurden.

Es wurden betriebliche Aktivitäten ausgesucht, die die im folgenden beschriebene Kombination von Eigenschaften haben. Solche Aktivitäten werden nicht häufig durchgeführt, aber mit dieser Kombination werden mit hoher Wahrscheinlichkeit gruppendynamische Prozesse in Gang gesetzt, die fachpsychologische Kompetenz im Umgang damit erfordern. Dadurch werden die innerbetrieblichen Einflüsse für Erfolg oder Misserfolg von psychologischen Programmen besonders deutlich. Man könnte die mit diesem Beitrag aufgeworfene Hinterfragung des innerbetrieblichen Transfers von der Unternehmensleitung bis zum Mitarbeiter vor Ort genau so gut anhand professioneller Methoden der psychologischen Gefährdungsbeurteilung, Achtsamskeits-Prozeduren im Rahmen der Arbeitsfreigabe, Sicherheitswettbewerben und vielem mehr erläutern. Nur würden dann die relevanten Faktoren für Erfolg oder Misserfolg nicht so prägnant sichtbar werden.

Es handelt sich also um:

1. Aktivitäten mit engagierten leitenden Management- und Stabsstellen und der Bereitschaft, beträchtliche personelle und organisatorische Ressourcen einzusetzen. Damit verbunden ist als Erfolgskriterium, inwieweit die grundlegenden Entscheidungen zum Vorgehen psychologische Implikationen reflektieren und berücksichtigen.

2. Auswahl einer Aktivität, die der Kategorie der “€žVerhaltensbasierten Sicherheitsprogramme”€œ zugerechnet werden kann. Damit verbunden ist das Erfolgskriterium, ob die Wahl der fachlichen Vorgehensweise zum einen verträglich ist mit dem Stand der Sicherheitskultur, zum anderen mit der vorhandenen Fachkompetenz des mittleren und unteren Managements für Prozessmoderation und konstruktives Konfliktmanagement.

3. Umsetzung als meist lateral geführtes Projekt. Damit verbunden ist das Erfolgskriterium, ob die Wahl einer bestimmten Organisationsform und Logistik für die Umsetzung verträglich ist mit Prozessmerkmalen bei der Verbesserung von Sicherheitskultur.

Diese drei Vorgaben führen fast zwangsläufig zu drei Spannungsfeldern und darauf bezogenen Erfolgskriterien:

· Spannungsfeld Freiwilligkeit

· Spannungsfeld Anonymität

· Spannungsfeld Dokumentation

Es gibt noch eine Reihe von Detailkriterien für den Erfolg, auf die allerdings in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden kann. Denn es ist kennzeichnend für psychologische Interventionsprogramme, dass auch Kleinigkeiten groߟe Auswirkungen auf den Erfolg haben können. Sogar die nonverbale Körper- und Situationssprache in Informations- und Qualifizierungs-Settings können hier zu wichtigen Einflüssen werden.

1 Reflektiertheit der psychologischen Implikationen bei den Entscheidungen zur Vorgehensweise
Aus unterschiedlichen Gründen, meistens wegen ansteigender Unfälle oder kritischer Ereignisse hatten sich leitende Entscheidungsträger und Stabsstellenverantwortliche bereits entschieden, etwas aus ihrer Sicht Nachhaltiges in Form psychologisch basierter Vorgehensweisen zu tun. Es bestand auf der Leitungsebene die Bereitschaft, beträchtliche finanzielle und insbesondere personelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Somit geht es in diesem Beitrag nicht darum, das leitende Management zu motivieren, überhaupt etwas zu tun. Etwas aus der fachöffentlichen Diskussion war bereits im Betrieb angekommen. Von Seiten des Betriebsrats gab es meistens Signale, prinzipiell mitwirken zu wollen, die volle Unterstützung aber abhängig zu machen von der Konkretisierung der Projekte.

Zum Zeitpunkt der Anforderung von psychologischer Beratung und Begleitung waren schon recht weitgehende Festlegungen getroffen worden. Meistens waren auch bereits erste gruppendynamische Probleme und Konflikte aufgetreten. Ohne Gesichtsverlust war also eine Diskussion über die in Bezug auf die vorhandene Sicherheitskultur beste Vorgehensweise nicht mehr möglich. Es konnte nur noch korrektiv und präventiv in Bezug auf die zu erwartenden Herausforderungen beraten und begleitet werden, vor allem im Hinblick auf die zu erwartende Gruppendynamik und das notwendige Konfliktmanagement. Eine solche Perspektive gefiel den Führungskräften in der Regel überhaupt nicht. Denn vor allem in einer unterentwickelten Sicherheits- und Gesundheitskultur fehlen häufig Motivation und Kompetenz bei Führungskräften, ein konstruktives Management von Konflikten als Kern einer Vertrauenskultur und somit als Kern der Sicherheits- und Gesundheitskultur zu leben.

Der beratende Psychologe wird in der Regel als Optimierer angefragt, er soll helfen, ein solches konstruktives Konfliktmanagement zu vermeiden oder zumindest zu minimieren. Somit ist schon in der Erwartungshaltung an den Berater das Prinzip “€žWasch mich, aber mach mich nicht nass”€œ verankert. Später wird noch zu zeigen sein, dass dieses Prinzip auch während der Konkretisierung der betrieblichen Umsetzung immer wieder eine Rolle spielt. Nicht wenige Berater kommen dieser Erwartungshaltung auch entgegen, indem sie Informations- und Beratungsprodukte mit dem Etikett “€žniedrigschwellige psychologische Vorgehensweise”€œ bewerben, also Psychologie anbieten, die man nicht so richtig bemerkt. Das mag vielleicht in einer Einstiegsphase als Türöffner Sinn machen, nachhaltige Wirkungen entstehen dadurch aber nicht zwangsläufig.

2 Passen gewählte Methode und gelebte Sicherheitskultur zusammen?
In den in diesem Beitrag beschriebenen Beratungsfällen wählen die Entscheidungsträger eine Vorgehensweise, die der Kategorie der “€žVerhaltensbasierten Sicherheitsprogramme”€œ zugerechnet werden kann.

Eigentlich sind diese Programme nichts Neues. Sie hatten in Deutschland in den 80er Jahren mit der “€žFrankfurter Schule”€œ um den Arbeitspsychologen Prof. Friedhelm Burkardt ihre Blütezeit (Burkardt, 1981). Unbeeinflusst von diesen früheren deutschen Ansätzen haben Einflüsse aus den USA in Deutschland eine Renaissance dieser Methodik bewirkt.

Im Mittelpunkt der vielen Programm-Variationen stehen immer Achtsamkeitsprinzipien gegenüber Routinetätigkeiten, gegenseitige Verhaltensbeobachtungen und spezielle Feedback-Strategien, die die positive Anerkennung in den Fokus rücken.

Diese Programme werden von den Beratungsorganisationen als psychologisch fundiert, einfach, universell, nicht aufwändig, und wenn man es richtig macht, als Selbstläufer beworben.

Richtig ist, dass sie auf psychologischen Erkenntnissen aufbauen. Dagegen ist der Rest der Argumente nicht besonders seriös, denn es sind in der Regel komplexe und dennoch in der Anwendung eng begrenzte personalintensive psychologische Methoden, deren Erfolg sehr stark abhängt von der im Betrieb vorhandenen Sicherheitskultur, insbesondere der Vertrauenskultur, und vor allem auch der Fähigkeit der Vorgesetzten, kompetent mit gruppendynamischen Entwicklungen umzugehen.

Entscheidungsträger deuten die Werbung für diese Art von Projekten auch gerne, dass angeblich ihre Führungsrolle und -verantwortung weniger gefordert sind. Der Mythos des “€žSelbstläufers”€œ auf der Mitarbeiterebene ist nicht auszurotten. Im Gegenteil, die Entscheidungsträger sind mehr als sonst gefordert, denn die Mitarbeiter werden insbesondere durch das Training von Beobachtung und Feedback hochgradig für Fragestellungen von Sicherheit und Gesundheit sensibilisiert und wollen zeitnahe Antworten und Entscheidungen. Sinnbildlich erhalten die Führungskräfte damit eine kalte Dusche und neigen dazu, sich überfordert aus den Aktivitäten zurückzuziehen.

Auf weitere Details dieses Interventionstyps kann hier nicht weiter eingegangen werden. Mehr darüber ist zu finden in bisherigen und geplanten Publikationen des Autors (Ludborzs 2007 und Ludborzs & Rohn in Arbeit).

Der interessierte Leser kann sich über die Prinzipien auch bei Bördlein (2009) informieren. Allerdings soll hier auch darauf hingewiesen werden, dass einiges an den Ausführungen sehr problematisch ist. Durch den engen an Belohnung und Bestrafung orientierten verhaltenstherapeutischen Ansatz, der nur auf sichtbaren und klar operationalisierbaren Verhaltensweisen aufbaut, ignoriert das Buch so gut wie alle modernen systemischen, kognitiven oder an Emotionen anknüpfende Methoden. Eine Reihe für die Praxis unrealistischer Vorgehensweisen werden zudem empfohlen. Zum Beispiel soll zunächst in einer längeren Phase das Verhalten beobachtet werden, ohne sich mit den sicherheitskritischen Arbeitsweisen auseinander zu setzen, um die Ausgangsbasis für die Dokumentation festzuhalten. Oder die Empfehlung wird gegeben, während des Projektes mit sicherheitskritischen Verhaltensweisen “€žschlampig”€œ umzugehen, sie also nicht anzusprechen, um dadurch den Stellenwert des positiven Feedbacks zu erhöhen. Hintergrund für diese Empfehlung ist, dass davon ausgegangen wird, dass man in der betrieblichen Realität nur lange genug positives Feedback geben müsse, um zufriedenstellende sichere Verhaltensweisen zu erreichen. Das können vielleicht externe Forscher so handhaben, aber in der Praxis ist eher zu erwarten, dass dies als tolerierte Verhaltensweise wahrgenommen wird und die Sicherheitskultur negativ beeinflusst.

Wenn also zu Projektbeginn eine unterentwickelte gelebte Sicherheitskultur vorliegt, hat dieser Betrieb von Anfang an eine anspruchsvolle Drei-Ebenen-Aufgabe vor sich. Wie beabsichtigt will er ein aufwändiges und komplexes Projekt installieren, muss aber parallel in die nicht ausreichenden sicherheitskulturellen Gegebenheiten investieren und muss zudem noch die Kompetenzen der Beteiligten erhöhen. Ohne ein angemessenes Beobachtungs- und Kommunikationstraining ist ein Scheitern zu erwarten. Es wurde in den Projekten hierzu ein enormer Aufwand getrieben, teilweise Mannjahre an Ressourcen verbraucht. Es ist trotzdem sehr fraglich ob eine angemessene Qualifizierung mit etwa einem Tag pro Person erreichbar ist, auch wenn sie in Kleingruppen durchgeführt wird.

3 Linienintegrierte unbefristete Organisationsentwicklung oder kurzfristige Projekte?
Jede Organisation hat eine Organisationskultur, die man analytisch bereichsspezifisch und aufgabenbezogen herunterbrechen kann. So wird dann die Teilkultur “€žSicherheits- und Gesundheitskultur”€œ ausgegrenzt und auf Bereiche wie Produktion, Labor oder Einzelbetriebe heruntergebrochen. Obwohl es von der Problematik her am besten wäre, von einer mehr oder weniger sicherheits- und gesundheitsförderlichen Organisationskultur zu sprechen, hat sich der Begriff der Sicherheitskultur verselbständigt. Analytisch gesehen ist dabei sehr wichtig, wie weit Schein und Sein dieser Kultur übereinstimmen. Fachpsychologen interessiert deshalb in erster Linie die gelebte Sicherheitskultur, aber fast genau so stark die Diskrepanz zwischen der gelebten Kultur und der offiziellen Etablierung in Leitlinien und öffentlichen Stellungnahmen.

Viele Fachleute verneinen, dass man gelebte Sicherheitskultur kurzfristig nachhaltig positiv verändern kann, auch nicht mit gröߟtmöglichem Einsatz von Aufwand und Ressourcen. Man kann also nur etwas erreichen, wenn man über einen längeren Zeitraum in die Kultur investiert. Es braucht Monate bis Jahre, bis sich eine Sicherheitskultur signifikant verbessert hat. Allerdings braucht es nur wenige Wochen, bis sie sich deutlich verschlechtert. Auf diesem Hintergrund war es bisher folgerichtig, dass Sicherheitskultur nur in kleinen, aber sehr konsequenten Schritten im Sinne der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung zu erreichen war. Führungsverantwortung und Linienverantwortung waren immer auch Führungsarbeit mit Zielvereinbarungsmaߟnahmen, die die Ressourcen des einzelnen Mitarbeiters berücksichtigten.

Heute hat das Projektwesen Hochkultur. In keiner der begleiteten Maߟnahmen wurde die Frage aufgeworfen, ob die gängige Art des Projektmanagements überhaupt eine geeignete Methode ist, um die Sicherheitskultur in der beabsichtigten Weise zu verbessern.

Das übliche Projektmanagement hat eigene Gesetzmäߟigkeiten und entwickelt eine eigene Kultur. Projekte sind kurzfristig (“€žSie kommen und gehen”€œ). Für eine begrenzte Zeit werden in beträchtlichem Umfang personelle Ressourcen einbezogen, die dann meistens woanders fehlen (“€žDie Leute werden von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten”€œ). Auch die Ergebnisse schlecht gelaufener Projekte können positiv kommuniziert werden (“€žIn Projekten gibt es keine Misserfolge”€œ). Die Zielsetzung ist meist sehr anspruchsvoll, und schon in den ersten operativen Sitzungen wird dann häufig klar, dass die Ziele so nicht umsetzbar sind. Das bedeutet auch Zeitverzögerungen, weil dann immer wieder auch der Betriebsrat einbezogen werden muss. Ich habe noch kein Projekt begleitet, in dem nicht immer wieder wochenlange Verzögerungen aufgetreten sind. Die Organisationsarbeit steht aufgrund der Ressourcenknappheit und -schwankungen durch betriebliche Bedingungen im Vordergrund. Masse geht vor Qualität. Meistens muss ein umfangreiches EDV-basiertes Berichtswesen betrieben werden. Kurz: Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen der Motivation, das Projekt organisatorisch halbwegs ordentlich umzusetzen, und den ursprünglichen qualitativen und inhaltlichen Zielen der Verbesserung der Sicherheitskultur.

Meistens haben die Beteiligten schon Projekterfahrung und verhalten sich vorbeugend zurückhaltend (“€žmachen Projektbusiness wie üblich, auch dieses Projekt ist irgendwann zu Ende”€œ).

Die Linienverantwortlichen sind bei Projekten weit weniger involviert, als bei der klassischen Organisationsentwicklungsmethode. Denn in den meisten Projekten gibt es eine laterale Führungsstruktur. Stabsleute oder Mitarbeiter aus anderen Abteilungen, häufig im Six Sigma-Projektmanagement qualifizierte, leiten die Projekte. Der Betriebsleiter muss nur den Auftrag unterschreiben, alles andere wird von Dritten, die die Ressourcen zur Verfügung haben, gesteuert (“€žDie Gürtel haben hier das Sagen”€œ; Anmerkung: Qualifizierungsstufen im Six Sigma System werden ähnlich wie in den Kampfsportarten mit verschieden farbigen Gürteln ausgezeichnet).

Immer hängt eine nicht Ziel führende Rivalität im Raum: Linienvorgesetzte bezweifeln, dass die Projektleiter in der Lage sein werden, die Aufgabe zu bewältigen, die Projektleiter beklagen sich über mangelndes Engagement der Verantwortlichen.

Um wieder auf die ߜberschrift des Beitrages zu kommen: Vorgesetzte können sich also waschen lassen, ohne so richtig nass zu werden. Die wenigsten begreifen, dass sie damit ihre Führungsrolle unterminieren und der Sicherheitskultur einen Bärendienst erweisen. Ganz besonders deutlich wird dies, wenn Verantwortliche schon in den vom Projektleiter organisierten Informationsveranstaltungen mitten in den Reihen der Mitarbeiter sitzen und von dort aus die Praktikabilität der geplanten Maߟnahmen in Zweifel ziehen. (“€žWir werden sehen, ob sich Sicherheitsziele so umsetzen lassen”€œ).

Spätestens nach diesen Ausführungen sollte man sich noch mal rückbesinnen auf die klassischen Methoden der Organisationsentwicklung: Was könnte man dort alles mit den Ressourcen tun, die nur darauf verwandt werden müssen, ein Projekt organisatorisch am Leben zu erhalten?

Spannungsfeld Freiwilligkeit
Die meisten Firmen haben Leitlinien, in denen Sicherheit vorrangig oder zumindest gleichwertig mit Qualität in der Produktion ist. Während kein Betrieb es der Freiwilligkeit der Mitarbeiter überlassen würde, ob und auf welchem Niveau sie Qualität produzieren, wird zu Beginn aller begleiteten Projekte die Freiwilligkeit der Teilnahme ausdrücklich betont. Auch die Gruppenvorgaben werden in der Regel als gemeinsam erarbeitete Wunschvorstellung formuliert. Passen Freiwilligkeit bei der Teilnahme an solchen Projekten und der Anspruch die Sicherheitskultur zu verbessern überhaupt zusammen?

Da das betont eingeräumte Freiwilligkeitsprinzip im betrieblichen Produktionsalltag auf Mitarbeiter ungewöhnlich wirkt, werden auch die Grenzen getestet. Als Folge kommen früher oder später Bitten um engagiertere Beteiligung, werden Personen oder Abteilungen mit viel Aktivitäten öffentlich belohnt, werden Gruppenvorgaben eingeführt, wird von einigen Bereichen die Mitwirkung in die Zielvereinbarung aufgenommen etc. Zwar wird nicht für jeden einzelnen irgendwann eine bestimmte Zahl von Beobachtungen, Feedbacks und Eintragungen in das Berichtswesen zwingend verlangt, aber zumindest über Vorgaben an Abteilungen wird Druck auf jeden Einzelnen ausgeübt. Von Freiwilligkeit kann dann nicht mehr gesprochen werden. Und in Bezug auf die Sicherheitskultur kann es einen Vertrauensbruch geben, der sich dann negativ im Projektberichtswesen niederschlagen kann.

Spannungsfeld Anonymität
Genau so wenig reflektiert wird die Angemessenheit der Zusicherung von Anonymität für Projekte zur Verbesserung der Sicherheitskultur. Während in Bezug auf die Qualitätsprüfungen von Produkten immer bekannt ist, wer dafür verantwortlich ist, wird hier bei der Statistik und Berichterstattung vollständige Anonymität zugesichert. Abgesehen davon, dass das häufig nicht stimmt, weil wegen der wenigen Personen in einer Schicht oder Abteilung und der automatischen Generierung der Uhrzeit bei elektronischen Aufzeichnungen Mitarbeiter identifiziert werden können.

Ein weiteres Problem ist, dass bei anonymer Handhabung nur sehr schlecht verhältnispräventive Maߟnahmen aus den Ergebnissen abgeleitet werden können. Dafür müssten dann sehr viel genauere Angaben vorliegen, als dies in der anonymisierten Form möglich ist. Nach langen misstrauensgeleiteten Diskussionen wird dann in der Regel auf die persönliche Eingabe in das EDV-System verzichtet. Eine Person des Vertrauens wird gewählt, die nach einer Sammelzeit von meistens etwa einer Woche die auf Papier ausgefüllten Angaben in den Computer eingibt, mit Datum dieser Sammeleintragung und ohne Arbeitsplatzangabe.

“€žJe mehr in einem Projekt um Anonymität gerungen wird, desto schlechter ist die vorhandene gelebte Sicherheitskultur.”€œ

Oder es wird eine Vertrauensperson gewählt, die allein berechtigt ist, die für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen nötigen Detail-Informationen zu erhalten und in Planungen für die Veränderung von Arbeitsbedingungen stellvertretend anonym einzubringen.

Meistens bleibt dieses Misstrauen die gesamte Projektzeit über bestehen und drückt sich in entsprechenden Verhaltensweisen aus. Beobachter verhalten sich in Bezug auf kritische Verhaltensweisen sehr zurückhaltend, denn sie wollen niemanden “€ždenunzieren”€œ. Auch befürchten sie wegen der Vorgabe, sich gegenseitig zu beobachten, selbst denunziert zu werden.

Stark vereinfacht kann aus psychologischer Sicht festgehalten werden: Je mehr in einem Projekt um Anonymität gerungen wird, desto schlechter ist die vorhandene gelebte Sicherheitskultur.

Spannungsfeld Dokumentation
In allen Projekten wurden relativ differenzierte EDV-basierte Dokumentationssysteme erarbeitet. Eingaben konnten auf Formularen, direkt in einen PC oder indirekt über eine Vertrauensperson gemacht werden.

Es wurde schon beschrieben, dass eine miߟtrauensgesteuerte Sicherheitskultur das Eingabeverhalten sehr stark verfälschen kann, weil keiner “€žsich einen Strick”€œ mit seiner Angabe drehen möchte. An verschiedenen Stellen wurde die Befürchtung geäuߟert, dass das Management bei kritischen Ereignissen oder Unfällen nachsehen könne, ob hier eine Beobachtung und ein korrigierendes Feedback stattgefunden hatte und darauf aufbauend Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorwerfen könne.

Vor Ort angewandte psychologisch fundierte Achtsamkeitsprozeduren, zum Beispiel mentale “€žStopp-Programme”€œ bei der Arbeitsaufnahme, sind zahlreich, sehr kurz und sehr persönlich. Die schriftliche Fixierung von Inhalten in Sprache, sowohl als Checkliste als auch in freier Formulierung, ist schwierig, insbesondere für einen angelernten Beschäftigten und kostet ein Mehrfaches der Zeit, die für den eigentlichen Achtsamkeitsvorgang nötig ist. In den Beobachtertrainings wurde viel Zeit darauf verwandt, die für die Beobachtungen richtige Kategorie zu finden oder, wenn nichts richtig passte, vorhandene Kategorien umzuarbeiten.

Es stellt sich somit grundsätzlich die Frage, ob ein differenziertes Berichtswesen eine angemessene Methode darstellt. Ein deutlicher Anteil der Betroffenen argwöhnte, ob es sich nicht doch eher um ein Kontroll-Instrument handele. Häufig wird geäuߟert, dass es bei der Berichterstattung in erster Linie um die Zahl der Einzelaktivitäten gehe, weniger um die jeweiligen Inhalte der Aufzeichnung. Statistiken darüber, wie sich über die Zeit hinweg die Tragequote von persönlicher Schutzausrüstung verbessert, sind sicherlich wichtig, aber nachrangig gegenüber einer qualitativen und prioritätsorientierten Feed back-Methodik in Kleingruppenform.

Hier kann man sich wieder fragen, wie viel Ressourcen verbraucht wurden, um das Projekt am laufen zu halten und wie viele Ziel führende Gespräche Vorgesetzte mit ihren Mitarbeitern stattdessen hätten führen können.

Ausblick: Stellenwert psychologischer Expertise bei innerbetrieblichen Aktivitäten
ߜblicherweise wird sich eine Firma bei Steuerfragen, dem Bau eines Gebäudes, medizinischen Untersuchungen und vielem anderen durch externe Experten vor Ort unterstützen lassen. Kaum ein betrieblicher Entscheidungsträger käme auf die Idee zu fordern, dass man ihm stattdessen schriftliche Ausführungen in so einfacher Weise liefern müsse, damit die anstehenden Aufgaben völlig eigenständig durch Laien erfolgreich bewältigt werden können.

Nur bei der Disziplin der Arbeitspsychologie, insbesondere der Sicherheits- und Gesundheitspsychologie, scheint man eine Ausnahme zu sehen. Völlig selbstverständlich wird in den Betrieben versucht, auch schwierige psychologische Problemstellungen eigenständig anzupacken. Von Arbeitgeberseite wird dieses Selbstverständnis verstärkt, indem zum Beispiel in Bezug auf psychologische Gefährdungsbeurteilungen zunächst darauf verwiesen wird, dass der Arbeitgeber Adressat des Arbeitsschutzgesetzes ist. Darauf aufbauend wird dann gefordert, dass psychologische Handlungsanforderungen an den Arbeitgeber so aufbereitet werden müssen, dass im Betrieb ein eigenständiger Umgang ohne Einbezug der Expertise von Fachpsychologen vor Ort möglich wird. Auch der Gesetzgeber vertritt diese Auffassung. Trotz aller Proteste verhinderte er den Einfluss der Psychologen im Arbeitssicherheitsgesetz von 1973. Die arbeitspsychologische Betreuung wird bis heute in die Verantwortung von Betriebsärzten und technisch qualifizierten Sicherheitsfachkräften gegeben, wohl wissend, dass diese mit ihrer Qualifikation und ihren Einsatzzeiten diese Aufgabe nur ungenügend ausfüllen können.

Wenn dann etwas nicht klappt, sind die Psychologen schuld, weil sie es nicht leisten können oder wollen, psychologische Sachverhalte in einfache, für jeden Laien verständliche und rezeptartige Handlungsanweisungen zu transferieren. Das ist vor allem auch deshalb bemerkenswert, weil es hier im Vergleich zu technischer Expertise nicht um messbare naturwissenschaftliche Faktenberatung, sondern um anspruchsvolle Prozessberatung geht. Auch ein kenntnisreiches rezeptartiges Herangehen kann nicht die notwendige flexible Handlungskompetenz im Umgang mit der sensiblen und komplexen Dynamik einer Sicherheitskultur ersetzen, die Fachpsychologen üblicherweise mitbringen.

Dass überhaupt ein Psychologe vertrauensvoll beratend in die beschriebenen Projekte einbezogen wurde, hat weniger mit dem Bewusstsein zu tun, dass die psychologische Expertise bei dieser Art von Projekten zwingend “€ždazu gekauft”€œ werden muss. Alle Projekte wären auch so realisiert worden. Es hat vielmehr damit zu tun, dass im Dienstleistungsangebot der BG Chemie fachpsychologische Beratung leicht und unentgeltlich abgerufen werden kann und sich herumgesprochen hat, dass es zumindest nicht schadet, dies in Anspruch zu nehmen. Und wenn dann die ersten Hemmschwellen überwunden waren, gab es in allen Fällen eine sehr konstruktive Zusammenarbeit. Diese Firmen werden künftig zumindest sehr viel reflektierter an eine solche Aufgabe herangehen.

Inzwischen haben fast alle Unfallversicherungsverträger eigene Psychologen. Diese betrachten die häufig vorhandene Barriere seitens der Mitgliedsbetriebe, Fachpsychologen in die betriebliche Präventionsarbeit einzubeziehen, als besondere Herausforderung. In Arbeitskreisen und Workshops arbeiten sie engagiert daran, mit geeigneten Konzepten, Beratungs- und Qualifizierungsangeboten das Umsetzungsdefizit zu verringern. Dies geschieht in interdisziplinärer Zusammenarbeit, allerdings unter der Voraussetzung, dass “€žAugenhöhe”€œ gegeben ist. Präventionsarbeit kann nur erfolgreich sein, wenn andere Professionen, wie die Arbeitsmedizin oder Sicherheitstechnik sich nicht als Schlüsselposition bei der Umsetzung arbeits- und organisationspsychologischer Erkenntnisse zur menschengerechten Gestaltung von Arbeitsplätzen begreifen und Psychologie als Hilfswissenschaft wahrnehmen. Es ist auch nicht besonders Ziel führend, wenn arbeitsmedizinische Verbände von Staat, Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite aufgefordert werden sich den psychologischen Fragen verstärkt zu stellen, und sich die einschlägigen Kompetenzen anzueignen, wenn die vorhandene, aber nicht abgerufene Expertise bei den Fachpsychologen noch nicht mal erwähnt wird.

Genau so wichtig ist es, dass man im Hinblick auf psychologische Fragestellungen die notwendigen Mindestkompetenzen der innerbetrieblichen Akteure definiert und maߟgeschneiderte zielgruppenorientierte Qualifizierungsmaߟnahmen erarbeitet und anbietet. Solche Projekte sind zur Zeit schwierig zu etablieren. Als richtungweisend könnten hierzu die Arbeiten in einem Arbeitskreis der Kommission für Anlagensicherheit sein. Es soll ein KAS-Leitfaden “€žKompetenzen bezüglich menschlicher Faktoren im Rahmen der Anlagensicherheit”€œ erarbeitet werden, der unter anderem psychologische Kompetenzfelder und erforderliche Kompetenzniveaus von Akteuren in den Betrieben konkretisiert. Darauf aufbauend sollen Vorschläge gemacht werden für (betriebliche) Fort- und Weiterbildungsmaߟnahmen und deren Qualitätssicherung, die eine Orientierung für die Praxis liefern.

Literatur

Bördlein C (2009). Faktor Mensch in der Arbeitssicherheit “€“ BBS. Berlin: Erich Schmidt Verlag

Burkardt F (1981). Information und Motivation zur Arbeitssicherheit. Wiesbaden: Universum Verlag

Ludborzs B (2007). Erfahrungen mit “€žbehavioral based programs”€œ. In: Bärenz P, Metz A-M & Rothe H-J (Hrsg). Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit “€“ Arbeitsschutz, Gesundheit und Wirtschaftlichkeit. Kröning: Asanger Verlag

Ludborzs B (2008). Tätigkeit von Sicherheits- und Gesundheitspsychologen in der Unfallversicherung. In: Schwennen C, Elke G, Ludborzs B, Nold H, Rohn S, Schreiber-Costa S & Zimolong B (Hrsg). Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit: Perspektiven “€“ Visionen. Kröning: Asanger Verlag

Ludborzs B (2009). Psychologische Analyse, Intervention und Gestaltung “€“ Aufgabe für Fachpsychologen oder Spielwiese für Laien? In: Ludborzs B & Nold H (Hrsg). Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit: Entwicklungen und Visionen 1980 “€“ 2008 “€“ 2020. Kröning: Asanger Verlag

Ludborzs B & Rohn S (in Arbeit). Verhaltensbasierte Sicherheitsprogramme “€“ Psychologisches Wissen für die Einführung und Steuerung. Wiesbaden: Universum Verlag

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