Psyche und Arbeit

Psyche? – Ja gerne![1]

In letzter Zeit tritt verstärkt die Psyche des Menschen auch in den Horizont des Arbeitsschutzes. Forderungen nach entsprechenden Gefährdungsbeurteilungen sind sogar unlängst gesetzlich festgeschrieben worden. Damit wird regulatorisch festgelegt, was eine Selbstverständlichkeit ist, aber aufgrund eines schiefen Menschenbildes verloren gegangen ist.

Landauf, landab erscheinen in diversen Medien immer wieder Berichte zu psychischen Erkrankungen oder Belastungen im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit. Ohne dabei näher zu bedenken, dass die psychische Situation eines Menschen ein komplexes Gewebe aus individuellen Problemen und Eigenschaften, beruflichen Belastungen sowie gesellschaftlichen Trends und Rahmenbedingungen ist [2], wird oft monokausal die Arbeit als auslösendes Agens angeprangert.

Dabei wird in den meisten Fällen die psychisch stabilisierende Rolle von Arbeit nicht näher diskutiert und der Eindruck erweckt, es handele sich um ein neues Phänomen, das im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung gesondert zu betrachten und der Arbeitsschutz in dieser Hinsicht zu vervollständigen ist.

Tatsächlich sind arbeitsbedingte psychische Belastungen nicht neu: Sie sind mindestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts nachweisbar und aus alten Arbeitsbeschreibungen rekonstruierbar [3]. Darüber hinaus war allen Fachleuten bereits bei der Einführung des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) 1996 klar, dass es sich auch auf psychische Belastungen bezieht, auch wenn diese nicht explizit erwähnt wurden. Insofern ist die Ergänzung des ArbSchG von 2013 nur die als notwendig erachtete explizite Klarstellung eines an sich schon bekannten Tatbestandes. Es handelte sich nicht um eine fachliche Ausweitung des Gesetzes.

Der Autor selbst hat bereits 1997 seine erste Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen in einem Pharmaunternehmen durchgeführt und dabei auf noch heute gültige Methoden und ausreichendes Hilfsmaterial seitens der Berufsgenossenschaften zurückgegriffen. Bereits vor 50 Jahren, 1964, widmete ein Lehrbuch mit dem heute etwas merkwürdig klingenden Titel „Der vorzeitig verbrauchte Mensch“ [4] ein ganzes Kapitel diesem Thema. Darin wurden alle wesentlichen Probleme angesprochen. Daher sind – pointiert ausgedrückt – die heutigen Diskussionen der hilflose Versuch, die Ignoranz der letzten 20 Jahre zu kaschieren oder zu entschuldigen. Bereits damals konnte man, wenn man wollte. Aber man wollte nicht.

Aber warum wollte man nicht? Einen Grund kann man in der geistesgeschichtlichen Entwicklung der letzten Jahrhunderte ausmachen und wir müssen daher einen Exkurs machen, der in einem Heft über Arbeitsschutz eher ungewöhnlich ist.

Schiefes Menschenbild
„Psyche“ bezeichnet im Altgriechischen den „Atem“, den „Lebenshauch“, wird aber auch als Kennzeichnung des ganzen Menschen verstanden. Ähnlich weit ist der Begriff „nefesch“ im Hebräischen, der ebenfalls „Hauch“, aber eben auch „Geist“, „belebt“, „beseelt“ bedeuten kann.

In beiden Kulturen wird keine Unterscheidung zwischen Körper, lebendigem Menschen und Geist getroffen. Deutlich wird dies in Mythen oder religiösen Schriften, wie z. B. dem Alten Testament. Im Schöpfungsbericht schafft Gott den Menschen körperlich aus Lehm und haucht ihm seinen Geist ein. Erst dadurch wird er ein „hayya nefesch“, ein beseeltes Wesen. Allerdings nicht in dem Sinne, dass beide – Materie und Geist – im Menschen nebeneinander koexistieren, sondern aus der Verbindung entsteht etwas Neues, etwas zuvor nicht Dagewesenes, das eine eigene Qualität besitzt und nicht in seine Elemente zerlegbar ist.

In ähnlicher Weise ist nur die Einheit von Männlichem und Weiblichem der „ganze“ Mensch (Abbildung 1). Gott schuf den Menschen (Einzahl!) als Mann und Frau. So wie eine Münze zwei Seiten hat, aber ein Ganzes ist. Das jüdisch-christliche Menschenbild geht also von einer untrennbaren Einheit von Körper und Geist und von einer Einheit männlicher und weiblicher Eigenschaften aus. Ähnliche Vorstellungen finden sich im alten Ägypten, in den antiken vorderorientalischen Kulturen und in Griechenland.

Diese religiös-mythischen Weltbilder sind aber keine ausgedachten Konstrukte, sondern beruhen auf Beobachtungen von Generationen und haben „psychologische“ Lebenserfahrungen in sich aufgenommen. Es sind wissenschaftliche Erkenntnisse, denn die Kernelemente wissenschaftlichen Arbeitens – Erfahrung, Theoriebildung und Ableitung neuer Thesen und Weltsichten – waren schon damals gegeben. Allerdings wurden sie in einer Bildersprache dargestellt, die uns heute fremd ist.

Diese grundsätzliche Einheit wurde aber spätestens in der Renaissance zerbrochen. René Descartes unterschied 1644 die geistige „res cogitans“ und die materielle „res extensa“ als gegensätzliche Pole des Menschen, die streng voneinander getrennt zu betrachten sind. Ersterer zeichnet den Menschen aus, den zweiten hat er mit den Tieren gemeinsam.

Diese Aufteilung wird im Zeitalter der Aufklärung und der zunehmenden Erklärungskraft einer mechanistisch orientierten Naturwissenschaft noch verschärft und endet letztendlich in einem alles umgreifenden Materialismus, der sowohl körperliche als auch geistige Eigenschaften als aus der Materie erklärbar darstellt.

Ein irgendwie gearteter „ätherischer“ oder gar göttlicher Geist wird nicht mehr benötigt [5].

Allerdings passiert dabei etwas ganz Entscheidendes: Die bei Descartes immer-hin noch geschlossene geistige Welt der „res cogitans“ wird gewissermaßen geteilt (Abbildung 2). Nur das Denken, die „Ratio“ wird als der damaligen „modernen“ Welt adäquat angesehen. Das Irrationale, Dunkle, der Aberglaube und Glaube, das geistig Fremdartige und eben nicht einfach mechanistisch Erklärbare wird beiseitegeschoben und passt nicht in das helle, rationalistische Weltbild einer idealisierenden Menschensicht.

Und genau hier liegt zumindest eines unserer Probleme: Alles Psychische wurde in den Bereich des Irrationalen und Fremdartigen „abgeschoben“.

Psychisch auffällige Menschen hat es zu allen Zeiten gegeben. Alte Texte liefern entsprechende Hinweise und das gängige Erklärungsmodell waren Dämonen, die den Menschen bewohnten und seine gotthafte Ebenbildlichkeit verdunkelten oder störten. Weise Menschen mussten diesen Dämon austreiben – dann war seine Gottesebenbildlichkeit wieder hergestellt, alles war gut.

Das änderte sich im Laufe des Mittelalters, als solche Auffälligen im wahrsten Sinne „verteufelt“ und damit mit dem Gegenspieler Gottes in Verbindung gebracht wurden. Im Laufe der Zeiten wurden entsprechende Menschen an den Rand gedrängt, mit Dämonen und Hexen oder gar einer Repräsentation des Teufels gleichgesetzt. Sie waren nicht mehr Ebenbilder Gottes, sondern „Helfer“ seines Gegenspielers und die Praktiken der Exorzisten, der Teufelsaustreiber, waren hinreichend häufig erfolglos, um das schon bestehende Urteil zu bestätigen. Der Betroffene war für immer und ewig verdammt.

Diese Schieflage hat die Aufklärung nicht beseitigt, wahrscheinlich hätte sie es auch nicht gekonnt. Das führte aber dazu, dass psychisch kranke Menschen und dann alles was mit „Psyche“ zu tun hat, negativ konnotiert wurde, als etwas, mit dem man nichts zu tun haben wollte. Auch die frühe Psychologie und die Psychoanalyse haben es nicht vermocht, dieses Bild zu brechen – und sie haben sicher durch viele merkwürdige Thesen auch dazu beigetragen, bestehende Vorurteile zu verfestigen.

Das Ergebnis ist letztendlich, dass wir heute locker über unsere Potenz- und Darmprobleme via Twitter und Facebook plaudern, wenn es aber an die Psyche geht, merkwürdig verschwiegen und ungehalten werden. Ein schiefes Menschenbild, das körperliche Dinge als etwas Natürliches, aber Psyche als etwas Abzuwehrendes ansieht und auf krankhafte Veränderungen reduziert, mit dem man nichts zu tun haben will und das einem selbst nicht widerfahren darf.

Die immer noch massive Stigmatisierung psychisch kranker Menschen [6] und die allgemeine Scheu, sich damit zu befassen, haben u. a. hierin ihre Gründe und dies ist im Arbeitsschutz genauso nachwirkend wie in anderen Lebensbereichen. So reagieren im betrieblichen Kontext die einen mit „Wir sind doch nicht verrückt“ und die anderen mit „Mein Unternehmen ist kein Irrenhaus“.

Das vollständige Bild
Die moderne Forschung hat diese Sicht schon lange überwunden. Körper und Psyche sind eine Einheit und das Wohlergehen des einen hängt auch von dem anderen ab (Abbildung 3). Dem Körper liegt eine bestimmte Physiologie zugrunde, deren Störung eine Krankheit nach sich ziehen kann. Ebenso haben psychische Prozesse gewissermaßen einen „Normalbetrieb“, dessen Störung eine Erkrankung oder Auffälligkeit sein kann. Genauso wie bei körperlichen Beschwerden. Nicht mehr, nicht weniger und eher die seltene Ausnahme als die Regel.

Das Nervensystem als materielle Grundlage psychischer Reaktionen und die übrigen Organe kooperieren eng miteinander und eine Trennung beider Bereiche ist nicht auszumachen und künstlich. Depressionen z. B. können sowohl aufgrund rein psychischer Einwirkungen als auch aufgrund rein organischer Erkrankungen entstehen. Was jedoch den Fachleuten klar sein sollte, hat sich bis zum „Normalbürger“ häufig noch nicht rumgesprochen und in nicht wenigen Fällen drängt sich der Verdacht auf, dass diese Trennung aus eigennützigen Gründen aufrechterhalten wird.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass eine psychische Belastung zunächst nichts Negatives zu sein braucht. Belastungen im Verständnis des Arbeitsschutzes sind neutrale Anforderungen, die an einen Arbeitnehmer herangetragen werden. Erst wenn diese im Übermaß auftreten und/oder die jeweilige Person nicht über genügende Unterstützung von außen oder aus sich heraus verfügt, kommt es zu negativen Beanspruchungen und Beanspruchungsfolgen, die dann gelegentlich in einer Krankheit münden. Auf der anderen Seite können eine ausreichende Unterstützung und das rechte Maß an Belastung positive Beanspruchungsfolgen haben: Erfolgserlebnisse, Hebung des Selbstwertgefühls, Anerkennung durch Vorgesetzte und Kollegen etc.

Der negative „Beigeschmack“ psychischer Belastungen ist nicht gerechtfertigt. Im Körperlichen ist das jedem klar: Wir gehen ins Sportstudio, um uns systematisch zu belasten und dadurch für Herausforderungen zu trainieren. Wenn wir es aber übertreiben, kann es in einem Muskelriss enden. Belastung ist gut, dauerhafte Überbelastung ist schlecht.

Ein Arbeitsschutzthema
Es ist klar, dass die Vertreter des Arbeitsschutzes aus diversen Motiven psychische Belastungen nicht hinreichend beachtet haben. Es ist ebenso klar, dass dies geändert werden muss. Das heißt aber nicht, dass das Arbeitsschutzsystem überfordert wäre und grundsätzlich zusätzliche Fachleute in Parallelprozessen die Psyche „aufarbeiten“ müssten.

Dabei ist noch einmal klar und deutlich festzuhalten: Bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen geht es nicht um die psychische Situation des Einzelnen, sondern um die Verbesserung von Arbeitssystemen, die nach allgemein gültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet sind, unnötige psychische Belastungen hervorzubringen oder notwendige Belastungen so zu verstärken, dass sie in negativen Beanspruchungsfolgen münden. Dementsprechend beginnt die Optimierung psychischer Belastungen bereits im technischen Arbeitsschutz, denn sichere und regelmäßig geprüfte Arbeitsmittel vermitteln auch ein Gefühl von Sicherheit. Dies aber ist ein notwendiges Grundbedürfnis psychischer Gesundheit. Sinnvolle Unterweisungen und Schulungen eröffnen Handlungsoptionen, befriedigen das Informationsbedürfnis der Arbeitnehmer, erhöhen das Kontrollvermögen und vermitteln den Arbeitnehmern das Gefühl, dass ihre Sicherheit und Gesundheit ernst genommen wird. [7]. Ergonomisch gestaltete Arbeitsabläufe und Arbeitsmittel nehmen die Bedürfnisse des Menschen auf und verwandeln sie in ein optimales Angebot an den Mitarbeiter.

Arbeitsschutz in seiner jetzigen Form sichert daher die körperliche Gesundheit arbeitender Menschen und trägt allein dadurch zu einer Reduktion psychischer Belastungen und Beanspruchungen bei. Er fördert aber auch die psychische Gesundheit durch diverse unterstützende Prozesse, die sich nicht nur im rein Körperlichen auswirken. Selbstverständlich wird hier vorausgesetzt, dass die bestehenden Möglichkeiten des Arbeitsschutzes auch ausgeschöpft werden.

Daher ist die eher negative Einschätzung der Fachkräfte für Arbeitssicherheit in der sog. „SiFa-Langzeitstudie“ [8] in Bezug auf die psychischen Belastungen nicht gerechtfertigt. Sie hängt nämlich davon ab, wie man „psychisch“ definiert bzw. welche Vorstellungen über Psyche kursieren. Nur weil Fachkräfte für Arbeitssicherheit nicht wissen, dass sie zumindest indirekt zur psychischen Gesundheit beitragen, heißt das noch lange nicht, dass sie es nicht tun. Insofern sind einerseits Anfragen an die kategorialen Vorgaben der Studie zu stellen, andererseits werden die Mängel der bisherigen Ausbildungsgänge deutlich.

Allerdings ist an dieser Stelle zu differenzieren. Der gelebte Arbeitsschutz tritt in erster Linie als „Reparatursystem“ auf, denn in den meisten Fällen werden Gefährdungsbeurteilungen erst weit nach Inbetriebnahme eines Arbeitssystems ausgeführt. Das hat zur Folge, dass nicht optimal gestaltete Arbeit im Nachhinein nur bedingt verbessert werden kann. Deswegen ist eine weitaus stärkere Berücksichtigung ergonomischer Forschung bei der Planung zukünftiger oder der Nachrüstung bestehender Arbeitssysteme anzustreben. Im Vergleich zum eher punktuell gefährdungsbezogenen Arbeitsschutz, versteht sich die Ergonomie als eine Systemwissenschaft, die physikalisch-technische Lösungen mit arbeitspsychologischen Erkenntnissen und medizinischem Wissen verbindet und dabei den Blick auf den ganzen Menschen – also auf die Einheit aus Körper und Geist – richtet, sich also nicht auf eine reine „Schädigungslosigkeit“ beschränkt.

Ergonomisch gut gestaltete Arbeitssysteme „bedienen“ daher sowohl den Körper als auch den Geist. Ergonomie ist die Wahrnehmung psychischer und körperlicher Bedürfnisse des Menschen und deren Übersetzung in technisch-organisatorische Möglichkeiten der Bedürfniserfüllung.

Hier leisten Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Sicherheitsingenieure und professionelle Ergonomen schon seit langem hervorragende Arbeit, allerdings ist die Eigenwahrnehmung in diesem Punkt nicht ausreichend selbstbewusst.

Schnittstelle zum BGM
Mit der Forcierung der Debatte um die psychischen Belastungen traten plötzlich diverse „Berater“ auf, die sich dieses Themas bemächtigten. Neben ehrlichem Bestreben einer Verbesserung der Arbeitssituation wirkte dabei auch nicht selten der merkantile Aspekt eines sich öffnenden Marktes motivierend. Und so konkurrieren heute Krankenkassen mit Psychotherapeuten, diese wieder mit Betrieblichen Gesundheitsmanagern, freien Beratern und sog. „Ergonomieberatern“, die die richtige Einstellung eines Schreibtischstuhls als Ergonomie missverstehen. Relativ einig sind sich diese Professionen häufig vor allem darin, dass sie die Beurteilung psychischer Belastungen aus dem allgemeinen Arbeitsschutzkontext herauslösen und in separaten Prozessen bearbeiten wollen, wobei sie die klassischen Arbeitsschützer nicht für ausreichend qualifiziert halten. Leider geben ihnen viele Arbeitsschützer voreilig und fälschlich Recht.

Ein sich dabei konsolidierender Trend geht dahin, psychische Belastungen im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) zu bearbeiten. Dies kann nützlich sein. Aber nur wenn folgende Aspekte immer mitberücksichtigt sind:

· Psychische Belastungen sind ein Arbeitsschutzthema, das dafür zuständige Gremium der Arbeitsschutzausschuss (ASA). Die Integration psychischer Betrachtungen in ein BGM ist nur dann sinnvoll, wenn die komplette Thematik des Arbeitsschutzes auch Thema des BGM ist. Das beste BGM nützt gar nichts, wenn ein Druckkessel platzt und ggf. viele Tote und Verletzte die Folge sind. Normativ ist dies in der DIN Spec 91020 [9] bereits vorgesehen, wenn die „Einbindung von Arbeitsschutz (Arbeitsmedizin bzw. Arbeitssicherheit) in Prozesse des Betrieblichen Gesundheitsmanagements“ gefordert wird.

· Mitglieder des ASA müssen daher in den BGM-Prozess integriert werden, denn Lösungen lassen sich nur zusammen mit den Arbeitsschutzexperten erarbeiten. Den meisten Akteuren im BGM und auch vielen psycho-sozial ausgebildeten Kräften fehlen teilweise basale Grundkenntnisse im Arbeitsschutz. Es ist ein gemeinsames Vorgehen erforderlich, um die jeweiligen professionsbedingten Sichten und Defizite auszugleichen (Abbildung 4).

· Die Ergebnisse aus vielen gängigen Methoden zur Erfassung psychischer Belastungen benötigen eine Objektivierung durch Fachkräfte für Arbeitssicherheit/Sicherheitsingenieure/Betriebsärzte. Insbesondere Mitarbeiterbefragungen liefern subjektiv gefärbte Aussagen, denn die Mitarbeiter werden in einem bereits beanspruchten Zustand befragt. Die realen Gegebenheiten werden dadurch vor den eigenen Erfahrungen gespiegelt und verzerrt dargestellt. Dies ist zwar wichtig, um ein Beanspruchungsprofil zu erheben, benötigt aber die ergänzende Sicht von Arbeitsschutzfachleuten, um das Profil ggf. auf veränderbare Arbeitssituationen zurückführen zu können (Abbildung 5).

· Die Integration psychischer Belastungen in ein BGM ist nicht ohne Gefahren. Insbesondere von Arbeitgebervertretern wird ein BGM als freiwilliges Engagement aufgefasst, dem der verpflichtend vorgeschriebene Arbeitsschutz gegenübersteht [10]. Das Herauslösen psychischer Belastungen aus diesen „Pflichtbereich“ und sein Transfer in ein freiwilliges Engagement ist daher streng genommen nicht rechtskonform. Oder anders: Werden im Rahmen eines BGM die staatlich geforderten Aufgaben bearbeitet, kann es nicht mehr völlig freiwillig sein.

· Wichtig für die Betriebe ist es daher, sich klar zu machen, was sie bearbeiten wollen: Das Arbeitsschutzgesetz fordert verpflichtend eine Beurteilung der psychischen Belastungen, also der objektiv vorhandenen Einwirkungen. Es fordert nicht, Beanspruchungen zu beurteilen. Dieses Feld gehört daher – wie bereits erwähnt – den Arbeitsschützern. Auf der anderen Seite kann es sehr sinnvoll sein, freiwillig auch die Beanspruchungen näher zu beleuchten. Dies ist primär die Aufgabe anderer Professionen, die aber immer die Unterstützung der Arbeitsschützer benötigen.

Ein großes Problem
Alle technisch-organisatorischen Systemverbesserungen laufen aber de facto ins Leere, wenn Menschen nur als Sache und Betriebskapital angesehen werden. Sollten die Erhebungen der Münchener Personalberatung Rochus Mummert allgemein zutreffen [11], so herrschen

· in 20 % der Firmen eine „Kultur der Angst“

· in 40 % der Unternehmen eine „Kultur allgemeiner Unsicherheit“ sowie

· in 47 % ein Mangel an Wertschätzung durch Vorgesetzte.

Psychische Belastungen entstehen nicht nur aus dem eigentlichen Arbeitssystem, sondern werden in entscheidender Weise durch die sozialen Komponenten mitgeprägt. Dabei kommt den Führungskräften bzw. dem jeweiligen Management eine Schlüsselposition zu. Diese können sowohl einen Belastungsfaktor als auch eine belastungsreduzierende Ressource darstellen. Außerdem verfügen in der Regel nur sie über die Möglichkeiten, arbeitsbedingte Belastungen zurückzudrängen.

Sie stehen somit in der Verantwortung und wenn es schief läuft, dann darf es nicht akzeptiert werden, wenn die Schuld auf andere oder das Arbeitssystem abgeschoben werden soll. Führungskräfte sind Teil des Arbeitssystems – und dazu noch eines der wichtigsten. Treten also massive psychische Beanspruchungsfolgen auf, muss das Management seine eigene Rolle dabei reflektieren. Dies dürfen alle Arbeitnehmer und ihre Interessenvertreter einfordern.

Zusammenfassung
· Körper und Psyche sind eine Einheit, körperliches und seelisches Wohlergehen sind miteinander gekoppelt. Eine getrennte Sichtweise hat rein historische, keine wissenschaftlichen Hintergründe. Sorge um die körperliche Sicherheit und Integrität ist daher gleichzeitig Pflege der Seele.

· Psychische Belastungen sind ein Arbeitsschutzthema und die „klassischen“ Akteure im Arbeitsschutz sind die ersten Ansprechpartner.

· Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Sicherheitsingenieure sollten sich ihrer dabei schon bewährten, aber häufig nicht wahrgenommenen Rolle bewusst werden. Die Hinzuziehung von Spezialisten ist aber sicher hilfreich, wenn es um rein psycho-soziale Interaktionen zwischen Menschen geht.

· Arbeitsschützer sollten keine „Angst“ vor der Beurteilung psychischer Belastungen haben. Die wesentlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen vor, entsprechende Beschreibungen und Hilfsmittel sind vorhanden.

· Eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist kein Instrument zur Erfassung personenbezogener psychischer Beanspruchungen. Es geht um das Gefährdungspotenzial des Arbeitssystems.

· Grundsätzlich ist anzustreben, dass Arbeitssysteme so konzipiert werden, dass psychische Belastungen nur in einem förderlichen Maße auftreten. Die Fachdisziplin der Ergonomie kann sich hierbei zur Leitwissenschaft im Arbeitsschutz entwickeln.

· Wir benötigen eine Kultur der Abwehr unethischen Verhaltens gegenüber Mitarbeitern in einem Betrieb. Das gilt für alle Hierarchieebenen. Arbeitsschutz darf nicht zum Feigenblatt schlechten Führungsstils verkommen.

Anmerkungen und Quellen

1. Erweiterte und überarbeite Fassung eines Vortrages gehalten auf dem „Tag der Ergonomie“ am 30. 9. 2014 in Heidelberg

2. Windemuth, D., D. Jung & O. Petermann (2009): Das Dreiebenenmodell psychischer Belastungen im Betrieb. – In: Windemuth, D., D. Jung & O. Petermann: Praxishandbuch psychische Belastungen im Beruf, Universum Verlag, Wiesbaden, 2009, 13–15

3. z. B. Schneider, G. 2013: Psychische Belastungen – historisch gesehen.- Sicherheitsingenieur 10 / 2013, 20–26

4. Heiss, F und K. Franke 1964: Der vorzeitig verbrauchte Mensch. Verhütung von Zivilisationsschäden. – Ferbinand Enke Verlag, Stuttgart, 466 pp.

5. Auf die Frage Napoleons, wo in seiner Astronomie Gott enthalten wäre, antwortete der französische Astronom und Mathematiker Pierre-Simon Laplace selbstbewusst: „Sire, diese Hypothese benötige ich nicht“; die damalige mechanistische Weltsicht brachte Julian Offray de la Mettrie auf den Punkt: „Denken ist ein naturwissenschaftliches Phänomen, das sich aus der Materie ergibt“ und „Seele ist ein leerer Begriff“.

6. z. B. Schomerus, G. et al. 2012: Evolution of public attitudes about mental illness: a systematic review and meta-analysis. – Acta Psychiatrica Scandinavica, 125, 440–452

7. Bereits deswegen sind reine „e-Unterweisungen“ abzulehnen. Sie untergraben die Kommunikation, versperren den Weg für fachlichen und persönlichen Austausch, sind in den meisten Fällen nicht arbeitsplatzbezogen, sondern „von der Stange“ und nützen für konkrete Probleme so gut wie nichts. In der Gefahrstoffverordnung ist sinnvollerweise die Konsequenz gezogen: Nach § 14, Abs. 2, Satz 1 haben Unterweisungen mündlich zu erfolgen.

8. Trimpop, R. et al.: Sifa-Langzeitstudie. Tätigkeit und Wirksamkeit der Fachkräfte für Arbeitssicherheit. – www.sifa-langzeitstudie.de; pdf-Bericht, 844 pp

9. DIN SPEC 91020:2012–07 Betriebliches Gesundheitsmanagement, 26 pp

10. BDA, DGB, BMAS, 2013: Gemeinsame Erklärung zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt, 9 pp.

11. Rochus Mummert (2013). – Pressemeldungen unter http://www.rochusmummert.com/ – aktuelles vom 2. 7. 2013, 25. 9. 2013, 30.10. 2013. Die Studie basiert auf der Befragung von Führungskräften und 1000 bevölkerungsrepräsentativ ausgewählten Arbeitnehmern.

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