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Schläfrigkeitswarnsysteme in PKW – Darf sich der Fahrer darauf verlassen?

Fahrerschläfrigkeit ist auch in der aktuellen Fahrerlaubnis-Verordnung1 ein für den Betriebsarzt hoch relevantes Thema. Verbalisiert wird der Sachverhalt durch den Begriff der „Tagesschläfrigkeit“. Fahrerschläfrigkeit tritt aber gehäuft während der Nacht auf (Abbildung 1). Aus Sicht der Prävention sind deshalb nicht nur Erkrankungen, die eine vermehrte Schläfrigkeit verursachen können, sondern auch Arbeitszeitregimes, Freizeitverhalten und mögliche technische Maßnahmen zur Erkennung von Fahrerschläfrigkeit relevant.Anlässlich der IAA 2009 waren einige PKW-Hersteller aufgesucht und in ErgoMed über neuere technische Entwicklungen berichtet worden2. Zusammenfassend waren einige Fahrerassistenten zur Erkennung von Fahrerschläfrigkeit durchaus interessant, es fehlten aber Belege über den konkreten Nutzen in der Praxis. Dieser hängt nicht nur von der technischen Funktion einschließlich der Signalerkennung und -verarbeitung, sondern auch von der Akzeptanz und dem Verhalten des Nutzers ab. In den vergangenen Jahren war die Werbung einzelner Hersteller recht aggressiv und suggerierte beispielsweise, dass ein Spurhalteassistent selbst bei einem extrem schläfrigen Fahrer einen Unfall durch Sekundenschlaf verhindern könne2. Es ist also durchaus vorstellbar, dass sich Fahrer im Vertrauen auf ihr Fahrerassistenzsystem in schläfrigem Zustand ans Steuer gesetzt haben. Denn motivationale Faktoren und das subjektiv empfundene Risiko spielen bei der Entscheidung für oder gegen eine riskante Verhaltensweise eine große Rolle.3,4 Auch unter diesem Aspekt erschienen die von einigen Herstellern im Jahr 2009 angekündigten Auswertungen von Unfalldaten des Kraftfahrtbundesamtes von Interesse.

Auch im Jahr 2011 war es nur möglich, Gespräche mit einigen Herstellern zu führen. Die Auswahl der Firmen basierte auf früheren Erfahrungen2 sowie aktuellen Recherchen, auch im Internet. Der nachfolgende Bericht erhebt also keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Fokus standen solche Systeme, die im Hinblick auf die betriebsärztliche Tätigkeit relevant sein könnten. Für den Besuch wurde bewusst ein Pressetag ausgewählt, der den Fachjournalisten vorbehalten ist, um möglichst kompetente Ansprechpartner anzutreffen.

Ein Schläfrigkeitswarnsystem ist eines von verschiedenen Fahrerassistenzsystemen, die auch zusammen wirken und die Sicherheit erhöhen sollen. Beispielsweise gibt es Abstandstempomaten, Notbremssysteme, Spurwechsel- und Totbremsassistenten, die bei den einzelnen Herstellern teilweise unterschiedliche Namen tragen. Ein Spurwechselassistent soll natürlich nicht nur bei Fahrerschläfrigkeit, sondern auch bei Unaufmerksamkeit aus den verschiedensten Gründen helfen. Der nachfolgende Bericht fokussiert ausschließlich auf den Aspekt der Fahrerschläfrigkeit und ihrer Erkennung.

Keiner der befragten Hersteller konnte Unfallanalysen zur Effektivität der von ihm angebotenen Schläfrigkeitswarnsysteme präsentieren, die auf Daten des Kraftfahrtbundesamtes basieren.

Der ATTENTION ASSIST von Mercedes-Benz wurde im vorangegangenen Beitrag2 bereits ausführlicher vorgestellt. Zusammengefasst beruht das Fahrerassistenzsystem auf einer kontinuierlichen Analyse des Lenkradwinkels. Im Algorithmus werden zahlreiche andere Faktoren berücksichtigt. Ab einem Score von 8 auf der neunstufigen Karolinska Sleepiness Scale (KSS) soll das System eine Warnung abgeben; eine Warnung bei einem Score von 7 gilt nach der Definition des Herstellers als akzeptabel. Über aktuelle Entwicklungen informierte Herr Dr. Breuer, Senior Manager Active Safety von Mercedes-Benz. Für die Compliance der Nutzer ist die Zahl möglicher Fehlalarme von großer Bedeutung. Fehlalarme (bezogen auf die KSS) seien nur bei ca. 2% aller Fahrten zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgetreten. Die Erkennung sei konservativ eingestellt worden, um Fehlalarme möglichst zu vermeiden. Eine Kundenbefragung habe keine Hinweise auf Probleme durch falsch positive Meldungen ergeben. Nochmals angesprochen wurde die Frage der Baseline, die immer zu Fahrtbeginn gemessen wird. Die Problematik liegt auf der Hand. Denn wenn sich ein Fahrer bereits in einem schläfrigen Zustand ans Steuer setzt, ist es sehr fraglich, ob überhaupt eine adäquate Schläfrigkeitswarnung erfolgen kann.2 Auf die Speicherung der Baseline von Fahrten ausgeruhter Fahrer sei wegen der juristischen Komplexität und möglicher Sorgen der Nutzer verzichtet worden.

VW bietet seit ein paar Jahren einen Spurhalteassistenten (Lane Assist) an, der auch bei schläfrigkeitsbedingten Spurabweichungen aktiv wird und einen ungewollten Spurwechsel durch leichtes Gegenlenken verhindern soll. Neu ist ein Schläfrigkeitswarnsystem, über das Frau Holling informierte. Das System „Müdigkeitserkennung“ ist ab einer Fahrgeschwindigkeit von 65 km/h aktiv und beruht u.a. auf der Analyse der Lenkradbewegungen und der „Bediengeschwindigkeit“. Auf Nachfrage, was unter dem Begriff der Bediengeschwindigkeit konkret zu verstehen sei, wurde schriftlich geantwortet: „Unter dem Begriff Bediengeschwindigkeit verstehen wir die Schnelligkeit in den Reaktionen des Fahrers, das Fahrzeug in seinen Funktionen zu bedienen.“ Das System sei sowohl im realen Straßenverkehr als auch im Simulator validiert worden. „Referenzen“ seien Videoanalysen und die Selbsteinschätzung der Fahrer gewesen. Weitere Einzelheiten zu Art und Umfang der Validierung waren nicht zu erfahren. Der Anfang der Fahrt dient als Baseline, deren Dauer flexibel sei. VW sieht von der Speicherung von Daten ab, weil nach Herstelleransicht bei mehreren Fahrern eine zuverlässige Fahrererkennung nur mit einer Kamera wirksam möglich ist. Die Installation einer Kamera würde jedoch die Kosten erhöhen. Das System diene dazu, den Fahrer nach einer längeren Fahrt auf Ermüdungserscheinungen und die Notwendigkeit einer Pause hinzuweisen. Auch VW betont ausdrücklich, dass das System den Fahrer nicht von seiner Verantwortung entbindet. Der Hersteller war auch auf gezieltes Nachfragen nicht zu erfahren. VW erklärte nur, dass bei Entwicklungsaktivitäten auf diverse Zulieferer zurückgegriffen werde.

Von anderer Seite war zu hören, dass das von VW angebotene Schläfrigkeitswarnsystem von Bosch entwickelt worden sei. Der Vertreter von Bosch teilte mit, dass das Bosch-System auf der Analyse des Lenkradwinkels beruhe. Aus dem schriftlichen Informationsmaterial geht hervor, dass die „Fahrermüdigkeitserkennung“ permanent das Lenkverhalten analysiere, um Phasen zu erkennen, in denen der Fahrer kurzzeitig nicht lenke und danach abrupt korrigiere. Der Algorithmus werte etwa 70 verschiedene Signale aus. Im Prinzip entspricht also die Funktionsweise derjenigen des ATTENTION ASSISTs. Ebenfalls wird das Lenkverhalten des Fahrers zu Beginn einer Fahrt als intraindividuelle Referenz benutzt. Detaillierte Angaben zur Art und zum Umfang der Validierung des Bosch-Systems konnte der Vertreter am Stand leider nicht machen. Sie sind auch nicht dem im Anschluss an das Gespräch zur Verfügung gestellten Informationsmaterial zu entnehmen. Als Zulieferer baut Bosch das System nicht selbst in Fahrzeuge ein. Die Kunden könnten noch Änderungen am System vornehmen.

Von Volvo war nur ein Vertreter in der Lage, fachlich Auskunft zu geben. Dieser erklärte, dass er fünf Minuten Zeit für ein Gespräch habe. Zu erfahren war, dass das System die Spur mittels Radar und einer Kamera überwache. Es funktioniere nur, wenn auch der Fahrer die Fahrbahnmarkierungen erkennen könne, also z. B. nicht bei Schneefall oder bei einer mit Schnee bedeckten Fahrbahn. Volvo biete sein Fahrerassistenzsystem nicht als Sicherheitssystem, sondern als „Komfortsystem“ an. Es sei nicht geplant, mittels Unfallanalysen die Effizienz des Systems zu prüfen. Auch auf gezieltes Nachfragen war kein brauchbares Informationsmaterial zur genauen Funktionsweise und zur Validierung zu erhalten. Einer von Volvo ins Internet gestellten Seite5 ist zu entnehmen, dass das System Driver Alert den Fahrer „bei Übermüdung“ und bei unbeabsichtigtem Verlassen der Fahrspur warnt. Dabei überwache das System die Lenkradbewegungen und Daten zur Fahrweise, die mit einer Nahbereichskamera aufgenommen wurden. Um welche Daten es sich konkret handelt, wird nicht explizit erklärt. Die „Sensibilität“ des Driver Alert könne eingestellt werden. Schlussfolgernd darf man wohl im Hinblick auf die rechtzeitige Erkennung von Fahrerschläfrigkeit nicht allzu viel von dem Komfortsystem erwarten. Die mündliche Aussage eines Komfortsystems steht in einem deutlichen Kontrast zu den Sicherheit suggerierenden Aussagen in der Werbung.

Über einen Spurhalteassistenten von Citroen ist kurz in dem Beitrag zur IAA 2009 berichtet worden. Vom Vertreter wurde mitgeteilt, dass beim Citroen DS5 jetzt auch der Lenkwinkel erfasst werde. Genaue Informationen zur Wirkungsweise des Systems waren weder mündlich noch schriftlich zu erhalten. Eine Analyse von Unfallstatistiken sei nicht geplant.

Alle dem Autor bekannten PKW-Fahrerassistenzsysteme zur Fahrerschläfrigkeitserkennung und –warnung stellen eine für den Außenstehenden mehr oder minder große „Black Box“ dar. Vergleichsweise wurden zum ATTENTION ASSIST die meisten Daten zur Validierung veröffentlicht, ohne dass derzeit eine abschließende Bewertung auch dieses Systems möglich ist. Im letzten Jahr hat die Bundesanstalt für Straßenwesen einen Forschungsauftrag zur Bewertung von Messmethoden zur Erfassung der Fahrerschläfrigkeit vergeben. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts bleiben abzuwarten. Derzeit ist die anlässlich der IAA 2009 gezogene Schlussfolgerung nach wie vor aktuell: Es sind keine belastbaren Daten zum positiven und negativen Wert der auf dem Markt eingeführten Fahrerassistenzsysteme zur Schläfrigkeitswarnung bekannt. Somit ist die im Titel gestellte Frage mit einem eindeutigen Nein zu beantworten. Nach wie vor steht der Fahrer – und ggf. auch der Disponent – in der Pflicht, Fahrten richtig zu planen. Der Fahrer muss sorgfältig auf mögliche Zeichen von Fahrerschläfrigkeit achten und die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. Leider ist die Werbung teilweise irreführend. Aufgabe des Betriebsarztes bleibt es nach wie vor, dies alles im Beratungsgespräch mit den Beschäftigten zu thematisieren.

Addendum
Auch wenn die nachfolgende Meldung sich nicht auf Fahrerassistenzsysteme, sondern eine andere Art der „Schläfrigkeitsprävention“ bezieht, soll wegen ihrer Relevanz für den Betriebsarzt kurz darauf hingewiesen werden. Im Jahr 2007 hatten wir in einem Übersichtsbeitrag in ErgoMed von der unkritischen Anwendung von Modafinil (Vigil®) abgeraten6, das laut Hersteller Schläfrigkeit entgegenwirken und die Vigilanz steigern soll. 2011 wurde die Zulassung für das „Schichtarbeiter-Syndrom“ wegen einer ungünstigen Nutzen-Risiko-Bewertung widerrufen7. Es gab Berichte über Abusus und schwerwiegende dermale Nebenwirkungen8. Dennoch wurde im Rote-Hand-Brief des Herstellers nicht das sofortige Absetzen des Präparats bei dieser „Indikation“ empfohlen7. Im Rahmen ihrer Anamnese sollten Betriebsärzte deshalb ggf. nach einer möglichen Einnahme von Modafinil fragen und entsprechend beraten. Von einem Off-label-Gebrauch des Präparats ist dringend abzuraten.

Axel Muttray

Literatur

1. http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/fev_2010/gesamt.pdf

2. Muttray A. Schläfrigkeitswarnsysteme in PKW – was sollte der Betriebsarzt davon wissen? ErgoMed 2010;34:200–203.

3. Tay R, Knowles D. Driver inattention – drivers’ perception of risks and compensating behaviours. IATSS RES 2004;28 89–94, http://www.iatss.or.jp/pdf/research/28/28–1–09.pdf.

4. Näätänen R, Summala H. A model for the role of motivational factors in drivers” decision-making. Accident Analysis Prev 1974;6:243–261.

5. http://www.volvocars.com/de/sales-services/service/specialsales/pages/techniklexikon-d.aspx#driveralert

6. Geißler B, Hagenmeyer L, Erdmann U, Muttray A. Sekundenschlaf – eine unterschätzte Gefahr? ErgoMed 2007;31:16–21.

7. N.N. Modafinil (VIGIL) – ein unbefriedigender Rote-Hand-Brief. Arzneitelegramm 2011;42:32.

8. Weiergräber M, Broich K. Verbesserung der Hirnfunktion – Hirndoping. Psychopharmakotherapie 2011;18:192–202.

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