Sonstiges

Die unterschätzten phlebologischen Erkrankungen in der Arbeitsmedizin

Zusammenfassung

Die Phlebologie und damit die Venenerkrankungen sind nach wie vor ein Stiefkind der Medizin. Dementsprechend haben sich bisher auch nur wenige Phlebologen eingehend mit der arbeitsmedizinischen Problematik bei Venenerkrankungen beschäftigt, obwohl die phlebologischen Erkrankungen zu den häufigsten Leiden in Deutschland zählen.

Eine der bekanntesten Studien außerhalb des deutschen Sprachraums zu dieser Thematik ist die Framingham Studie von Brand et al. aus dem Jahr 1988 und die Edinburgh Vein Study von Ruckley. Das Ergebnis dieser Studien unterstreicht die Bedeutung von überwiegend stehenden Arbeitstätigkeiten für die Entstehung von Venenleiden.

Die Basler Venen-Follow-up-Studie von Holtz ist neueren Datums und hat 1441 Probanden über einen Zeitraum von 22 Jahren beobachtet. Als Schlussfolgerung kommt er zu der Aussage, dass „die Varikose infolge ihrer großen Häufigkeit sowie ihrer beträchtlichen Progressivität und Komplikationsneigung erhebliche Kosten verursacht und damit von relevanter sozioökonomischer Bedeutung ist“.

Schlüsselwörter: Stehberufe – Ödem – Varikosis – Chronische venöse Insuffizienz (CVI) – Postthrombotisches Syndrom (PTS) – Präventionsstrategien

Summary

Phlebology and vein diseases are still heavily neglected in medicine. Up to now only few phlebologists have worked in the medical realm of vein diseases and work, although phlebological illnesses belong to the most frequent diseases in Germany. The Framingham study of Brand et al. (1988) and the Edinburgh Vein Study of Ruckley are among the best international studies concerning this topic. The results of these studies emphasize the importance of standing at work on the development of vein disturbances. In the Basel Vein Follow-up study of Holtz (1998) 1441 persons were tracked over a 22 years period. The authors stated the high socio-economic impact of vein diseases, which is due to the days absent as disease progresses with resulting complications.

Key words: standing at work – edema – varicose veins – chronic venous insufficency (CVI) – postthrombotic syndrome (PTS) – prevention strategy

1. Einleitung
Die Hälfte aller Menschen in den europäischen Industrieländern sucht im Laufe des Lebens den Arzt wegen „Beinleiden“ auf, Frauen etwas häufiger (hormonal, Schwangerschaft, sitzende Tätigkeit, kosmetische Gründe) als Männer. Trotzdem haben sich bisher nur wenige Phlebologen wie Fischer1, Widmer2 und Marshall3 eingehend mit der arbeitsmedizinischen Problematik bei Venenerkrankungen beschäftigt. Dabei sind die Zahlen erschreckend, wenn man davon ausgehen muss, dass insbesondere bei Frauen mit überwiegend stehenden oder sitzenden Tätigkeiten Venenerkrankungen besonders häufig auftreten. Hinzu kommt, dass der Krankheitsverlauf in der Regel progressiv verläuft und nicht selten nach jahrelanger einseitiger Tätigkeit in die Arbeitsunfähigkeit einmündet. Das alles zwingt nicht nur den Arbeitsmediziner zu Überlegungen, was in jedem Einzelfall getan werden kann, damit ein einigermaßen unbeschwertes Berufs- und Erwerbsleben gesichert ist. Zu diesen Überlegungen wurden die hier erwähnten Studien und Untersuchungen hinzugezogen, die die negativen Auswirkungen auf das Venensystem belegen.

2. Istzustand
In Deutschland haben 50% der Menschen, die über 16 Jahre alt sind, krankhaft veränderte Beinvenen. Jede 2. Frau und jeder 4. Mann in der zweiten Lebenshälfte weisen Venenleiden auf. Veränderungen der Venen setzen aber bereits bei 25% der Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren ein. Nur jeder zehnte Einwohner in Deutschland weist keinerlei Beeinträchtigungen der Venen auf. Die bekanntesten und häufigsten Venenveränderungen sind mit etwa 60% die so genannten „Besenreiser“ wie aus der Bonner Venenstudie4 zu erkennen ist.

Nach Analysen von Landau5 beträgt der Anteil an stehender Körperhaltung bei Produktionstätigkeiten 75-80%, bei Verkäuferinnen ca. 50% und im Dienstleistungsgewerbe zwischen 30 und 40%.

3. Stehberufe
Stehberufe sind definitionsgemäß Berufe, die zu mehr als 70% der Arbeitszeit in stehender Haltung zugebracht werden. Man findet sie bevorzugt in der sog. „BMW-Gruppe“ (Bäcker, Metzger, Wirte) sowie in folgenden Branchen:

– Einzelhandel,

– Friseurhandwerk,

– Küchen- und Gaststättengewerbe,

– Gesundheitsdienst (Zahnarztpraxis),

– produzierendes Gewerbe.

Stehberufe werden traditionell von Frauen ausgeübt. Tätigkeiten, die über einen längeren Zeitraum im Stehen ausgeübt werden, stellen eine erhebliche Belastung der Venen dar. Untersuchungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel6 kamen zum Ergebnis, dass die Hälfte aller Verkäuferinnen Erkrankungen des Halteapparates und des Gefäßsystems hatten und Stehberufe doppelt so viele Ausfalltage verursachten wie andere Berufsgruppen. Auch die Frühgeburtenrate ist in Stehberufen im Vergleich zu den Frauen mit sitzender Tätigkeit um mehr als das doppelte erhöht.

4. Auswirkungen des Stehens
Langandauerndes Stehen ist ermüdender als Gehen. Die andauernde statische Muskelbelastung führt zu Minderdurchblutung mit der Folge von Verkrampfungen und Verhärtungen der Muskulatur.

Die gleichförmige Druck- und Zugwirkung auf Gelenke, Bänder und Sehnen führt zu einer hohen Beanspruchung des Bewegungs- und Halteapparates. Gelenkknorpel leidet bei Bewegungsmangel unter Mangelversorgung. Wilke7 konnte durch intradiskale Druckmessungen (in vivo) einige bisherige Auffassungen zur Belastung der Bandscheiben korrigieren. Danach bewirkt die stehende Körperposition einen höheren lumbalen intradiskalen Druck und ist somit für die Lendenwirbelsäule ungünstiger als die sitzende Position. Hinsichtlich der Kreislaufsituation ist die Stehhaltung stärker beanspruchend als sitzende oder liegende Körperhaltungen. Beim Übergang vom Liegen in die Stehposition steigt die Pulsfrequenz an, der systolische Blutdruck fällt leicht ab, während der diastolische Druck ansteigt. Gleichzeitig kommt es durch die aufrechte Körperhaltung zu einer Verlagerung von Blut und Gewebeflüssigkeit in die Gefäße und das Gewebe der unteren Extremität. Mit der Volumenverschiebung gehen beträchtliche Erhöhungen der Gefäßwand- und der Gewebespannungen einher. Bereits unter physiologischen Bedingungen ist eine normale Funktion des Venensystems der Beine nur dann voll gewährleistet, wenn der venöse Rückstrom zum Herzen durch die sog. „Muskelpumpe“ unterstützt wird. Der Rücktransport des venösen Blutes herzwärts stellt mit etwa 7000 Litern Blut pro Tag eine immense Aufgabe dar. Da dem Ganzen auch noch die Schwerkraft und mit ihr der hydrostatische Druck entgegenstehen, sind Hilfen wie die Muskelpumpe, die Venenklappen und die Atmung notwendig, um die Venen bei ihrer Schwerstarbeit zu unterstützen. Langes Stehen sowie mangelnde dynamische Muskelarbeit der Beine verhindern eine ordnungsgemäße Funktion der Muskelpumpe. Dadurch wird der venöse Rückfluss aus den Beinen zum Herzen behindert, es kommt zur Drucküberlastung der Venen, zu Umbauprozessen an den Gefäßwänden und zur Entstehung von Krampfadern – insbesondere bei genetischer Disposition8. Die Kapazität der Muskelpumpe bestimmt, ob es bei entsprechenden Schwankungen der übrigen Einflussgrößen, wie Gefäßinnendruck, Gefäßdurchlässigkeit, Gefäßtonus und Gewebetonus zur Ausbildung eines Ödems kommt. Die Ödembildung ist beim Stehen im Vergleich zu anderen Körperhaltungen am höchsten und nimmt mit fortschreitender Belastungsdauer zu. Neben der venösen Stauung finden sich Begleiterscheinungen wie Schwere der Beine, Müdigkeitsgefühl, Parästhesien und nächtliche Krämpfe. Darüber hinaus können Durchblutungsstörungen der Haut und trophische Störungen beobachtet werden. Schließlich besteht die Gefahr von Thrombophlebitiden und Thrombosen sowie die Ausbildung eines ulcus cruris venosum.

Ödem
Unter einem Ödem versteht man die Gewebeanschwellung infolge übermäßiger Ansammlung von Gewebewasser. Die Ursache hierfür sind Abflussstörungen des Blutes über die Venen, Lymphabflussstörungen, arterielle Versorgungsstörungen oder Allergien bzw. Entzündungen. Bei symmetrischen, beidseitigen Beinödemen müssen Herz-, Nieren- und Lebererkrankungen ausgeschlossen werden. Ein einseitiges schmerzhaftes Beinödem hat seine Ursache nahezu immer im Defekt des venösen Systems.

Varikosis
Die krankhafte Erweiterung der Vene mit Funktionsverlust wird als Varikosis bezeichnet. Dabei verliert die Vene ihr ursprüngliches Aussehen und erscheint erweitert, verdickt und geschlängelt. In solchen veränderten Venen ist die Flussgeschwindigkeit des Blutes erheblich herabgesetzt und es kommt bei defektem Venenklappensystem zu Pendelblutbewegungen. Das führt zu weiterem Druckanstieg im Gefäß und damit zum Fortschreiten der Krankheit in benachbarte Venen.

Chronische venöse Insuffizienz (CVI)
Als chronische venöse Insuffizienz wird die Gesamtheit des Krampfaderleidens mit seinen vorwiegend im Knöchelbereich und am Unterschenkel lokalisierten Symptomen bezeichnet. Das Spektrum reicht von ausgeweiteten geschlängelten oberflächlichen Venen (sog. corona phlebectatica) über Hyper- und Depigmentierungen der Haut bis zu bakteriellen, chronisch auftretenden Gewebsentzündungen, Stauungszeichen, Schwellungen und subjektiven Beschwerden. Die CVI geht immer mit einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit des venösen Rücktransportsystems im Blutkreislauf einher.

Postthrombotisches Syndrom (PTS)
Das PTS stellt einen Folgezustand nach abgelaufener tiefer Beinvenenthrombose dar. Im Rahmen des Verschlusses einer tiefen Beinvene kommt es zu Umgehungskreisläufen über die Verbindungsvenen in das oberflächliche Venensystem. Die dabei beteiligten Venen werden über Druckerhöhung und Stauung aufgeweitet und zu Varizen umgewandelt. Durch die venöse Drucksteigerung und die Lymphabflussstörungen entstehen Ödeme und Versorgungsengpässe im betroffenen Gewebe. Die Haut im Bereich des Unterschenkels verhärtet und verdünnt sich. Zusätzlich treten Pigmentierungen als charakteristische Veränderungen auf. Schweregefühl, Schmerzen der Extremitäten beim Stehen und Sitzen, in schweren Fällen auch in Ruhe, treten auf. Endstadium ist ohne Behandlung häufig das Ulcus cruris venosum.

6. Venenerkrankungen und berufliche Anforderungen
Die neueste Untersuchung zum Thema Venenerkrankungen und berufliche Anforderungen stammt aus dem Jahre 2000. Tuchsen et al.9 haben in einer Studie des Departments of Surveillance and Epidemiology am National Institute of Occupational Health in Kopenhagen unter dem Arbeitstitel „Standing at work and varicose veins“ untersucht, ob längeres Stehen am Arbeitsplatz einen Risikofaktor für das Entstehen von Krampfadern darstellt.

Hierzu wurden von 1,6 Millionen berufstätigen Dänen 5940 Personen ausgewählt. Sie waren zwischen 20 und 59 Jahre alt und wurden drei Jahre lang nach ihrer ersten Venenbehandlung beobachtet. Weiterhin wurden sie zu besonderen Risikofaktoren und ihrer Art der Berufsausübung befragt. Diese Untersuchung ergab, dass Männer mitstehender Tätigkeit ein 1,85-fach höheres Varizenrisiko als andere Männer haben. Bei den Frauen war der Risikofaktor „stehender Arbeitsplatz“ noch stärker ausgeprägt. Sie haben ein 2,63-fach höheres Varizenrisiko als Frauen mit einer sitzenden, gehenden oder wechselnden Tätigkeit.

Eine ebenfalls sehr bekannte Studie zum Thema Venenerkrankungen bei Steharbeit ist die Framingham-Studie von Brand et al.10 aus dem Jahr 1988. Deren Ergebnis verstärkt die Bedeutung bestimmter Arbeitstätigkeiten auf die Entstehung von Venenerkrankungen. Es wurde nachgewiesen, dass Frauen, die durchschnittlich acht Stunden am Tag eine sitzende oder stehende Tätigkeit ausüben, eine signifikant erhöhte Erkrankungsrate an Venenerkrankungen aufweisen gegenüber Frauen, die nur vier oder weniger Stunden am Tag diese Aktivitäten ausüben.

Auch ungewöhnliche Effekte des Stehens werden diskutiert: So soll es nach Krause11 bei langdauerndem Stehen wegen der orthostatisch bedingten Abnahme des Plasmavolumens zu Strömungsturbulenzen in den Carotiden kommen und in der Folge zur Atherosklerose der Carotiden. Hinweise für solche Intimaverdickungen der Carotiden wurden tatsächlich gefunden.

Auch auf zwei deutsche Studien soll an dieser Stelle eingegangen werden. In der Studie Aachen I12 wurden 1986 insgesamt 2821 Personen (davon 1112 Frauen, 1709 Männer) im Alter zwischen 45 und 65 Jahren untersucht. 29% der untersuchten Frauen und 14,5% der Männer litten an einer Varikosis, 3,2% der Frauen und 0,9% der Männer an einer Phlebitis. Verschiedene Faktoren wie Adipositas, Lipidstoffwechselstörungen, Hyperurikämien, Diabetes mellitus und Hypertonie treten häufiger bei Personen mit Venenerkrankungen auf als bei Venengesunden. In der Tübinger Studie13 aus dem Jahr 1981 wurden 4530 Probanden (davon 66,4% Männer und 33,6% Frauen) im Rahmen einer damals gesetzlich vorgeschriebenen Röntgenuntersuchung der Lunge in Baden-Württemberg an den Beinen untersucht. Damals waren drei Diaaufnahmen der Beine und ein standardisiertes Interview die Untersuchungsmethoden. Die hieraus gewonnenen Daten wurden hochgerechnet. Fischer leitete daraus ab, dass zu diesem Zeitpunkt 5,3 Millionen Bundesbürger ein Venenleiden hatten und dass jeder 8. Erwachsene eine fortgeschrittene chronische Veneninsuffizienz hat. Weitere ältere Studien zur Prävalenz von Venenerkrankungen und Art der Berufsausübung werden in Tab. 1 zusammengefasst. Allen Studien und Untersuchungen ist gemein, dass Mitarbeiter mit einer stehenden Tätigkeit eine höhere Prävalenz an Venenerkrankungen aufweisen als Personen mit einer sitzenden oder gehenden Tätigkeit.

Eine Vergleichsstudie in England 1965 unter 564 und in Jerusalem 1971 unter 467 Arbeiterinnen14,16 mittels eines Fragebogens ergab ein signifikant erhöhtes Risiko der Venenerkrankungen für Frauen mit positiver Familienanamnese, womit schon damals die große Bedeutung der genetischen Komponente von Venenerkrankungen nachgewiesen werden konnte. Weiterhin wurden die Anzahl der Geburten und das Übergewicht, insbesondere aber die stehende Tätigkeit als Risikofaktoren statistisch belegt (Abb 1).

Die Wurzener Studie (DDR) aus dem Jahr 197115 und die Studie von Abramson et al.16 aus dem gleichen Jahr erwiesen eine erhöhte Rate von Venenerkrankungen für Männer mit stehender Arbeitstätigkeit. In Wurzen hatten 18,1% der 4390 untersuchten Männer Varizen, davon mehr als die Hälfte (9,7%) mit einer stehenden Tätigkeit. Es konnte außerdem ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Venenkrankheiten und Adipositas nachgewiesen werden und es konnte ein linearer Anstieg der Venenerkrankungen mit zunehmendem Alter beobachtet werden (Abb. 2).

6.1 Risikofaktoren
In der Literatur findet sich häufig die Hypothese, dass verschiedene verhaltensbedingte Risikofaktoren wie falsche Ernährungsgewohnheiten, Übergewicht, Bewegungsmangel, Nikotin- und Alkoholgenuss einen negativen Einfluss auf die Entwicklung von Venenerkrankungen haben. Tatsächlich konnten bei den o.g. Studien und Untersuchungen einige „Vorurteile“ nicht belegt werden. So zeigte sich, dass Frauen sich stärker als Männer für das Thema gesunde Ernährung interessieren, dennoch konnte kein Zusammenhang zwischen dem Ernährungsverhalten und einer krankhaften Venendiagnose festgestellt werden. Demgegenüber konnte bei venenkranken Personen, bei denen auch Größe und Gewicht erfasst wurden, nachgewiesen werden, dass Übergewicht ein bedeutender Risikofaktor bei der Entstehung von Venenerkrankungen ist. Bewegungsmangel wird allgemein als negativer Faktor angesehen, weil Frauen und Männer, die sich viel bewegen, weniger unter gestauten Extremitäten leiden als Bewegungsmuffel. Nicht bewiesen werden konnte Alkohol- und Nikotinkonsum als Risikofaktor für Venenerkrankungen.

6.2 Gesundheitsfolgen
Erkrankungen des Halteapparates und des Gefäßsystems treten in Stehberufen häufiger auf als in Berufen, die einen Wechsel der Körperhaltungen zulassen. Die genannten Krankheitsgruppen führen in Stehberufen ungefähr zu einer Verdoppelung der Arbeitsunfähigkeitszeiten26.

An der Wirbelsäule kommt es durch langes und häufiges Stehen bei mangelnder Ausgleichsbewegung zu Fehlhaltungen der Wirbelsäule. Die überdehnten Kapseln der Wirbelgelenke verursachen Kreuzschmerzen, die bis ins Bein ausstrahlen können. Auch die Bandscheiben können betroffen sein (s.o).

Durch den Druck der inneren Organe und durch Ermüdung von Muskeln und Bändern kann es bei Frauen in Stehberufen zum Descensus uteri kommen. Die Frühgeburtenrate ist – im Vergleich zu Frauen in sitzender Tätigkeit – trotz bestehender Mutterschutzbestimmungen bei Frauen in Stehberufen mehr als verdoppelt27.

6.3 Prävention / Vorsorge
Prävention beginnt schon vor dem Beginn der Tätigkeit bei der Beratung zur Berufswahl bzw. im Rahmen der Einstellungsuntersuchung. Personen mit Prädispositionen für Wirbelsäulenerkrankungen oder Venenerkrankungen sollten auf die Belastungen des Stehberufes aufmerksam gemacht werden28.

Arbeitsplatzgestaltungen reichen von der vollständigen Neuorganisation und Umstrukturierung der Tätigkeit (Arbeitsplatzrotation, technische Maßnahmen) bis zu punktuellen Verbesserungen durch Sitzgelegenheiten in der Nähe des Arbeitsplatzes.

Die Umwandlung eines Steharbeitsplatzes in einen reinen Sitzarbeitsplatz ist nicht sinnvoll, vielmehr ist ein Wechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen anzustreben. Spezialstehsitze oder Stehhilfen können die Vorteile der sitzenden und stehenden Körperposition verbinden.

Bei langem Stehen auf harten Böden kann die Installation federnder, schwingender Böden eine wesentliche Entlastung bringen. Elastische Bodenmatten aus Nitrilgummi oder Sicherheits-Holzlaufroste, die auf elastischen Gummielementen gelagert werden, sind ohne größere Kosten zu realisieren. Außerdem ist bei Stehberufen immer an einen medizinischen Kompressionsstrumpf zu denken, der sich heute durch einen hervorragenden Tragekomfort auszeichnet.

Pausenräume mit guter Sitzgelegenheit haben eine wichtige Ausgleichsfunktion. Es sollte die Möglichkeit vorhanden sein, die Beine hochzulagern. Ein Wasseranschluss sollte für kalte Wassergüsse genutzt werden können.

Bei der Auswahl der Schuhe ist auf Passform, Zehenfreiheit und Weitenregulierung zu achten. Absätze sollten nicht höher als 4 cm sein.

Regelmäßige Information der Beschäftigten durch den Betriebsarzt kann u.a. auch bewirken, dass richtiges Verhalten akzeptiert und nicht belächelt wird (z.B. Hochlagerung der Beine in der Pause). Der Betriebsarzt sollte auch Hinweise für den Freizeitbereich geben. Hausarbeit, die üblicherweise im Stehen verrichtet wird (Bügeln, Kochen) sollte von Steharbeitern zur Erzielung eines Ausgleichseffektes im Sitzen ausgeübt werden.

Eine allgemeine arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung, die insbesondere die Wirbelsäule und die Beinvenen berücksichtigt, sollte den Beschäftigten angeboten werden.

Weitere Möglichkeiten, die Belastungen durch langes Stehen auszugleichen sind:

– Venenwalking, Venengymnastik,

– Fitnesspause am Arbeitsplatz (Ausgleichsprogramm für stehende Tätigkeit),

– Gezielte Wirbelsäulengymnastik,

– Wassertreten oder Kneippsche Güsse, Fußbäder und Fußmassagen,

– Verwendung von Hilfsmitteln wie Schuheinlagen und Kompressionsstrümpfen.

7. Fazit
Personen mit einer stehenden Tätigkeit haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Venenerkrankungen29.Insbesondere sind Frauen mit einer rein sitzenden oder stehenden Tätigkeit betroffen30. Durch Reduktion von dauerndem Stehen am Arbeitsplatz, durch körperliche Bewegung und Gewichtsreduktion kann einer Varikosis vorgebeugt werden31.

Die Venenerkrankungen verursachen wegen der Häufigkeit und Progressivität sowie der Neigung zu Komplikationen den Krankenkassen Kosten von etwa 3,5 Milliarden Euro im Jahr und sind damit von großer sozioökonomischer Bedeutung32. Jährlich müssen etwa 13 Millionen Menschen wegen Venenerkrankungen behandelt werden, 2 Millionen Menschen leiden an einem Ulcus cruris venosum und ca. 30000 Menschen sterben an einer Lungenembolie33. 67% der venenkranken Menschen können ihren Beruf nur eingeschränkt ausüben und 2500 Bundesbürger werden durch die Folgen einer Venenerkrankung zu Frührentnern. Der Volkswirtschaft gehen jährlich 2,8 Millionen Arbeitstage durch Venenerkrankungen verloren.

Aufklärung ist dringend erforderlich. Hierzu gehören: Mischarbeitsplätze organisieren, Bedarfssitze und Stehhilfen anbieten, geeignetes Schuhwerk, geeignete Fußbodenbeläge, freier Bewegungsraum, richtige Arbeitshöhe sowie ständige Unterweisung der Beschäftigten über gesundheitsfördernde Verhaltensweisen durch den Betriebsarzt und Motivation der Vorgesetzten für diese Maßnahmen.

Literatur
1 Fischer H. Venenleiden. Eine repräsentative Untersuchung in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland (Tübinger Studie). München: Verlag Urban u. Schwarzenberg 1982

2 Widmer LK, Stähelin HB. Venen-, Arterienkrankheiten. Koronare Herzkrankheit bei Berufstätigen. Prospektiv-epidemiologische Untersuchung. Basler Studie I-III (1959-1978). Bern: Verlag Hans Huber 1982

3 Marshall M, Eberth-Willershausen W, Kessel R. Stehberufe und andere Risikofaktoren für periphere Venenerkrankungen. In: Verh. Dtsch. Ges. Arbeitsmed., Hrsg. Th. M. Fliedner. Gentner Verlag, Stuttgart, 1982

4 Rabe E. Phlebologie 2003;32:1-14

5 Landau K, Reus J. Körperhaltungen bei Tätigkeiten aus Industrie, Verwaltung, Landwirtschaft und Bergbau. Int. Arch. Occupat. Environm. Hlth.1979; 44: 213-231

6 BGE Merkblatt M 88 (Steharbeitsplätze) Ausgabe 03.2005

7 Wilke HJ et al.: New in Vivo Measurements of Pressures in the Intervertebral Disc in Daily Life, Spine, 1999; 24: 755-762

8 Grotewohl JH. (Hrsg). Angewandte Phlebologie. Lehr- und Handbuch für Praxis und Klinik. Schattauer Stuttgart, New York 2002

9 Tuchsen et al.: Standing at work and varicose veins, Scandinavian Journal of Work, Environment and Health, 2000; 26: 414-420

10 Brand FN, Dannenberg AL, Abbott RD, Kannel WB. The epidemiology of varicose veins: the Framingham Study. American Journal of Preventional Medicine, 1988; 4: 96-101

11 Krause N. Standing at work and progression of carotid atherosclerosis. Scand J Work Environ Hlth, 2000; 26: 227-236

12 Wienert V. Epidemiologie der Venenerkrankungen. Schattauer Stuttgart 1992

13 Fischer H. Venenleiden. Eine repräsentative Untersuchung in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland (Tübinger Studie). München: Verlag Urban u. Schwarzenberg 1982

14 Wienert V. Epidemiologie der Venenerkrankungen. Schattauer Stuttgart 1992

15 siehe 14

16 Abramson JH, Hopp C, Epstein LM. The Epidemiology of varicose veins. A survey in western Jerusalem. J. Epid. Commun Health 1982, 35: 213-217

17 siehe 9

18 Stvrtinova V, Kolesar J, Wimmer G. Prevalence of varicose veins of the lower limbs in the woman working at a department store. Intern. Angiology 1991; 10: 2-5

19 Brand FN, Dannenberg AL, Abbott RD, Kannel,WB. The epidemiology of varicose veins: the Framingham Study. American Journal of Preventional Medicine, 1988; 4: 96-101

20 siehe 14

21 Statistisches Bundesamt : Krankenhausstatistik- Diagnosedaten der Krankenhauspatienten, Bonn 2001

22 Deutsche Venen-Liga e.V. Venen Spiegel 2000; 1: 4

23 BKK Bundesverband: Krankheitsarten 1998/99, A 110, A 116, A 131

24 Holtz J: Epidemiologie der Varikose unter besonderer Berücksichtigung sozioökonomischer Aspekte, Acta Chirurgica Austriatica, 1998; 30

25 siehe 23

26 Enderle G, Seidel HJ: Arbeitsmedizin, Fort- und Weiterbildung. München Jena: Urban & Fischer 2002

27 siehe 26

28 Grotewohl JH: Fachkraft für Brief- und Frachtverkehr: Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin, 2004; 39: 324-326

29 siehe 9

30 siehe 10

31 Ruckley CV. Edinburgh Vein Study J Vasc Surg 2002; 36: 520-525

32 siehe auch 24

33 siehe auch 22

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Jens- H. Grotewohl

Betriebsarzt/Phlebologe/Lymphologe

Ehmannstr. 80-82

70191 Stuttgart

J.-H. Grotewohl1, A. Tautz2

Aktuelle Ausgabe

Partnermagazine

Akademie

Partner