Stress

Vorstellung der Stressstudie 2016

Dr. Jens BaasVorsitzender des Vorstands der

Techniker Krankenkasse

Wie ist die Stresslage der Nation? Schauen wir uns die Krankschreibungen an, stellen wir fest, dass Fehlzeiten aufgrund psychischer, vor allem auch stressbedingter Erkrankungen wie Depressionen, Angst-, und Belastungsstörungen in den letzten 15 Jahren um etwa 90 Prozent gestiegen sind. Von den 15 Fehltagen, die jeder Berufstätige 2015 im Schnitt krankgeschrieben war, entfielen 2,5 Tage auf psychische Diagnosen. Fast jeder sechste Fehltag ist also inzwischen psychisch bedingt. Belastungs-und Anpassungsstörungen waren vor 15 Jahren für 1,5 Prozent der Fehlzeiten verantwortlich, im vergangenen Jahr waren es 3,25 Prozent. Ihr Anteil hat sich also mehr als verdoppelt. Ist das viel? Allein bei der TK waren das über 2,3 Millionen Fehltage aufgrund dieser Einzeldiagnose. Haben die Menschen tatsächlich mehr Stress? Sorgt die Digitalisierung dafür, dass sich die Welt, insbesondere die Arbeitswelt, immer schneller dreht? Oder hat sich unser Bewusstsein für diese Erkrankungen in den letzten anderthalb Jahrzehnten verändert? Unsere Krankenstands- und Arzneimitteldaten weisen Auffälligkeiten, Korrelationen und Trends aus. Die Ursachen können wir daraus aber nicht ableiten.

Anstieg psychisch bedingter Fehlzeiten hat auch positive Aspekte

Offensichtlich ist, dass immer mehr Menschen Probleme haben, ihren Alltag zu bewältigen, und ich glaube, dass es dafür nicht nur die eine Antwort gibt. Die Diagnostik psychischer Beschwerden hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, Krankheiten werden früher erkannt, so dass den Betroffenen auch besser geholfen werden kann. Der Anstieg der Diagnosen hat also auch positive Effekte.

Krise oder Krankheit?

Wir stellen aber auch fest, dass die Grenzen zwischen seelischem Stress und Beschwerden, die medizinischer Versorgung bedürfen, immer mehr verschwimmen. Auch bei klassischen Problemen der Lebensbewältigung wird immer häufiger professionelle Hilfe gesucht. Bereits im letzten Jahr, als wir die Studie zur Gesundheit von Studierenden vorgestellt haben, zeigte sich, dass viele Hochschüler bereits therapeutische Unterstützung in Anspruch genommen haben.

Seinerzeit stellte sich heraus, dass sich die Belastungsfaktoren zwar nicht verändert haben – damals wie heute geht es um Prüfungsängste, das Lernpensum, die Vereinbarkeit von Studium und Job -, wohl aber der Umgang mit Krisen, der Studierenden heute schwerer fällt.

Zudem gibt es mehr Ablenkung, da die digitalen Medien ja auch mit in den Hörsaal kommen.

Ursachenforschung

Und wie sieht es beim Rest der Bevölkerung aus? Bei den Berufstätigen, bei Eltern und Senioren? Wir wollten wissen, was genau die Menschen stresst und wie sie mit Stress umgehen. Deshalb haben wir das Meinungsforschungsinstitut Forsa in diesem Jahr zum dritten Mal beauftragt, die Stresslage der Nation zu untersuchen.

Stress ist an sich noch nichts Schlechtes. Unter Anspannung laufen viele zu Hochform auf und bringen Höchstleistungen, andere ducken sich eher weg und warten, dass der Sturm vorüberzieht. Wird der Stress jedoch zum Dauerzustand ohne entsprechenden Ausgleich, wird es ungesund. Deshalb haben wir die Menschen auch gefragt, wie sie mit Stress umgehen und was sie zum Ausgleich machen. Und natürlich haben wir auch nach dem Umgang mit digitalen Medien gefragt.

Hochdruckgebiet im Süden,
und der Stresspegel steigt

61 Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben Stress. Es gibt übrigens ein Nord-Süd-Gefälle. Während bei den Fehlzeiten der Süden die Nase vorn hat und deutlich weniger krankgeschrieben ist als der Rest der Republik, ist es beim Thema Stress genau umgekehrt. In Baden-Württemberg stehen fast 70 Prozent unter Druck, im Norden gut die Hälfte.

Und der Stresspegel steigt bundesweit: Fast 60 Prozent sagen, dass ihr Leben in den letzten drei Jahren anstrengender geworden ist und dass sie heute mehr Stress haben als 2013, als wir unsere letzte Stressstudie veröffentlicht haben. Obwohl die durchschnittliche Wochenarbeitszeit hierzulande in den letzten Jahrzehnten gesunken ist, obwohl uns Technik und Digitalisierung vieles erleichtern und Alltagswege überflüssig machen, haben also immer mehr Menschen das Gefühl, dass sich ihre Welt immer schneller dreht.

Stressfaktor Nr. 1 bleibt die Arbeit

Stressfaktor Nr. 1 ist der Job. Fast die Hälfte der Befragten identifiziert die Arbeit als Stressauslöser .

Fast jeder Fünfte hat sogar Sorge, im Job bald nicht mehr mithalten zu können. Das betrifft überdurchschnittlich Beschäftigte ab 50 Jahren (29 Prozent), aber auch jeder Zehnte unter 30 hat davor Angst. Weitere Stressauslöser sind hohe Eigenansprüche (43 Prozent), Termindichte in der Freizeit (33 Prozent), der Straßenverkehr (30 Prozent) sowie die ständige digitale Erreichbarkeit (28 Prozent). Letztere betrifft vor allem die Berufstätigen: Drei von zehn sagen, ihr Job erfordere, auch nach Feierabend oder im Urlaub erreichbar zu sein.

Feierabend mit der
ständigen Erreichbarkeit

Die Digitalisierung, die Globalisierung der Märkte und der Anspruch der Kunden, rund um die Uhr alles erledigen zu können, haben unsere Arbeitswelt in den letzten Jahren deutlich verändert. Den Beschäftigten wird deutlich mehr Flexibilität abverlangt. Holger Stanislawski kann dazu sicher gleich noch mehr sagen. Auch unsere Studie zeigt, dass ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten und einer von sechs Teilzeitbeschäftigten inzwischen unregelmäßige Arbeitszeiten hat. Das ist per se noch nichts Schlechtes, wenn die Flexibilität für beide Seiten gilt und auch die Beschäftigten die Möglichkeit haben, ihre privaten Verpflichtungen mit der Arbeitszeit in Einklang bringen zu können. Bei uns in der TK haben wir beispielsweise Gleitzeit, obwohl wir natürlich rund um die Uhr erreichbar sind.

Wenn Schichtpläne aber kurzfristig angeordnet werden oder Beschäftigte sogar auf Abruf ständig einsatzbereit sein müssen, wird es ungesund. Wenig überraschend sagt deshalb auch jeder Zweite mit unregelmäßigen Arbeitszeiten, dass es auch nach Feierabend und am Wochenende nicht gelingt, richtig abzuschalten. Bei den Beschäftigten mit geregelten Arbeitszeiten sagt das „nur“ ein Drittel.

Und wenn fast 30 Prozent der Erwerbstätigen sagen, dass sie auch nach Feierabend und im Urlaub erreichbar sein müssen, dann läuft in der Betriebsorganisation etwas falsch. Das spricht nicht für eine gesunde Unternehmenskultur. Gerade bei den Berufstätigen, die ‚always on‘ sind, liegt der Stresspegel besonders hoch. Fast drei Viertel leiden unter Stress, 40 Prozent stehen unter Dauerdruck.

Gesund arbeiten ist Frage
der Unternehmenskultur

Wir brauchen eine Unternehmenskultur in den Betrieben, die es den Menschen ermöglicht, gesund zu arbeiten, zu regenerieren und Familie und Beruf in Einklang zu bringen. Dazu gehört auch, dass Feierabend ist mit der ständigen Erreichbarkeit.

Wenn sich unsere Arbeitswelt durch die digitale Transformation so stark verändert wie es jetzt gerade der Fall ist, müssen Betriebe zusammen mit ihren Beschäftigten Strategien entwickeln, wie sie ihren Arbeitsalltag gesund gestalten. Die Digitalisierung erleichtert die Arbeit ja auch in vielen Bereichen. Die TK unterstützt die Unternehmen hier mit einem großen Angebot zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement, das sich Themen wie der Gesundheitsförderung in der digitalen Gesellschaft, Medienkompetenz und Resilienz widmet. Deshalb sind wir beispielsweise auch beim Ausbildungsleiterkongress (#DALK16) im November mit einem eigenen Veranstaltungsprogramm vertreten.

Wichtig ist, dass die Personalverantwortlichen hier eine Kultur schaffen, die den flexiblen Einsatz der Beschäftigten wertschätzt und ihnen den Freiraum gibt, auch ihre privaten Belange zu vereinbaren. Sie werden mit motivierten Beschäftigten belohnt, die Spaß an ihrer Arbeit haben, über ihren „Tanzbereich“ hinaus mitdenken und letztlich auch weniger krank sind. Dafür braucht es Augenmaß – von beiden Seiten. Herr Stanislawski kann sicherlich auch gleich etwas dazu sagen, wie er die Öffnungszeiten seines Marktes mit den Belangen seiner Beschäftigten vereinbart.

Politik kann keine
stressfreien Zonen einrichten

Was aus unserer Sicht deshalb nicht sinnvoll ist, sind staatliche Regulierungen für Betriebe, wie sie von einigen Politikern und Gewerkschaften gefordert werden. Die Herausforderungen sind

in den einzelnen Branchen sehr verschieden und hängen von so vielen Faktoren ab, dass es wichtig ist, hier individuelle und praktikable Lösungen zu ermöglichen. In einem kleinen IT- Unternehmen mag es möglich sein, dass Programmierer von zu Hause arbeiten und sich online austauschen, in großen dezentralen Unternehmen – wie auch die TK eines ist – könnte es schwierig werden, große Teams zu führen, wenn ein Teil von zu Hause, ein Teil im Café und ein Teil in der Firma arbeitet und sich selten begegnet. Hier spielen auch Themen wie Datenschutz, Servicezeiten etc. eine große Rolle. Zudem zeigt die Erfahrung, dass Unternehmen, die ohne Einsicht gezwungen werden, Verordnungen umzusetzen, immer Ausweichstrategien finden, wie wir zum Beispiel beim Mindestlohn oder der Zeitarbeit sehen.

Stress ist auch eine Frage der Haltung

Neben den Arbeitsbedingungen (den Verhältnissen) geht es auch um das eigene Verhalten. 43 Prozent der Beschäftigten fühlen sich abgearbeitet und verbraucht. Und das sagen übrigens nicht überwiegend diejenigen, die Familie und Beruf in Einklang bringen müssen. Wie wir ja unserem Gesundheitsreport in diesem Jahr bereits entnehmen konnten, sind Eltern sogar unterdurchschnittlich krankgeschrieben. Und auch in dieser Stressstudie zeigt sich, dass sich ein Drittel der Berufstätigen mit Kindern im Haushalt oft abgearbeitet und verbraucht fühlen – was auch zu viel ist -, aber der Anteil bei den Erwachsenen ohne Kinder liegt mit 49 Prozent noch höher.

Auffällig, wenn auch nicht überraschend ist, dass es denjenigen besser geht, die Spaß bei der Arbeit haben und grundsätzlich mit ihrem Leben zufrieden sind. Erfreulicherweise sagen gut 70 Prozent der Berufstätigen, dass sie Spaß bei der Arbeit haben, und der Anteil derer, die sich oft abgearbeitet und verbraucht fühlen, liegt mit einem Drittel deutlich unter dem Durchschnitt. Fast ein Viertel gibt an, dass die Arbeit für sie reiner Broterwerb ist. Von ihnen fühlen sich 60 Prozent erschöpft. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man auf die allgemeine Lebenszufriedenheit schaut. Diejenigen, die glücklich sind, sind weniger von Erschöpfung und Stress betroffen.

So entspannt Deutschland

Stress hat also auch viel damit zu tun, ob ich die Aufgaben als Belastung oder Herausforderung empfinde sowie ob und wie ich für Ausgleich sorge. Die Arten des Abschaltens sind individuell sehr unterschiedlich. Wer den ganzen Tag still über Akten brütet, ist abends sicherlich froh, wenn er unter Leute kommt und sich bewegen kann. Wer ständig von Kollegen und Kunden umgeben ist oder schwer körperlich arbeitet, hat abends vielleicht gern Ruhe. Wichtig ist aber, dass die Menschen in sich hineinhören können und wissen, was ihnen gut tut und was nicht. Dies scheint vielen inzwischen schwerzufallen.

Bei den beliebtesten Entspannungsmethoden hat sich seit unserer letzten Befragung kaum etwas verändert. Treffen mit Familie und Freunden sowie das Hobby stehen immer noch ganz oben auf der Liste. Herr Wendt wird Ihnen die genauen Zahlen gleich noch vorstellen.

Wertschätzung und Anerkennung
auch außerhalb der Arbeit

Sieben von zehn Erwachsenen geben an, ihre Freizeit gern mit ihrem Hobby zu verbringen.

Ein Hobby ist auch deshalb so wertvoll, weil viele Menschen dabei manchmal erleben, was sie in der Arbeitswelt nicht oder nicht mehr erfahren, aber für unsere seelische Gesundheit und unsere Stressresilienz wichtig ist: Anerkennung, Wertschätzung und das Gefühl, etwas kreiert oder geschaffen zu haben.

Fast 40 Prozent der Berufstätigen belastet die mangelnde Wertschätzung im Job. Nun gibt es in jeder Gesellschaft Aufgaben, bei denen es schwerfällt, sich selbst zu verwirklichen und jeden Tag mit Spaß zur Arbeit zu gehen. Das gilt vor allem für Berufe mit geringem Handlungsspielraum für die Beschäftigten, den 30 Prozent als Belastung empfinden. Als Gesellschaft sollten wir froh sein und wertschätzen, dass jemand diese Aufgaben übernimmt – auch das ist übrigens eine Frage der Führung und der Unternehmenskultur: jeden Beschäftigten wertzuschätzen, der mit welchem Anteil auch immer zum Unternehmenserfolg beiträgt. Holger Stanislawski kann sicherlich gleich noch etwas mehr dazu sagen, wie man auch diejenigen langfristig motiviert, die den ganzen Tag Kisten auspacken oder Regale einräumen.

Aber nicht für jeden muss der Beruf der Mittelpunkt seiner Welt sein. Wichtig ist, dass wir in unserem Leben etwas haben, das uns erfüllt. Das kann ebenso gut ein Hobby oder ein ehrenamtliches Engagement sein. 36 Prozent engagieren sich in ihrer Freizeit für eine gute Sache oder für andere. Viele haben in den letzten zwölf Monaten ihren Urlaub drangegeben, um Flüchtlingen zu helfen, andere stehen nach Feierabend auf dem Bolzplatz und bringen Kindern das Kicken bei. Auch die TK hat über 8.000 ehrenamtliche Beraterinnen und Berater.

Nur jeder Zweite setzt auf Bewegung, den besten Stresskiller

Obwohl Bewegung zu den wirksamsten Anti-Stress-Mitteln gehört, nutzt leider nur jeder zweite Erwachsene in Deutschland Sport als Ausgleich. Ebenfalls die Hälfte der Erwachsenen gibt an, zu viel Zeit im Internet zu verbringen. Nun ist digitaler Medienkonsum grundsätzlich nicht ungesund, er geht aber meist mit Passivität einher und sorgt nicht für Ausgleich, sondern versetzt viele in die gleiche Lage, in der sie schon ihren Arbeitstag verbracht haben – vor dem Bildschirm.

FOMO oder JOMO?

Fast jeder Vierte gibt an, zu viel Zeit im Netz zu verbringen. 17 Prozent sagen, sie hätten das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn sie länger nicht online sind. Bei den unter 30-Jährigen sagen das sogar drei von zehn Befragten. Psychologen haben sogar schon einen Begriff: FOMO – „Fear of missing out“.

Sehnsucht nach Entschleunigung

Es gibt aber auch schon den Gegentrend: JOMO steht für „Joy of missing out“, also die Freude, nicht bei allem dabei sein zu müssen. Bei den jungen Erwachsenen sagt bisher nur jeder Achte, dass er nach Feierabend auch mal bewusst offline geht, bei den ab 30-Jährigen ist es aber schon fast jeder Vierte.

Der Wunsch, etwas Tempo aus dem Leben zu nehmen, scheint bei vielen groß. Man hat den Eindruck, Yogastudios gibt es in manchen Metropolen inzwischen fast so viele wie Imbisse, und obwohl es die Printmedien seit einigen Jahren schwer haben, gibt es derzeit viele neue Titel, die sich Themen wie Entschleunigung und dem Selbermachen widmen. Malbücher für Erwachsene haben derzeit Konjunktur und sorgen für Rekordumsätze bei Buntstiftherstellern. Die Zeitschriften loben das einfache, das gebremste Leben. Vor allem in Großstädten gibt es viele Handmade-Labs, wo Menschen sich zum gemeinsamen „Schaffen“ treffen, urban gardening liegt im Trend. Offenbar gibt es eine große Sehnsucht, den äußeren Verhältnissen – Stress in der Arbeitswelt, der Angst vor Terror und kulturellen Veränderungen in diesem Land – etwas entgegenzusetzen.

Stress durchdringt derzeit alle Lebensbereiche. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen Stressbewältigungsstrategien haben, die ihnen unabhängig vom jeweiligen Auslöser helfen, damit umzugehen. Die TK hat dazu ein großes Angebot – online und offline – das zeigt, wie man entspannter durch den Alltag kommt. Es reicht von Online-Coachings, über Burnoutprophylaxe-Seminare bis zu dem erwähnten Engagement im Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Wir werden den Stress nie ganz vermeiden können. Er gehört zum Leben dazu: Krisen, Prüfungssituationen und andere Herausforderungen gab es schon immer und wird es weiter geben. Aber man kann lernen damit umzugehen – auch in einer digitalen Gesellschaft.

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