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Familiäre Belastungen erhöhen gesundheitliche Risiken von Kindern

Der Gesundheitsreport 2023 richtet seinen Fokus auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Anspannungen, Stress oder Schmerzen schränken viele Väter und Mütter in ihrer Elternrolle ein. Jedes vierte Kind (24 Prozent) in Hamburg lebt mit einem Elternteil zusammen, das unter psychischen Störungen leidet. 15 Prozent der Kinder haben körperlich erkrankte Väter oder Mütter. Außerdem können sozioökonomisch benachteiligte Familienverhältnisse verhindern, dass Kinder unbeschwert und gesund aufwachsen – allein davon sind 38,5 Prozent der bei der AOK Rheinland/Hamburg versicherten Kinder und Jugendlichen in der Hansestadt betroffen, deren Gesundheitsdaten nun ausgewertet wurden. Analysiert wurden Daten aus dem Jahr 2021. Eine anhaltende psychische Störung eines Elternteils beeinflusst die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen von allen familiären Belastungssituationen am stärksten. In diesen Fällen liegt die Wahrscheinlichkeit für eine Auffälligkeit insgesamt um 29 Prozent höher als bei anderen Kindern und Jugendlichen. Insbesondere Verhaltens- und Essstörungen treten deutlich häufiger auf, hier sind die Werte sogar um knapp 70 Prozent erhöht. „Die ersten Jahre im Leben eines Menschen sind prägend. Die Familie ist für Kinder der wichtigste soziale Bezugspunkt und Bildungsort. Fehlt es hier an Unterstützung und Hilfestellungen auf dem Weg zum Erwachsensein, kann das weitreichende Folgen nach sich ziehen, auch weil die Kinder ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen“, sagt Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg. Er fordert deshalb eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, um Familien zu unterstützen. Insbesondere diejenigen, die sich in herausfordernden Situationen befinden, bräuchten mehr Orientierung und eine zugewandte Begleitung, um sich im komplexen Gesundheitssystem besser zurechtzufinden. „Es gibt bereits zahlreiche Unterstützungsangebote, die viele Betroffene aber schlicht nicht kennen“, führt Mohrmann aus. Von besonderer Bedeutung sei auch die Stärkung der Vorsorgeuntersuchungen, bei denen Entwicklungsstörungen möglichst früh erkannt und behandelt werden können.

Kinder stark machen,
Resilienz fördern

Der Gesundheitsreport der AOK Rheinland/Hamburg zeigt: Mehr als jedes vierte Kind unter sechs Jahren (27 Prozent) aus einem Haushalt mit Arbeitslosengeld-II-Bezug verpasste 2021 eine in dem Jahr empfohlene Vorsorgeuntersuchung (U- Untersuchung). Die Wahrscheinlichkeit ist 64 Prozent höher als bei Kindern aus besser gestellten Familien. „Die Förderung der Gesundheitskompetenz sollte so früh wie möglich beginnen. Kitas und Schulen müssen Orte sein, an denen Gesundheitskompetenz vermittelt wird“, fordert Thomas Bott, Regionaldirektor der AOK in Hamburg. Die Gesundheitskasse bietet bereits zahlreiche Präventionsangebote in Kitas, Kindertagespflege und Schule. Darunter „Joko, du und ich“, ein ganz neues Projekt in Hamburg, das die Eltern-Kind-Bindung stärkt und das seelische Wohlbefinden von Zwei- bis Dreijährigen fördert. Oder auch „Gesund macht Schule“ für Kinder im Grundschulalter.

Vorstand Matthias Mohrmann appelliert an die Politik, der Empfehlung des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz zu folgen. Dieser fordert, das Bildungssystem in die Lage zu versetzen, Gesundheitskompetenz so früh wie möglich im Lebenslauf zu fördern. „Die persönlichen Beeinträchtigungen und Belastungen der Menschen durch mangelnde Gesundheitskompetenz sind erheblich. Übergewicht, chronische Erkrankungen oder späte Diagnosen von Erkrankungen und Entwicklungsstörungen sind nur einige Beispiele“, sagt Matthias Mohrmann. Auch für das Gesundheitssystem seien Folgen absehbar, wenn es einem beträchtlichen Teil der Kinder und Jugendlichen an dem Wissen über ein gesundheitsbewusstes Leben fehlt. „Jeder Cent, der in die Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen gesteckt wird, ist eine Investition in die Zukunft des einzelnen Kindes und in die Zukunftsfähigkeit des Gesundheitssystems. Denn aus resilienten Kindern werden gesunde Erwachsene.“

Familiäre Belastungen machen sich in der Entwicklung früh bemerkbar

Familiäre Belastungen können sich bereits im frühesten Entwicklungsstadium bemerkbar machen. So ist das Risiko für eine Schädigung des Fötus bei psychisch erkrankten Eltern mehr als doppelt so hoch, bei suchtkranken Eltern sogar rund sieben Mal so hoch wie bei Eltern ohne Belastungen. Und auch in finanziell schlechter gestellten Familien zeigen sich häufiger gesundheitliche Probleme beim ungeborenen Kind: In Haushalten, die Arbeitslosengeld II beziehen, ist das Risiko zweieinhalbmal so hoch. Die Gesundheitskompetenz der Eltern ist in diesen Familien oft geringer. Sowohl geringe Kenntnisse als auch fehlende finanzielle Mittel spielen bei der Lebensführung eine Rolle. Die Lebensführung wirkt sich bereits in der Schwangerschaft auf den Fötus aus und setzt sich später im Leben des Kindes fort. Neben den Auswirkungen familiärer Belastungssituationen beleuchtet der Gesundheitsreport auch Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Ausgewertet wurden Störungen der Sprachentwicklung, der motorischen Entwicklung und des Sozialverhaltens sowie Anpassungsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Adipositas.

Diagnosen in der Pandemie gestiegen

Beim Blick auf die Entwicklungs- und Verhaltensstörungen von Hamburgs Kindern zeigt sich, dass diagnostizierte Sprach- und Sprechentwicklungsstörungen im Jahr 2021 am weitesten verbreitet waren. Bei gut zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren lag eine entsprechende Diagnose vor. Dies ist ein Anstieg von fünf Prozentpunkten seit Beginn der Pandemie. Auch bei Adipositas lassen sich Folgen der Pandemie ablesen: Neun Prozent der AOK-versicherten Kinder in Hamburg ab dem 3. Lebensjahr haben starkes Übergewicht. Ihr Anteil ist seit Pandemiebeginn um 14,5 Prozent gestiegen.

AOK Rheinland/Hamburg fordert mehr Teilhabe und Chancengerechtigkeit

„Der Gesundheitsreport belegt, dass alle Bemühungen, die Gesundheitskompetenz von klein auf zu stärken, richtig und wichtig sind. Beginnend mit einem spielerischen Zugang bei den Kleinsten und schulischen Bildungsangeboten. Es bedarf aber auch eines lebenslang begleitendenden niedrigschwelligen Zugangs zu Informationen und Hilfen, für diejenigen, die sie benötigen“, bilanziert AOK-Vorstand Matthias Mohrmann.

Den gesamten Gesundheitsreport für Hamburg und das Rheinland finden Sie unter:

www.aok.de/rh/reporte


AOK Rheinland/Hamburg


Statement von Prof. em. Bernhard Badura, Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld

Mentale Gesundheit der Beschäftigten stärken

In Verbindung mit der Alterung der Gesellschaft, dem Fachkräftemangel und der Digitalisierung bewirkte die Covid-Pandemie eine „Zeitenwende“ – auch bei Führung, Kultur und Kooperation in der Arbeitswelt. Am vielleicht deutlichsten wird diese Zeitenwende am Beispiel der quasi „über Nacht“ erfolgten und nahezu flächendeckenden Einführung des Homeoffice. Der Fehlzeiten-Report der AOK beleuchtet die Folgen dieses Bruchs mit festgefahrenen Überzeugungen und Handlungsmustern und die möglichen Konsequenzen für die Gesundheit der Beschäftigten.

Homeoffice ist gekommen, um zu bleiben. Nach der Pandemie sind zwar wieder mehr Beschäftigte im Büro. Aber der Anteil der Unternehmen, die mobiles Arbeiten beziehungsweise Homeoffice anbieten, ist laut der aktuellen WIdO-Befragung von 72 Prozent im Jahr 2021 auf 78 Prozent im Jahr 2023 gestiegen.

Allerdings stellen die Förderung und der Erhalt intrinsischer Motivation, vertrauensvoller Zusammenarbeit und mentaler Gesundheit unter den Bedingungen von „New Work“ Führungskräfte, aber auch Beschäftigte vor neue Herausforderungen. Führung auf Distanz und Selbstorganisation wollen gelernt sein. Die im Fehlzeiten-Report 2023 vorgestellten Studien zeigen, dass Homeoffice sowohl positive wie negative Folgen für Arbeit und Gesundheit haben kann.

  • Mögliche positive Effekte sind eine bessere Work-Life-Balance, mehr Flexibilität, höhere Produktivität und Arbeitszufriedenheit.
  • Auf der anderen Seite stehen als mögliche negative Effekte die Entgrenzung der Arbeit, die Belastung durch ständige Erreichbarkeit und Abendarbeit sowie physische Beschwerden durch schlechtere Arbeitsbedingungen und zu wenig Bewegung. Nicht zu unterschätzen sind auch die soziale Isolation und die mögliche Distanzierung vom Unternehmen.

Der Forschungsstand dazu ist in Deutschland entwicklungsbedürftig, insbesondere beim Thema Vertrauenskultur, die eine Grundbedingung von Bindung und gelingender Kooperation ist. Dies gilt für die Arbeit in Präsenz, aber mehr noch auf Distanz.

Homeoffice ist an sich eine gute Sache, aber nicht als Dauerzustand und nicht ohne klare Regeln. Das Sozialkapital des Unternehmens darf nicht darunter leiden. Wir befinden uns hier in einem permanenten Lernprozess, der durch Betriebliches Gesundheitsmanagement begleitet werden sollte.

Physisch geht es uns heute – auch dank großer Fortschritte in der Medizin – deutlich besser. Für die mentale Gesundheit gilt dies allerdings nur bedingt. Das belegt der in der AU-Statistik sichtbare, seit Jahren ungebremste Anstieg der Fälle, vor allem aber der Krankheitstage wegen psychischer Störungen, insbesondere wegen Ängsten, Burnout und depressiver Episoden. Diese Entwicklung hat negative Folgen:

  • für die Lebensqualität der Betroffenen,
  • für die Produktivität und Innovationskraft der Wirtschaft,
  • für die Kosten der Renten- und Krankenversicherung,

und nicht zuletzt:

  • für den allseits beklagten Fachkräftemangel und
  • für die Erreichbarkeit des Rentenziels erst mit 67 Jahren.

Unternehmen, Krankenkassen und Politik sollten sich daher mit der Frage auseinandersetzen, wie sie die mentale Gesundheit der Beschäftigten stärken können. Beschäftigte, die sich durch zu viel Arbeit überfordert fühlen, entwickeln Symptome psychophysischer Erschöpfung. Sie entwickeln Angstgefühle, weil sie sich permanent kontrolliert oder bewertet fühlen. Unklare Ziele, mangelhafte Transparenz und Beteiligung beeinträchtigen das Sinnerleben, keine oder unklare Rückmeldungen zur geleisteten Arbeit das Selbstwertgefühl. Ungelöste Dauerkonflikte, erlebte Ungerechtigkeiten, zum Beispiel bei Beförderung oder Belohnung, zerstören das Vertrauen in den Arbeitgeber. Das alles ist wissenschaftlich belegt, findet aber noch zu selten Aufmerksamkeit auf der obersten Leitungsebene eines Unternehmens, einer Verwaltung oder Dienstleistungseinrichtung – warum?

Wirtschaftsunternehmen investieren in die Gesundheit ihrer Beschäftigten, wenn sich die Wirkung dieser Investition an Kennzahlen ablesen lässt. Hier sind die Gesundheitsexperten in ihrer Bringschuld, was die Entwicklung geeigneter Kennzahlen betrifft. Dabei sollten sie durch die Gesundheitswissenschaften noch sehr viel stärker als bisher unterstützt werden.

Was die wissenschaftlichen Erkenntnisse heute schon zeigen: Die wichtigste Zielgruppe für die Gesundheit der Beschäftigten sind ihre Führungskräfte. Führungskräfte sollten sehr viel energischer als bisher dazu befähigt werden, bei sich selbst und ihren Mitarbeitenden zu erkennen, was mental gesund hält, was krank macht und wann und wo die entsprechende Expertise zu finden ist und in Anspruch genommen werden sollte. Und sie sollten dazu befähigt werden, Mitarbeitende zu binden statt sie zu kontrollieren. Hier braucht es ganz konkrete Maßnahmen zur Schulung der Führungskräfte, die es zum Teil schon gibt, die teilweise aber auch noch entwickelt werden müssen.

Unternehmen, Krankenkassen und Politik sollten sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, wie Homeoffice beziehungsweise hybride Arbeit gesundheitsförderlich gestaltet werden können. Traditionelle Rollenmuster sind im „New Normal“ nicht mehr zeitgemäß und sollten durch moderne Konzepte wie eine bindungsorientierte Führung abgelöst werden.

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