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Mensch-zentrierte Assistenz

Exoskelett-Experte Dr. Ralph Hensel-Unger aus dem Bereich Industrial Engineering bei Audi. Foto: privat

Häufig folgt der Einsatz von Exoskeletten eher einem technikgetriebenen Ansatz, bevor geschaut wird, wofür diese genutzt werden könnten“, berichtet Dr. Ralph Hensel-Unger, Ergonomie-Experte im Industrial Engineering bei Audi. Der Ingolstädter Automobilhersteller hingegen verfolgt eher das Ziel der Mensch-zentrierten Assistenz. Die Systeme sollen immer eine spezifische Entlastung der Beschäftigten erlauben und das Wohlbefinden der Mitarbeiter steigern.

So ergänzt Audi in der Automobilproduktion mit dem Einsatz von Exoskeletten seine Maßnahmen für ein ergonomisch gestaltetes Arbeitsumfeld. Heute tragen Hilfen wie der „Chairless Chair“ und gelenkschonende Handschuhe, sogenannte Produktionsorthesen, zum Wohlbefinden und zur Gesundheit der Mitarbeiter bei.

Partizipativer Prozess

Der Audi-Konzern hat in den vergangenen drei Jahren bereits umfassende Erfahrungen mit dem Einsatz von Exoskeletten gesammelt und setzt seit kurzem den „Chairless Chair“ an ausgewählten Arbeitsstationen fest im Produktionsbetrieb ein. Und ist damit laut Dr. Ralph Hensel-Unger der erste Automobilhersteller in Deutschland.

Der Weg vom ersten Prototypen- bis zum Produktiv-Einsatz wird in einem interdisziplinären Team aus Prozess- und Arbeitsplatzplanern sowie Arbeitsmedizinern geplant und begleitet. Er erfordert regelmäßige Reviews sowie die Abstimmung mit den Anwenderinnen und Anwendern, dem Betriebsrat und der Arbeitsmedizin. „Für die Akzeptanz ist es entscheidend, diesen Prozess partizipativ zu gestalten“, weiß Dr. Ralph Hensel-Unger. Mit seinem Team arbeitet er auch mit verschiedenen Hochschulen zusammen – so etwa mit Prof. Dr. med. Monika A. Rieger vom Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Tübingen. Ebenso steht er in enger Kooperation mit den jeweiligen Herstellern der Exoskelette und dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung.

Die Maßgabe ist, die Arbeitsplätze so zu gestalten, dass sich die Arbeit auch ohne die Unterstützung eines Exoskeletts ausführen lässt. In Zukunft sei auch die Nutzung der Technologie bei der Wiedereingliederung – etwa nach einer Operation – oder im Rahmen der Inklusion denkbar.

Auch im Notfall sicher

Eine große Rolle bei der Planung und im Einsatz spielen „Flucht und Rettung“ sowie „Erste Hilfe“, die im Rahmen der Unterweisung thematisiert und praktisch eingeübt werden. Mit dem Chairless Chair etwa lässt sich zwar nicht laufen, er kann aber mit wenigen Handgriffen abgelegt werden. Gleichzeitig werden die Nutzer arbeitsmedizinisch begleitet, auch wenn Studien nahelegen, dass ein Muskelabbau nicht zu erwarten ist.

Demnächst läuft bei dem Automobilhersteller eine große Vergleichsstudie mit Exoskeletten, die an Über-Kopf-Arbeitsplätzen erprobt werden sollen. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie die Beschäftigten mit den einzelnen Lösungen klar kommen, welche sie
präferieren und welche Verbesserungen gewünscht sind, um die Systeme besser an die Anforderungen der Mitarbeiter anzupassen. Diese werden dann wieder an den Hersteller rückgemeldet. Denn beim Einsatz stehen Gesunderhaltung, Wohlbefinden und Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter im Vordergrund – nicht etwa eine Produktivitätssteigerung.

Entlastung der Rückenmuskulatur

Ebenso testeten Beschäftigte ein passives Exoskelett zur Rückenunterstützung, quasi als Hebehilfe, an ausgewählten Arbeitsstationen in der Logistik, im Presswerk und in der Montage an den Standorten Ingolstadt und Neckarsulm. Bei diesem Exoskelett ist ein Metallrahmen mit Teilen an Oberkörper, unterem Rückenbereich und Oberschenkeln mit einer Stützstruktur verbunden. Es soll die Rückenmuskulatur um bis zu 40 Prozent entlasten und zugleich eine gesunde Körperhaltung sichern.

Das passive Exoskelett des Herstellers Laevo kann in diesem Kontext helfen, sowohl bei dynamischen Umsetzvorgängen als auch bei statischer Haltungsarbeit in vorgebeugter Körperhaltung die Belastung des unteren Rückens zu reduzieren. Hierzu wird ein Teil des wirkenden (Last-)Gewichts von einem Brustpad aufgenommen und über eine Federstruktur mit Gasdruckdämpfern an Rücken und Hüfte vorbei über Oberschenkelauflagen in die Beine eingeleitet. Zugleich unterstützt die Rückstellkraft des Federdämpfersystems auch das (Wieder-)Aufrichten des Oberkörpers. Das System lässt sich sowohl an die körperlichen Gegebenheiten der Nutzer als auch an die spezifische Arbeitssituation anpassen, da Unterstützungswinkel respektive Unterstützungsgrad variabel sind und sich der Federmechanismus gezielt aktivieren lässt.

Zu Beginn einer solchen Testphase wird das Exoskelett zunächst von einer möglichst homogenen Gruppe von etwa
15 Mitarbeitern erprobt. Denn nur so haben die Ergebnisse die nötige Aussagekraft. Der Rahmen wird dann größer gefasst, so dass beispielsweise der Chairless Chair im Laufe der Zeit mittlerweile von insgesamt rund 200 Mitarbeitern getestet wurde.

Passive Systeme haben die Nase vorn

„Für die Praxis sehe ich eine hohe Relevanz passiver Systeme – sie haben gegenüber den aktiven einen Entwicklungsvorsprung von einigen Jahren“, meint der Projektleiter. Aber auch aktive Exoskelette haben nach Ansicht des Experten ihre Berechtigung, allerdings weniger an der Linie als im peripheren Einsatz. Ein besonderes Potenzial schreibt Dr. Ralph Hensel-Unger den sogenannten „Soften Systemen“ zu und erklärt: „Diese verschmelzen zunehmend mit der Kleidung, so dass die Trägerinnen und Träger sie besser akzeptieren“.

„Allerdings erachte ich derzeit kommunizierende Exoskelette ebenso kritisch wie Systeme, die über Biofeedback gesteuert werden. Hier wird aus unserer Sicht der Mehrwert noch nicht deutlich.“ Der Trend zu aktiven Systemen sei vor allem technologiegetrieben. Aus Sicht des Experten müssen jedoch die Menschen und nicht die Technik im Zentrum stehen. Gleichzeitig hänge die arbeitswissenschaftliche Begleitung hinterher. „Als Automobilhersteller nehmen wir für die Forschung viel Geld in die Hand. Allerdings gibt es kaum öffentlich geförderte Projekte“, so der Projektleiter. „Wenn hier intensiver geforscht werden würde, könnten wir etwa die Lastumverteilung besser bewerten oder Aussagen über etwaige Langzeitfolgen treffen“, schließt Dr. Ralph Hensel-Unger.


Autorin

Dipl.-Ing. Andrea Stickel

Journalistin für Technik und
Wissenschaft (BJV)

andrea@stickel-online.net

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