04_Zukunft der Arbeit

Die Rolle der Fachkraft für Arbeitssicherheit in der Arbeitswelt 4.0

Die digitale Transformation verändert Schritt für Schritt unsere Arbeit, Unternehmensführung und Betriebsorganisation. Die Veränderungen sind häufig wirtschaftlich getrieben und finden eine zügige Umsetzung in den Betrieben. Viele – vor allem kleinere Betriebe aber auch viele Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Sifas) – haben den Transformationsprozess, der schleichend mit hoher Dynamik verläuft, noch nicht wahrgenommen. Die digitale Transformation setzt sich durch und sollte möglichst systematisch gestaltet sowie aus Perspektive des Arbeitsschutzes begleitet werden.

Mit den neuen Entwicklungen sind Chancen und Risiken für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit verbunden. Ziel ist es, veränderte Gefährdungen und Belastungen zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zu entwickeln sowie die Chancen zu nutzen. Dabei müssen die Akteure des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in der Arbeitswelt 4.0 frühzeitig eingebunden werden und handeln. Daher kommt der Sifa eine besondere Bedeutung zu.

Veränderungen in der Arbeitswelt 4.0

Die Arbeitswelt 4.0 bringt Veränderungen mit sich, die als Industrie 4.0, Arbeit 4.0, Internet der Dinge oder Cyber Physische Systeme (CPS) bezeichnet werden. Menschen, Maschinen und Produkte sind durchgängig vernetzt. Produkte und Prozesse werden von autonomen und selbstlernenden Softwaresystemen gesteuert. Neue Möglichkeiten entstehen durch Robotik, Sensorik, technische Assistenzsysteme, virtual und augmented Reality und additive Fertigungsverfahren. Es werden immer mehr Daten produziert, die verarbeitet und gespeichert werden und auf die zugegriffen werden kann. Zudem gibt es Veränderungen in Arbeitszeit, Arbeitsort und Beschäftigung.

Die Entwicklungen der Arbeitswelt 4.0 gehen dabei über den Begriff der Digitalisierung hinaus, da autonome Prozesse und eine immer engere Vernetzung eine entscheidende Rolle spielen. Damit erhöht sich auch der Stellenwert der Datensicherheit und des Datenschutzes sowie Aspekte der Datenqualität. Daraus folgt eine enge Verzahnung mit der Security.

Die technischen Möglichkeiten der Arbeitswelt 4.0 steigern die Ambivalenz der Arbeitsgestaltung. Die neuen Technologien bieten beispielsweise die Chance, dass physische Belastungen für den Beschäftigten sinken oder besonders gefährliche Tätigkeiten durch autonome Systeme substituiert werden, während durch Flexibilisierung der Arbeit, Fremdsteuerung und Überwachung psychische Belastungen zunehmen können und zum Schwerpunkt werden. Jedoch bleiben Ergonomie, Usability, die Gestaltung alter(n)sgerechter Arbeit oder andere traditionelle Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes wichtige Ziele für sichere und gesundheitsgerechte Arbeitsplätze, wenn sie auch teilweise auf die neuen Arbeitsbedingungen angepasst und weiterentwickelt werden müssen.

Arbeitswelt 4.0 bedeutet auch die Zunahme von (solo-)selbstständig tätigen Crowd- und Clickworkern, die über Internetplattformen ortsunabhängig für Auftraggeber tätig werden. Diese werden von den gesetzlichen Regelungen des Arbeitsschutzes derzeit nicht erfasst und beruhen daher vollkommen auf Freiwilligkeit des Arbeitstätigen. Hier sind geeignete Instrumente zu schaffen, die diese Personengruppen angemessen schützen.

Die Rolle der Fachkraft für Arbeitssicherheit

Die Sifa, rechtlich verankert im Arbeitssicherheitsgesetz, nimmt eine wichtige Stellung im Betrieb ein, um Arbeitsunfälle und berufsbedingte Erkrankungen weiter zu senken und unwirtschaftliche Zustände durch instabile Prozesse zu verringern. Ihr zentraler Beratungsauftrag aus der Sicht des technisch Möglichen und der Arbeitsgestaltung hilft Führungskräften und Arbeitgebern, die richtigen Entscheidungen zum Wohle der Mitarbeiter zu treffen, ganz im Sinne des Verbesserungsgedankens aus dem Arbeitsschutzgesetz. Die Sifa kümmert sich um den Schutz des Menschen und unterstützt das Unternehmen, die Arbeit sicher und gesundheitsgerecht zu gestalten.

Im Rahmen von 4.0-Prozessen spielt die Software, deren Ergonomie, Störanfälligkeit und Benutzungs-/Benutzersicherheit der eingerichteten Systeme eine zunehmend zentrale Rolle in der Prozessgestaltung. Prävention durch die Sifas wird hier ansetzen (müssen). So beraten Sifas die Unternehmen, dass diese bei der Entwicklung der Software im Ressourcenmanagement des CPS Sicherheit und Gesundheit in den Algorithmen berücksichtigen. Sicherheit und Gesundheit muss dabei frühzeitig in die Planung, Konzeption, Entwicklung bzw. Beschaffung, von 4.0 Systemen integriert werden.

Hierzu benötigen die Sifas Kenntnisse über die Kriterien, welche Aspekte der Sicherheit und Gesundheit bei der Entwicklung beziehungsweise Beschaffung der 4.0-Systeme (wie smarten Arbeitsmitteln, selbstfahrende Fahrzeuge, Nutzung der Plattformökonomie, smarte Prozesssteuerung (smart planing cycle), selbstlernende Softwaresysteme, usw.) zu berücksichtigen und wie diese in die Programme zu integrieren sind. Wichtig sind darüber hinaus Kenntnisse über emotionale Fertigkeiten, Motivationsaspekte etc., um Hemmschwellen sowie Widerstände zu erkennen und gesundheitsförderlich adäquat zu beraten bzw. zu reagieren. Aufgrund der zunehmenden Komplexität der Prozesse und der unterschiedlich ausgeprägten Expertisen sind für eine erfolgreiche Präventionsarbeit verschiedene Beteiligte erforderlich, mit denen im Sinne eines erfolgreichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes interdisziplinär zusammen gearbeitet werden muss. Sifas sollen als fachliche Berater alle Beteiligten verbinden bzw. koordinieren und im Rahmen der Prozesskette Vorschläge zur sicherheits-, menschen- und alternsgerechten Arbeitssystemgestaltung geben (als Manager für Sicherheit und Gesundheit, vgl. VDSI-Info 01/2008).

Um diese Aufgaben kompetent unterstützen zu können, müssen sich die Sifas mit den neuen 4.0-Sytemen beschäftigen. Dies erfordert ein Offensein der Sifa für Neues sowie ein kontinuierliches bzw. lebenslanges Lernen, und das wahrnehmen von entsprechenden Angeboten von Qualifizierung, Weiterbildung und Erfahrungsaustausch.

Zentrale Handlungsfelder der Fachkraft für Arbeitssicherheit

Vor dem Hintergrund der Veränderungen der Arbeitswelt durch 4.0-Prozesse und -Technologien sowie einer veränderten Rolle der Sifas, ergeben sich konkrete Handlungsfelder und damit auch Anforderungen an die Fachkraft für Arbeitssicherheit. Mit diesen muss sich die Sifa auseinandersetzen, um beraten zu können. Dazu gehört unter anderem:

  • Die Beurteilung der Arbeitsbedingungen muss den gesamten 4.0-Prozess berücksichtigen, frühzeitig ansetzen sowie kontinuierlich und ganzheitlich erfolgen (Gefährdungsbeurteilung 4.0). Relevant ist dabei insbesondere die Berücksichtigung veränderter Not- und Störfälle. 4.0-Technologien können für die Gefährdungsbeurteilung genutzt werden.
  • Positive und negative Einwirkungen der 4.0-Technologien auf den Menschen müssen mit Unterstützung der Sifas analysiert, beurteilt und die durchgeführten Maßnahmen evaluiert werden. Hierzu gehören beispielsweise nicht nur Fragen der technischen Sicherheit und Ergonomie, sondern auch:
  • zunehmende psychische Belastungen,
  • Fragen der Partizipation, z.B. Gefahr von Ausgrenzung oder Möglichkeit der Unterstützung von älteren Beschäftigten,
  • die Gefahr der Überwachung von Beschäftigten,
  • die grundsätzliche Akzeptanz der 4.0-Prozesse,
  • der Blick für Chancen und Verbesserungen an „klassischen„ Arbeitssystemen.
  • Die Betriebssicherheit von 4.0 Systemen muss sichergestellt sein. Hierzu zählen auch Maschinen und Anlagen (Arbeitsmittel generell), die mit dem Hersteller vernetzt sind. Daher müssen Fragen der Unternehmer- und Herstellerverantwortung bzw. -haftung geklärt, gegenüber der Betreiberverantwortung abgegrenzt und in
    der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden.
  • Gefährdungen durch autonome und selbstlernende Arbeitssysteme sowie sich selbst organisierende oder rekonfigurierende Technik bzw. Arbeitssysteme müssen ermittelt und beurteilt werden.
  • Die Mensch-Roboter/Software-Kollaboration muss so gestaltet werden, dass eine schädigungsfreie Zusammenarbeit möglich ist.
  • Die Mensch-System-Interaktion muss gebrauchstauglich und ergonomisch gestaltet werden. Dabei sind Assistenzsysteme, Fernsteuerung und Fernwartung zu berücksichtigen, weil andere von außen auf diese Systeme zugreifen können.
  • Technische Assistenzsysteme können zur Verbesserung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes beitragen (z.B. Datenbrillen, Exoskelette, Sensorik).
  • Techniken der virtuellen Realität ermöglichen die Konzeption von Arbeitsplätzen und Produkten, das Trainieren von Verhaltensweisen bei kritischen Zuständen und das Ausprobieren von Maßnahmen des Arbeit- und Gesundheitsschutzes im virtuellen Raum.
  • Cyber-physische Systeme unterstützen, ergänzen oder steuern das Handeln von Menschen. Die Handlungsträgerschaft muss festgelegt, kommuniziert, vereinbart und dokumentiert sein. Hierzu muss geklärt sein, ob bzw. in welchen Situationen der Beschäftigte über die Arbeitsmittel und Prozesse entscheiden kann (z.B. Notaus). Selbst- und Fremdbestimmtheit müssen im ausgewogenen Verhältnis stehen.
  • Räumlich und zeitlich flexibilisiertes Arbeiten erfordert einen neuen Umgang mit Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und Führung:
  • Die Beschäftigten müssen auch unabhängig von der physischen Anwesenheit im Betrieb Zugang zu Präventionsmaßnahmen haben und sich informieren oder Beratung einholen können. Hierzu zählt bspw. auch die Verbesserung der Gesundheitskompetenz der Beschäftigten.
  • Die Arbeitszeit muss betrachtet werden, wenn zu jeder Zeit durch smart devices auf Arbeitsprozesse zugegriffen werden kann.
  • Wenn Führung und Beratung digital stattfindet, unterliegen betroffene Beschäftigte und Führungskräfte besonderen Belastungen.
  • Die Ergonomie von Bildschirmarbeitsplätzen bei mobilen Arbeiten ist nicht abschließend beeinflussbar. Daher kommt der Unterweisung der Beschäftigten eine besondere Bedeutung zu.
  • Neue Arbeitsmittel, wie Datenbrillen und smart devices, verursachen andere Gefährdungen und Belastungen. Bei der Betrachtung müssen Zeiten der Gewöhnung berücksichtigt werden.
  • Große Mengen an komplexen Informationen können zu einer Reizüberflutung und somit einer höheren psychischen Beanspruchung führen.
  • Die Gefahr durch Verlust oder Entwertung beruflicher Fähigkeiten und Fertigkeiten von Beschäftigten entsteht, wenn CPS-Systeme Prozesse standardisieren und Vorgaben machen, die der Beschäftigte nicht hinterfragen muss. Die IT-Sicherheit und der Datenschutz müssen gewährleistet sein. Hierzu gehören der Speicherort, die Frage des Besitzes der Daten (z.B. bei Cloudnutzung) sowie Zugriffe von außen.
  • Vorhandene Daten können zur Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit zur Verfügung stehen, dürfen jedoch nicht ohne festgelegte Regelungen erfasst und ausgewertet werden. Der personenbezogene Datenschutz spielt eine wichtige Rolle. Arbeitnehmervertreter müssen beteiligt werden.
  • Neue Möglichkeiten des arbeitsplatzbezogenen und individualisierten Lernens und der Unterweisung in Echtzeit können für die Information zu sicherem und gesundheitsgerechten Arbeiten genutzt werden, wenn diese Aspekte von Beginn an in die Softwaresysteme integriert werden.
  • Eine Qualifizierung zur sicheren und gesundheitsgerechten Nutzung der 4.0-Technologien und Bewältigungskompetenzen für Beschäftige aller Hierarchieebenen müssen kontinuierlich weiterentwickelt werden. Hierzu bieten 4.0-Lerntechnologien eine Erweiterung der Weiterbildungsmöglichkeiten.
  • In Summe agiert die Sifa zunehmend als Netzwerker sowie Kommunikations- und Organisationsschnittstelle im Rahmen der komplexen Anforderungen an Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.

Fazit

4.0-Technologien und Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort können zu neuen oder veränderten gefahrbringenden Bedingungen für die Beschäftigten führen. Gleichzeitig entstehen neue Chancen, um den Arbeits- und Gesundheitsschutz zu verbessern. Diese neuen Möglichkeiten zu nutzen und die Beurteilung der Arbeitsbedingungen frühzeitig in die Planung und Entwicklung von 4.0-Prozessen einzubinden, ist entscheidend für einen weiteren kontinuierlichen und verbesserten Arbeits- und Gesundheitsschutz. Hierfür müssen die Fachkräfte für Arbeitssicherheit in ihrer Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz gestärkt werden, um den Herausforderungen der Arbeitswelt 4.0 erfolgreich begegnen zu können.

Die Sifas müssen ethische Werte bei der Beratung zum Einsatz von 4.0 Technologien, insbesondere von Software 4.0, berücksichtigen, damit die Akzeptanz der Beschäftigten für die 4.0-Prozesse im Betrieb gegeben ist und die Unternehmen ihrer ethischen Verantwortung nachkommen. Zu den ethischen Werten gehören neben u.a. Funktionalität, Wirtschaftlichkeit, Kommunikation, Persönlichkeitsentfaltung und Festlegung der Handlungsträgerschaft auch Sicherheit und Gesundheit. Daher muss die Sifa auch dieses Thema aufgreifen und als Chance nutzen, das Thema Sicherheit und Gesundheit in die Arbeitsprozesse zu integrieren.

Crowd- und Clickworker dürfen als wachsende Gruppe von Selbstständigen im Vergleich zu angestellten Beschäftigten nicht benachteiligt werden. Unternehmer sollten auch diese Dienstleister bei der Gestaltung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes berücksichtigen und den Zugang zur Beratungskompetenz der Fachkräfte für Arbeitssicherheit, z.B. im Rahmen der betriebsspezifischen Betreuung nach DGUV Vorschrift 2, ermöglichen.


Literatur

  • BMAS (2017): Weißbuch. Arbeiten 4.0. Berlin
  • Cernavin, O.; Schröter, W.; Stowasser, S. (2018): Prävention 4.0. Analysen und Handlungsempfehlungen für eine produktive und gesunde Arbeit 4.0. Springer Heidelberg, Berlin
  • DGAUM (2016): Arbeiten 4.0: Herausforderung für die arbeitsmedizinische Versorgung in der Zukunft. Stellungnahme 19.08.2016.
  • DGUV (2017): Industrie 4.0: Herausforderungen für die Prävention – Positionspapier der gesetzlichen Unfallversicherung.
    http://www.dguv.de/ medien/inhalt/ praevention/arbeitvierpunktnull/ pospap-2–2017.pdf
  • DGUV (2016): Softwareergonomie. DGUV Information 215–450. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV). Berlin.
  • Ethik-Kommission (2017): „Automatisiertes und vernetztes Fahren.“ Bericht Juni 2017, Berlin. www.bmvi.de
  • VDSI-Information 01/2008 „Von der Fachkraft zum Manager für Sicherheit und Gesundheit.“ VDSI, Wiesbaden
  • VDSI-Positionspapier (2017): „Weiterentwicklung des Arbeitssicherheitsgesetzes und der DGUV Vorschrift 2“ 14.09.2017

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