07 Asbest

Intensiv und unabhängig forschen, kompromisslos mahnen und die Berufskrebsopfer unterstützen

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Frage 1: Herr Prof. Woitowitz, Sie gelten als einer der Begründer der modernen Arbeitsmedizin und haben bis zu Ihrem Ruhestand 28 Jahre das

Institut und die Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der Justus-Liebig Universität in Gießen geleitet. Hat die Arbeitsmedizin heute noch den Stellenwert, die Bedeutung und die Unterstützung der Bundes- und Länderregierungen um die ArbeitnehmerInnen vor den vielfältigen Gefahren der sich wandelnden Arbeitswelt frühzeitig zu schützen?

Erlauben Sie mir den Rückblick und Ausblick aus dem ruhigen Studierstübchen meines Emeritus-Büros, das ich der Medizinischen Fakultät unserer Justus-Liebig Universität Gießen verdanke. Öfter als heute trafen wir in den vergangenen Jahrzehnten sehr namhafte Spitzenvertreter mit eigenen oder auch familiär vertieften Einblicken in die realen Gesundheitsgefahren unserer Arbeitswelt in den Arbeitsministerien des Bundes und der Länder an. Ich denke hier besonders an Zeiten, in denen etwa Walter Ahrendt Bundesarbeitsminister oder Armin Clauss unser Hessischer Arbeitsminister war.

Vergleichbar erfolgreiche und gezielte Aktivitäten und Schwerpunktsetzungen auf höchster sozialpolitischer Ebene lassen sich inzwischen kaum mehr erkennen. Dies wirkt sich offensichtlich auch auf den besonderen Stellenwert der universitären Arbeitsmedizin zur Lösung der aktuellen Kernprobleme in unserer sich stark wandelnden Arbeitswelt aus.

Frage 2: Sie haben als einer der Ersten vor den Gefahren durch Asbest gewarnt und mit Ihren Forschungen maßgeblich zur Aufklärung über die Krebs erzeugenden Expositionen gewarnt. Ist es nicht ein Verstoß gegen das „Grundrecht aller Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit“, wenn der aus der Bismarckzeit stammende sogenannte Vollbeweis in Deutschland dazu führt, dass insbesondere in Feststellungsverfahren wegen des Verdachts auf durch Asbest verursachten Lungenkrebs die Ablehnungsquoten inzwischen über 80 % betragen? Das Hessische Landessozialgericht hat eine Berufsgenossenschaft in einem rechtskräftigen Urteil (Az: L 3 U 124/14) dazu verpflichtet, ein durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells eines am Mesotheliom verstorbenen Elektrikers, auch ohne den grundsätzlich erforderlichen juristischen Vollbeweis als Berufskrankheit anzuerkennen. Wie bewerten Sie dieses Urteil?

Die Motivation zur intensiven Beschäftigung mit der Tatsache der oftmals todbringenden Folgen zur Gewinnung oder Verarbeitung krebserzeugender Arbeitsstoffe beruht auf frühen, sehr konkreten Ursachen. Einmal geht sie auf die für uns Studierende in den Nachkriegsjahren oft unerlässlichen, tiefen Einblicke in die Realität einer damals wieder außerordentlich stark expandierenden industriellen Arbeitswelt zurück. Als „Werkstudenten“ blieben uns prägende Einblicke in unverkennbar große Defizite im Arbeitsschutz nicht verborgen. Später folgte dann die zu erwartende Bestätigung anhand von vielen hundert Patienten-Schicksalen mit ihren todbringenden Erkrankungen an Berufskrebs in unseren universitären Polikliniken für Berufskrankheiten. Wissenschaftlich entscheidend ergänzt und vertieft wurden uns jene Ursachen-Wirkungszusammenhänge durch herausragend kompetente Toxikologen. Hervorzuheben ist hier ganz besonders Prof. Dr. Dietrich Henschler als Lehrstuhlinhaber der Universität Würzburg. Mit Hilfe der von ihm verdienstvoll erwirkten, langjährig verständnisvollen Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, kommt es zur bisher jährlichen Veröffentlichung des internationalen Kenntnisstandes sowohl der Maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen für Gefahrstoffe (sog. MAK-Werte), als auch der Technischen Richtkonzentrationen (TRK) für wichtige Karzinogene.

Seit Jahrzehnten sehe auch ich die Tatsache der jährlich tausendfach tödlichen Folgen eines unzureichenden Arbeitsschutzes als Arzt, Wissenschaftler, Diener und Bürger unseres Staates keinesfalls im Einklang mit dem „Grundrecht aller Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit“! Sozialrechtlich war es ursprünglich der Arbeitsunfall – als dem Prototyp eines „Akutereignisses“ – für dessen Entschädigung in der Bismarckzeit ein Vollbeweis für die jeweils schädigende Einwirkung gefordert wurde. Etwa bei einem Leitersturz mit Todesfolge infolge eines Sprossenbruchs sind die Ursache, der Hergang und die Schädigungsfolgen durch den Beweis des Augenscheins meist sofort unschwer erkennbar. Dagegen ist die Praxis, einen solchen Vollbeweis entsprechend auch für die sich erst nach Jahrzehnten manifestierenden Erkrankungen, speziell dem Berufskrebs – als Prototyp der sog. „Latenzschäden“ – sachlogisch und damit sozialmedizinisch keinesfalls zu begründen. Insbesondere hiermit lassen sich die inzwischen etwa 80 % betragenden Ablehnungsraten bei Feststellungsverfahren wegen des begründeten Verdachts auf einen durch Asbest verursachten Lungenkrebs (Nr. 4104 Anl. BKV) erreichen. Um diese vollkommen unakzeptable Ablehnungsrate zu senken, sollte das Beweismaß der Wahrscheinlichkeit an die Stelle des Vollbeweises treten. Diese Forderung ist an den Gesetzgeber gerichtet. Eine solche notwendige Regelung sollte insbesondere für jene Fallgestaltungen gelten, in denen weder der Versicherte oder die Hinterbliebenen durch entsprechende Auskünfte der Firmen bzw. Unternehmen sowie der Aufsichtsdienste in der Lage sind, „nachzuweisen“, dass Asbest eingewirkt hat, jedoch national und/oder international ausreichende Erkenntnisse über Asbestgefährdungen bei typischen Arbeitstätigkeiten bestehen. Unsere Hessische Landessozialgerichtsbarkeit hat mit ihrem rechtskräftigen Urteil (Az: L 3 U 124/14) nicht zum ersten Mal zukunftsweisende Feststellungen getroffen. Denn auch arbeits- medizinisch ist es für das Elektrikerhandwerk eine altbekannte Tatsache, dass bei der Verlegung von elektrischen Leitungen und Anschlüssen – etwa in den zahlreichen landwirtschaftlich genutzten Fachwerkgebäuden mit ihren Holzkonstruktionen – zum besseren Brandschutz oftmals gerade Weißasbest-Pappen fachgerecht zugeschnitten, angebracht und befestigt werden mussten. Offenkundig war der Senat mit diesem Stand der maligen, nicht völlig staubfreien Technik besser vertraut, als die zuständige Berufsgenossenschaft.

Frage 3. Was muss getan werden, dass die große Ungleichheit bezüglich der Anerkennung und Entschädigung asbestbedingter Berufskrankheiten, also die Schere zwischen angezeigten und entschädigten Berufskrankheiten, sich nicht weiter öffnet und die Beweisführung nicht weiterhin zu Lasten der oft todkranken ArbeitnehmerInnen geht?

Das zentrale Problem jener berufsgenossenschaftlich routinemäßig seit Jahrzehnten angelegten „Schere“ betrifft insbesondere die zu ca. 80 % abgelehnten Entschädigungen bei den in der Regel todbringenden, durch Asbest verursachten Erkrankungen an Lungenkrebs (Nr. 4104 Anl. BKV). So wurde jene besonders häufige Berufskrankheit mit der BK-Nr. 4104 beispielsweise im Jahr 2012 bei 3996 diesbezüglichen Berufskrankheitenanzeigen lediglich bei 810 Versicherten anerkannt. In der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg handelte es sich bei unseren sehr großen Importmengen zu ca. 94 Prozent um den Weißasbest (Chrysotil). Gerade für Weißasbestfasern ist aber seit Jahrzehnten bekannt, dass sie nach der Einatmung allmählich über die Bronchien und Lymphwege entsorgt werden können. Mit Hilfe von Abwehrzellen, den Alveolarmakrophagen, können sie aber auch zu sog. „Asbestkörperchen“ werden. Zum Zeitpunkt der beispielsweise ca. 30 Jahre später auftretenden Erkrankung an Lungenkrebs ist aber aufgrund der verkürzten Aufenthaltsdauer solcher Chrysotilfasern im Lungengewebe kaum noch mit ihrem reichlichen Vorhandensein zu rechnen.

Berufsgenossenschaftlich wird jedoch für die Anerkennung auch einer durch Weißasbest verursachten Erkrankung an Lungenkrebs (Nr. 4104 Anl. BKV) in der Regel dennoch der Nachweis von mindestens 1000 Asbestkörperchen pro Kubikzentimeter Lungengewebe gefordert. Dringend erforderlich ist daher die Untersagung, Ablehnungsbescheide wegen Erkrankungen an durch Weißasbest verursachtem Lungenkrebs auf jene vorhersehbar meist zu geringen und deshalb dann vom berufsgenossenschaftlichen, sog. „Mesotheliomregister“ als negativ bewerteten Ergebnisse seiner Asbestkörperchen-Zählungen zu stützen.

Frage 4. Sie sprechen von einem sozialpolitischen Handlungsbedarf bezüglich der Ablehnungsraten bei asbestbedingten Berufserkrankungen. Welche Rolle spielt dabei die Unternehmerhaftpflicht in der gesetzlichen Unfallversicherung? Kommen die Technischen Aufsichtsbeamten der Unfallversicherungsträger ihren Verpflichtungen zur technischen Analyse in solchen BK-Verfahren nach? Und die staatliche Arbeitsinspektion und die Gewerbeärzte? Können beide angesichts drastischer Stellenstreichungen ihren präventiven Aufgaben zur Verhinderung von Berufserkrankungen und der Anerkennung solcher Erkrankungen überhaupt noch gerecht werden?

Was die Entscheidungsgremien unserer Gesetzlichen Unfallversicherung angeht, ist mir bekannt, dass sie einerseits zwar paritätisch besetzt sind. Dennoch bestehen andererseits nicht allein für die Technischen Aufsichtsbeamtender Unfallversicherungsträger sondern selbst für die bei den UV-Trägern jeweils angestellten Professoren/Professorinnen der Medizin – offenkundig keinesfalls die gleichen Freiräume als Wissenschaftler, wie sie den von staatlich finanzierten Universitäten berufenen Fachvertretern/Innen gewährt werden. Das verwertbare Spektrum der von den berufsgenossenschaftlich angestellten, sicherheitstechnisch qualifizierten Aufsichtspersonen in die jeweiligen Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren eingebrachten Expertisen ist sehr breit. Es hat sich mir gerade bei Ermittlungen zu den häufig Jahrzehnte zurückliegenden Gefährdungstatbeständen der vorgenannten Latenzschäden erwartungsgemäß nicht nur als wenig standardisiert, sondern auch als ziemlich unterschiedlich erwiesen. In einzelnen Fallgestaltungen, die auch mir gelegentlich zum Einblick vorlagen, ließ sich ein teilweise erhebliches Spannungsfeld – mit konkreten Gefahren hinsichtlich einer Weiterbeschäftigung – nicht übersehen. Die mir seit Jahrzehnten bekannt gewordenen Persönlichkeiten unseres gewerbeärztlichen Dienstes zeichneten sich durch eine hierfür erforderliche, besonders hohe Qualifikation aus. Vertraut wurde ich damit früher teilweise als der zunächst fachlich weiterbildende Arzt. Unübersehbar wird demgegenüber heute die Bedeutung der leider nur noch in geringer Zahl als neutrale Ombudspersonen im gewerbeärztlichen Dienst verbliebenen Fachärzte/Innen sozialpolitisch inzwischen total verkannt. Als besonders hilfreich haben wir bei unserer Arbeit die für eine Anerkennung von Parteiinteressen unbeeinflusst mögliche Aufklärung lange zurückliegender sicherheitstechnischer Probleme an gefährlichen Arbeitsplätzen durch die Staatliche Arbeitsinspektion erfahren. Dies gilt in ganz besonderem Maße gerade hinsichtlich der so außerordentlich zahlreich strittigen Feststellungsverfahren wegen der vorgenannten, todbringenden Berufskrankheiten. Um daran wieder anzuknüpfen sollte der rasante Stellenabbau der staatlichen Aufsichtsbeamten und der Gewerbeärzte baldmöglichst gestoppt werden. Besonders die Landesarbeitsminister sind hier gefordert, die staatliche Aufsicht personell und qualitativ in einer Weise auszubauen, dass sie ihrer lebenserhaltenen Präventionsaufgabe in der Arbeitsumwelt wieder gerecht werden kann.

Frage 5. Wie bewerten Sie die Dunkelziffern bei asbestbedingten Berufserkrankungen und die jahrzehntelange systematische Anwendung völlig vorhersehbar falsch negativer Asbestkörperchenzählungen? Warum ist diese Methode im Sinne einer fairen Entschädigung abzulehnen?

In der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg bestanden an den meisten der entsprechenden Arbeitsplätze Gefährdungen durch den Weißasbest (Chrysotil). Denn dessen Importanteil betrug bekanntlich nahezu 95 %. Hieraus folgt, dass der Pathologe bei der großen Anzahl der zuvor durch Weißasbest gefährdeten und dadurch erkrankten Versicherten stets das sog. „Fahrerfluchtphänomen“ (engl.: „hit-and-run-phänomenon“) zu berücksichtigen gehabt hätte. Denn im Lungengewebe der zuvor durch Chrysotilasbest gefährdeten und dann Jahrzehnte später daran Verstorbenen bestehen definitiv keine gerichtsfesten Nachweismöglichkeiten durch die Suche nach Chrysotil-Asbestfasern oder solche Chrysotilfasern enthaltende Asbestkörperchen.

Dieses „Fahrerfluchtphänomen“ bestimmter krebserzeugender Arbeitsstoffe ist kein Einzelfall. Aus der Berufskrebsforschung liegen genügend weitere Beispiele vor. Auch bei ihnen kommt es durch die Einatmung der krebserzeugenden Noxe hinlänglich zu den primär erforderlichen, gentoxischen Effekten, den sog. molekularen hits. Zum Todeszeitpunkt, d.h. mehrere Jahrzehnte später, lässt sich dann auch dort nicht gewissermaßen das „Tatwerkzeug“ erneut am „Tatort“ auffinden. Beispielhaft genannt seien insofern etwa die Erkrankungen an Lungenkrebs infolge ionisierender Strahlen (BK Nr. 2402 Anl. BKV), oder durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK, vgl. Nr. 4113 Anl. BKV). Das Gleiche gilt auch für die verschiedenen Erkrankungen an Blutkrebs nach Einatmung von Benzol (Nr. 1318 Anl. BKV).

Frage 6. Eine von Ihnen initiierte Forschergruppe hat sich aktuell grundlegend mit der „sozialpolitischen Problematik bei der medizinischen Begutachtung todbringender Berufskrankheiten“ auseinander gesetzt. Was sind die Kernpunkte des dringend notwendigen sozialpolitischen Handlungsbedarfs?

Die sozialpolitische Problematik bei der medizinischen Begutachtung betrifft keinesfalls allein die durch Asbestfaserstaub arbeitsbedingt gefährdete Bevölkerung mit ihren entsprechenden Folgekrankheiten. Betroffen sind darüber hinaus ebenso alle Versicherten, die am Arbeitsplatz Gefährdungen ausgesetzt waren oder sind, die sich erst Jahre später diagnostizieren lassen. Es handelt sich deshalb allgemein um die seit der Bismarck-Zeit zunächst nur für den Arbeitsunfall eingeführten hohen Hürden des Kausalitätsprinzips. Das Grundverständnis für „Kausalität“ beruhte damals stark auf den Erfahrungen des Arbeitsunfalls als einem „Sofortereignis“. Dessen Zeitablauf führte akut oder allenfalls subakut zur Schädigung. „Arbeiterkrankheiten“ wurden in den Jahren von 1884 bis 1924, also etwa 40 Jahre lang, von der Gesetzlichen Unfallversicherung jedoch noch weitestgehend ausgegrenzt. Die Kernpunkte des erforderlichen sozialpolitischen Handlungsbedarfs sind aus arbeits- und sozialmedizinischer Sicht:

Die Berücksichtigung der Auswirkungen des Zeitverhaltens

todbringender Latenzschäden,

Die Erleichterung der Regeln des Bismarckschen Kausalitätsprinzips durch die Akzeptanz von nicht vermeidbaren Beweisnotständen,

Die Berücksichtigung von Amtsermittlungsdefiziten als wesentliche Teilursachen für den nicht zu erbringenden Vollbeweis.

Frage 7. Angesichts des Reformbedarfs fordern Sie sozial- und gesellschaftliche Konsequenzen von der Bundesregierung. Was sind die wichtigsten Forderungen gegenüber der Bundesregierung und gegenüber den Arbeits- und Sozialministern der Bundesländer?

Die Kernpunkte des sozialpolitisch vordringlichen Handlungsbedarfs finden sich im Teil II unseres Beitrags „Sozialpolitische Problematik bei der medizinischen Begutachtung“, Soziale Sicherheit 12/2016 auf den S. 9 – 13 detailliert aufgeführt.

Frage 8. Die lange Latenzzeit macht den asbestbedingten Krebs zu einer Zeitbombe. Zugleich ist sie Tarnkappe, mit der die Asbestlobby die tödliche Epidemie auch heute noch in Asien, insbesondere in China, Indien und Entwicklungsländern verschleiert.

Nach neuesten Analysen von Furuyu et al. (Mai 2018) sind arbeitsplatzbezogene Asbestexpositionen weltweit für 233 000 Asbesttote pro Jahr verantwortlich. Besteht die Gefahr der Verbreitung „falsch negativer Asbestkörperchenzählungen“ auch in anderen Ländern mit den entsprechend sehr negativen Konsequenzen für Asbestopfer und ihren Familien?

Offenkundig versucht die Asbest-Lobby weltweit auch weiterhin die todbringenden Folgen insbesondere der arbeitsbedingten Gefährdungen bei der Bearbeitung von Asbestprodukten zu verschleiern. Dies gilt insbesondere für die genannten, sich technisch und wirtschaftlich stark entwickelnden Länder. Zunächst wurde die von Pathologen in Westdeutschland eingeführte und praktizierte Methode der Asbestkörperzählung mit Unterstützung durch die Kanadische Asbestindustrie immerhin erfolgreich an prominente Fachvertreter der Pathologie in den USA vermittelt. Sowohl 1997 als auch 2014 wurde dadurch der Versuch einer weltweiten Weiterverbreitung im Rahmen der sogenannten „Helsinki- Kriterien“ unternommen. International entgegengetreten wurde derartigen Fake News von den Wissenschaftlern/Innen des Collegium Ramazzini durch die Veröffentlichung eines entsprechenden Einspruchs.

Frage 9. Nach dem Willen des Europaparlaments soll Europa bis 2028 asbestfrei sein. Trotz des Asbestverbots in Deutschland 1993 sowie 2005 in der EU sind Millionen Tonnen asbesthaltiger Materialien in öffentlichen Gebäuden, Schiffen, Zügen und anderen Einrichtungen zu beseitigen. Was muss getan werden, dass diejenigen, die Asbestbeseitigungen durchführen und uns vor dem todbringenden Asbeststaub schützen, nicht zu einer zweiten Welle von Asbestopfern werden?

Namhafte Experten/Innen der Sicherheitstechnik verfügen bekanntermaßen national und international über ein außerordentlich vielfältiges, reiches sowie derzeit noch abrufbares Fachwissen hinsichtlich der Lokalisation und Mengen des besonders nach Ende des II. Weltkrieges z. B. in öffentlichen Gebäuden, Schiffen, Zügen und zahlreichen anderen Einrichtungen verwendeten Asbestmengen. Mit der Aktivierung und Weitergabe dieser Erfahrungen und Kenntnisse sollte nicht lange gewartet werden. Die heute mit Wartungs- und Sanierungsarbeiten Beschäftigten, müssen sicherheitstechnisch optimal vor dem Krebsgift Nr. 1 geschützt werden. Solche Aufgaben dürfen nicht zur Ursache einer nochmaligen Asbestopferwelle werden. Daher müssen die Informations- und Trainingsaktivitäten für diese Personengruppen stark intensiviert werden. Auch ich begrüße deshalb besonders die europaweit anwendbaren Informationsmodule für ein sicheres Arbeiten im Umgang mit Asbest bei der Wartung von Anlagen und dem Entfernen von Asbest. Sie wurden für die 28 EU-Länder von der EFBWW erarbeitet. Außerdem ist ein Asbestregister dringend erforderlich, um den Krebsgefahren nicht nur am Arbeitsplatz sondern auch in der benachbarten Umwelt systematisch zu begegnen. Denn besonders hierdurch lassen sich Rückschlüsse auf asbestbelastete Gebäude und die Gefährdungen durch Asbesterkrankungen ziehen. Besonders wichtig für die Praxis erscheint deshalb die Untersuchung der EFBWW „Asbestregister“. Sie erfolgte im Auftrag der EU in allen Mitgliedsstaaten. Bedenklich stimmt die Tatsache, dass nur in Polen ein funktionierendes, öffentlich zugängliches Asbestregister entwickelt wurde. Deutschland, als einer der größten Asbestverbraucher in Europa vor dem Verbot 1993, ist entsprechend der Resolution des Europäischen Parlaments von 2013 für ein asbestfreies Europa aufgefordert, ein solches Asbestregister endlich einzurichten. Denn es sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass schon 1991 von G. Albracht und O. Schwerdtfeger in ihrem Buch „Herausforderung Asbest“ auf den Seiten 393 ff. die Bedingungen für ein solches Asbestkataster ausführlich beschrieben wurden. Praxisbezogene Ergänzungen ließen sich gleichfalls aus den ggf. noch aktenkundigen, weil arbeitsanamnestisch gewonnenen und archivierten Erfahrungen mit den früher durch Asbestfaserstaub am Arbeitsplatz gefährdeten und später deshalb Erkrankten beisteuern. Einbezogen werden sollten auch entsprechende Veröffentlichungen, wie sie beispielsweise 1990 in New York unter Leitung von Irving Selikoff anlässlich der Tagung „Asbestos in Place“ vorgetragen wurden, vgl. Woitowitz, H.-J.: German experiences with exposure to asbestos in place. Conference of the Collegium Ramazzini „The Third Wave of Asbestos Disease: Exposure to Asbestos in Place. Public Health Control.“ New York, USA, 06.- 09.06.1990

Frage 10. Was können wir aus der Asbesttragödie für die rund 100 Krebsstoffe am Arbeitsplatz bezüglich der Reduzierung des Krebsrisikos und des Schutzes der Arbeitnehmer/Innen lernen?

Die verhängnisvollen Versäumnisse beim Umgang mit Asbest, die menschlichen Tragödien sowie die Asbestspätfolgen müssen auch zu einer kritischen Betrachtung der übrigen, weitaus mehr als 100 Krebsstoffe führen. Selbst für krebserzeugende Stoffe, die in tausenden Jahrestonnen produziert und verarbeitet werden, fehlen in Deutschland epidemiologische Studien. Dies gilt, obwohl die Deutsche Forschungsgemeinschaft bereits 1981 ihre „Berufskrebsstudie“ veröffentlichte. Die Autoren (Horbach L., Loskant H. et al. 1981) kamen damals zu dem Ergebnis, „dass etwa 25 Prozent sämtlicher Tumoren, die bei Werksangehörigen auftraten, beruflichen Einflüssen zuzuschreiben sind“. Allein die jährlich weltweit 233 000 Asbesttoten und das Leid vieler Tausend weiterer Asbesterkrankter und ihrer Familien sollten ein Alarmruf an die Gesellschaft, die Unternehmen und verantwortlichen Bundes- und Landesminister sein, um nicht nur rechtzeitig wissenschaftlich fundierte Studien zu den Folgen der Herstellung und Anwendung solcher Krebsstoffe durchzuführen, sondern auch entsprechende Maßnahmen treffen zu können. Denn zu den existenziellen Bedrohungen durch eine Vielzahl krebserzeugender Arbeitsstoffe kommt es nach wie vor aber nicht allein bei der Produktion, sondern erfahrungsgemäß besonders auch bei deren Anwendung oder Entsorgung.

Frage 11. Sie sind seit vielen Jahren und Jahrzehnten in der Arbeitsmedizin und im Umfeld Sicherheit und Gesundheit tätig. Wie hat sich das „Klima“ in diesem Umfeld über die Jahre und Jahrzehnte betrachtet verändert?

Durch die Globalisierung und Digitalisierung sind neue, große arbeitsmedizinische Probleme entstanden. Auch sie erfordern zu Recht vielfältige und baldmögliche Lösungsansätze. Stärker als bisher muss deshalb an allen Arbeitsplätzen jeder dadurch ggf. entstehenden Gefährdung präventiv begegnet werden. Denn es gilt mehr denn je, die arbeitsbedingten Verletzungen der Grundrechte eines Menschen hinsichtlich seines Lebens und seiner körperlichen Unversehrtheit entschiedener als in der Vergangenheit zu bekämpfen.
Albracht: Herr Prof. Woitowitz, vielen Dank für dieses Interview. Sie werden zurecht als Anwalt der Patienten bezeichnet, der für eine intensive, unabhängige Forschung, für ein kompromissloses Mahnen der Krebsrisiken am Arbeitsplatz, sowie für die gesetzeskonforme Unterstützung der Berufskrebsopfer steht.


Kernpunkte des sozialpolitisch vordringlichen Handlungsbedarfs

Woitowitz, Heilmann und Baur haben sich in „Soziale Sicherheit 12/2016“ grundlegend zur „Sozialpolitischen Problematik bei der medizinischen Begutachtung todbringender Krankheiten“ auseinandergesetzt und u.a. folgende Kernpunkte des vordringlichen Handlungsbedarfs an Beteiligte und an den Gesetzgeber adressiert.

Sie fordern die Festschreibung der alleinigen Kompetenz des Verordnungsgebers zur Vorgabe von Dosisgrenzwerten bzw. weiterer „Abschneidekriterien“, eine gewissenhafte, professionell-sicherheitstechnische Amtsermittlung, die Dokumentation von Vollzugsdefiziten bei der Wahrnehmung der unternehmerischen Ermittlungs- und Überwachungspflichten sowie prioritär unabhängige, ggf. vereidigte sicherheits- technische Sachverständige bei der richterlichen Amtsermittlung. Im Hinblick auf den ausführlich dargelegten Reformbedarf fordern sie sozial-und gesellschaftspolitische Konsequenzen von der Bundesregierung: So die „Einrichtung einer unparteiischen, außergerichtlichen Schlichtungsstelle für ein Ombudsmann-Frau-Verfahren“ im Sinne der Staatlichen Gewerbeärzte/Innen und der Gewerbeaufsicht sowie die „Änderung des § 9 Abs. 3 SGB VII mit dem Ergebnis einer Beweislastumkehr zugunsten des Versicherten und seiner Hinterbliebenen“.

Damit die „Legislative den erforderlichen direkten, eigenständigen Einblick in die Rechtspraxis der Rechtsanwender vor dem Hintergrund des Artikels 2 Abs. 2 GG erhält“ und im Hinblick auf den dringenden Reformbedarf und der Tatsache tausendfacher Berufskrebs-Erkrankungen jährlich, schlagen die Autoren die „ Einrichtung eines Beauftragten für todbringende Berufskrankheiten des Deutschen Bundestages“ vor.


DFG-Senatskommission: 54. MAK- und BAT-Werte-Liste

Die Ständige Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat die MAK- und BAT-Werte-Liste 2018 vorgelegt. Die Liste wurde jetzt an den Bundesminister für Arbeit und Soziales übergeben. Sie enthält 95 Änderungen und Neuaufnahmen, ist in gedruckter Form sowie digital im Open Access verfügbar. Die MAK- und BAT-Werte-Liste enthält neben den namensgebenden MAK-Werten – Maximale Arbeitsplatz-Konzentration, sprich den Stoffmengen, die als Gas, Dampf oder Aerosol in der Luft am Arbeitsplatz langfristig keinen Schaden verursachen – Angaben darüber, ob Arbeitsstoffe Krebs erzeugen, Keimzellen oder in der Schwangerschaft das werdende Kind schädigen, Haut oder Atemwege sensibilisieren oder in toxischen Mengen über die Haut aufgenommen werden. Sie weist außerdem die Konzentration eines Stoffes im Körper aus, der ein Mensch sein Arbeitsleben lang ausgesetzt sein kann, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen (BAT-Werte). Außerdem beschreibt sie die Biologischen Leit-Werte (BLW) sowie die Arbeitsstoff-Referenzwerte (BAR). Die Vorschläge für Änderungen und Neuaufnahmen stehen bis zum 31. Dezember 2018 zur Diskussion.

Eine detaillierte Liste mit allen Neuaufnahmen und Änderungen der MAK- und BAT-Werte-Liste, den Zugang zu den Open-Access-Publikationen der MAK Collection sowie weitere Informationen über die Arbeit der Senatskommission finden Sie unter: www.dfg.de/mak.

Die digitale Fassung der MAK- und BAT-Werte-Liste steht seit diesem Jahr nicht nur in deutscher und englischer Sprache, sondern auch auf Spanisch zur Verfügung. Die von der Senatskommission veröffentlichten Daten bieten zahlreichen lateinamerikanischen Schwellenländern – denen Ressourcen für evidenzbasierte Arbeitsschutzgrenzwerte und Leitlinien für Vorsorgeuntersuchungen fehlen – eine unabhängige und fachlich fundierte Informationsquelle. Die Kommission trägt damit zur Weiterentwicklung und zum aktiven Arbeitsschutz in Ländern bei, deren wirtschaftliche Verflechtungen zunehmend globaler werden.
(Quelle: Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V.)


LV 45: erweitert um Tätigkeiten an Asbest – Leitlinien zur Gefahrstoffverordnung

Der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) veröffentlichte am 31. Oktober 2018 die erweiterte LV 45 „Leitlinien zur Gefahrstoffverordnung“ mit den Leitsätzen zu Tätigkeiten an Asbest.

Zentrales Element der Ergänzung sind zwischen den Ländern im Sommer 2018 abgestimmte „Leitsätze“ zur Auslegung der Verbote und Beschränkungen nach Anhang II Nummer 1 Gefahrstoffverordnung. Diese Leitsätze sollen dazu beitragen, Unterschiede in der behördlichen Vollzugspraxis zu vermeiden und den Aufsichtsbehörden eine verlässliche Grundlage für ihr Handeln in diesem konfliktreichen Aufgabenbereich zu geben.

Der nationale Asbestdialog hat vor Augen geführt, dass für alle Beteiligten die Klarstellung, welche Tätigkeiten an Asbest als zulässig bzw. unzulässig im Sinne der Gefahrstoffverordnung einzustufen sind, besonders drängend ist. Die nun veröffentlichte gemeinsame Länderposition wurde weiter vor dem Hintergrund des Urteils des Oberverwaltungsgerichtes Magdeburg zur Überdeckung von sog. Morinolfugen getroffen.

Hintergrund: Die letzte Aktualisierung dieser Leitlinien zur Gefahrstoffverordnung liegt inzwischen sechs Jahre zurück. Die nächste Überarbeitung sollte ursprünglich nach der für 2015 geplanten, umfassenden Novellierung der Gefahrstoffverordnung erfolgen. Diese Novellierung verzögert sich jedoch weiter. Zugleich gibt es aber wegen zahlreicher Detailänderungen in der Gefahrstoffverordnung mit den kleinen Novellen 2013 und 2015 und aktueller Fragen aus der Praxis deutlichen Bedarf für eine überarbeitete Neuauflage. Die „Ergänzung 2018“ ist auf den Abschnitt I (Asbest) beschränkt ist. Im Übrigen geben diese Leitlinien weiterhin den Stand von 2012 wieder.

Weiterhin hat der LASI am 22. Oktober eine aktualisierte Liste der anerkannten Lehrgangsträger für Asbestsachkunde nach TRGS 519 in Deutschland veröffentlicht! Denn: Unternehmen, die Tätigkeiten an Asbest durchführen benötigen mindestens einen Sachkundigen vor Ort, der diese bei einem staatlich anerkannten Lehrgangsträger nach TRGS 519 erworben und regelmäßig aufgefrischt hat. Um den Unternehmen die Suche nach einem geeigneten Lehrgangsträger zu erleichtern veröffentlicht der LASI nun eine bundesweite Liste. Hier sind die Lehrgangsträger nach Bundesland sortiert aufgelistet.

Die Regeln der Gefahrstoffverordnung im Zusammenhang mit notwendigen Tätigkeiten an asbesthaltigen Produkten bauen auf dem Prinzip auf: Je höher das Gefährdungspotential, umso höher werden die Anforderungen an Sachkunde der Beschäftigten (vgl. Nr. 2.4.2 Abs.3 GefStoffV) und an die technische Ausstattung des ausführenden Unternehmens (vgl. dazu Nr. 2.4.3. – Nr. 2.4.5). Aufgrund des hohen krebserzeugenden Gefährdungspotentials beim falschen Umgang mit Asbest bzw. asbesthaltigen Materialien wird von gewerblichen Asbestunternehmen und Handwerkern Sachkunde nach TRGS 519 gefordert. Diese ist durch einen Lehrgang zu erlangen und wird durch einen Sachkundenachweis in Form einer Urkunde, Teilnahmebestätigung oder Urkunde bestätigt. Sachkundenachweise gelten bundesweit und werden seit Juli 2013 auf sechs Jahre befristet und bleiben nur gültig, wenn rechtzeitig ein Fortbildungslehrgang besucht wird.

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