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„Gute Praxis“ am Handlauf

Es gibt Unternehmen, die haben die Benutzung eines Handlaufs beim Begehen einer Treppe zur strafbewehrten Pflicht erklärt. Wer eine Treppe begeht, ohne den Handlauf zu benutzen, riskiert eine Abmahnung. Andere Unternehmen haben sich dazu durchgerungen diese Verhaltensvorgabe dringend zu empfehlen. Wer vermeiden will streng von der Seite angesprochen zu werden, vermeidet Zuwiderhandlungen und fügt sich den Anordnungen. Wieder andere Unternehmen weisen darauf hin, dass die Benutzung des Handlaufs vom Unternehmen befürwortet wird. Es gibt auch Unternehmen, in denen gar nicht darüber geredet wird.

Selbstverständlich macht es Sinn, den Handlauf zu „begreifen“. Die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes oder gar einer schweren Verletzung dürfte geschätzt um 70 bis 80% sinken. Andererseits weiß jeder Techniker zu berichten, dass es für jedes Problem mindestens 100 Lösungen gibt. Welches ist die Beste? Kommt drauf an! Der Arbeitsschutz liegt in der Tradition, eine Verhaltensweise als die einzig Richtige zu favorisieren.

Hinter der Verhaltensvorgabe „Handlauf benutzen“ steht die Annahme, dass sichere Gewohnheiten gebildet werden, die irgendwann automatisiert sind (siehe Angurten im Auto). Die Hand greift dann von allein zum Handlauf, ohne dass darüber nachgedacht werden muss. Diese Funktion wird immer wieder von vielen bestätigt.

Wer allerdings die Hand am Handlauf hat (weil es verlangt wird), mit der anderen Hand aber das Handy am Ohr, hat den Sinn dieser Verhaltensanweisung nicht verstanden. Ähnliches gilt für Ablenkungen jeglicher Art: Mit den Gedanken schon zu Hause, in der nächsten Besprechung oder auf der Treppe mit einem Kollegen im Gespräch vertieft. Die Reaktionszeit zwischen „Straucheln“ (Impuls Füße ans Gehirn) und festem Zugreifen (Impuls Gehirn zur Hand) dürfte im Bereich von Millisekunden liegen und kann dennoch zu lange dauern. Aus diesem Grund erfordern sichere Gewohnheiten dennoch eine kritische Wahrnehmung. Wer die Treppe als einen Ort eines erhöhten Risikos im Kopf gespeichert hat, wird bei der Bewältigung einer Treppe eine höhere Präsenz, Konzentration und Aufmerksamkeit an den Tag legen. Kommt beides zusammen, Anfassen und Präsenz, dürfte die größtmögliche Schutzfunktion erfüllt sein.

Die Statistik weist aus, dass ein großer Teil von Treppenunfällen auf der letzten Stufe erfolgt. Im Kopf liegt die Treppe bereits hinter einem. Das Risiko ist bewältigt. Die Gedanken sind schon bei der nächsten Herausforderung, und dann kommt da noch so eine zusätzliche Stufe …, also bitte, in den nächsten vier Wochen volle Aufmerksamkeit auf die letzte Stufe.

In Deutschland können wir darauf vertrauen, dass Stufenhöhen genormt sind. Schnell stellt sich ein Schrittrhythmus ein, der aus eigenen Lebenserfahrungen im Kopf verankert ist. Sportlich durchtrainierte Menschen, die sich unter anderem etwas beweisen müssen, veranstalten Wettrennen.

Allerdings entspricht die Treppe zur selbstgebauten Veranda zu Hause eher den Geländevorgaben als einer Normvorgabe. Die kleine Führungsschiene an der Schiebetür zum Wintergarten hätte auch in den Boden eingelassen werden können, hätte aber zusätzlich gekostet. Die Aufpolsterung der heimischen Treppenstufen hat zur Folge, dass die erste Stufe ein wenig höher geworden ist und die Letzte ein wenig niedriger. Diese „Kleinigkeiten“ kennt aber jeder Hausbewohner und hat sich dran gewöhnt. Im Normalfall wird das richtige Schrittmaß abgerufen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Aber
bei Abweichungen vom Normalfall, bei Ablenkungen oder besonderer Hektik, da kann es schon mal tragisch werden.

Andererseits kann jeder nachvollziehen, dass ausgetretene Sandsteinstufen in historischen Gebäuden oder sehr steile oder schiefe Treppen, die von vornherein Gefahr ausstrahlen, automatisch das Bedürfnis auslösen, sich festhalten zu wollen. Sind dann keine Handläufe vorhanden oder diese kaputt oder wackelig, wird jeder Schritt sorgfältig abgewogen. Konzentration und Aufmerksamkeit steigen.

Aus diesen Beispielen folgt:

Aus der Umgebungsbedingung und der individuellen Verfassung erfolgt eine persönliche Risikoeinschätzungen.

Aus dem Ergebnis ergibt sich die individuelle Bereitschaft zur Vorsorge!

Schätzt jemand eine Situation als „saugefährlich“ ein, wird jeder nach Vorsorgemaßnahmen rufen oder danach suchen bzw. fremdbestimmte Maßnahmen wie selbstverständlich akzeptieren. Wird ein Risiko unterschätzt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann schief geht. Preisfrage: Welches Risiko wird gefährlicher eingeschätzt? Treppe runter gehen oder Treppe rauf gehen?

In einer zufälligen, nicht repräsentativen Erhebung wurden zum Schichtwechsel 900 Mitarbeiter der Automobilbranche auf einer Treppe beobachtet. Die Umkleideräume waren im Keller angelegt, der durch eine breit angelegte Treppe mit 30 Stufen zu erreichen war. Von den 900 Beobachteten hatten 10 Treppengänger Bodenkontakt, d. h. sie haben sich mit den Händen auf der Treppe aufgefangen (Beinahunfall). Glücklicherweise beim Raufgehen. Glücklicherweise keine Verletzung. Rund gerechnet bedeutet das in der Tendenz: Von 100 Teilnehmern strauchelt bei 30 Stufen eine Person. Hochgerechnet bedeutet das: Es muss damit gerechnet werden, dass jeder Mensch durchschnittlich alle 3.000 Stufen einmal ins Straucheln geraten kann. Rechnet man so weiter, dann wird von 100 Teilnehmern, die straucheln, einer dabei sein, der sich z.B. ein blaues Knie einhandelt. Von 100, die ein blaues Knie haben, wird vielleicht ein Teilnehmer dabei sein, der sich einen Knochenbruch zuzieht usw.. Hier spiegelt sich die Unfallpyramide wider, bzw. bezogen auf die Unfallschwere ein Verletzungskegel. Zwischen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß besteht kein direkter Zusammenhang.

Bei der Einführung neuer Verhaltensvorgaben muss immer mit Widerständen gerechnet werden (s. COVID-19-Pandemie). Fühlen sich Personen durch die Pflicht den Handlauf zu benutzen gegängelt, kann es zu Protesthaltungen kommen. Sich von alten Gewohnheiten zu trennen ist ein Prozess. Es gibt keinen Schalter im Kopf, der umgelegt werden kann, und ab sofort wird alles anders gemacht. Allerdings wird bei denjenigen ein Knopf gedrückt, die gerade einen schmerzhaften Sturz erlitten haben. Eine Zeit lang ist die Risikoeinschätzung sehr hoch. Durch die Verunsicherung greift die Hand (vorläufig) von allein zum Handlauf. Geht es allerdings einige Wochen ohne kritische Situationen (weil die Hand ja am Handlauf ist), sinkt die Risikoeinschätzung und das Vorsorgeverhalten wird wieder nachlässiger. Dieses Präventions-Paradoxon gibt es nicht erst seit Corona.

Entscheidend ist, auch das hat Corona gelehrt, die Nachvollziehbarkeit von Verhaltensanweisungen, die durch Entscheidungen des Managements abverlangt werden. Bewährt haben sich Aktionsmedien, die eine Risikosituation unter kontrollierten Bedingungen emotional erlebbar werden lassen.

Um die Sinnhaftigkeit des Festhaltens am Handlauf zu verdeutlichen, wurde die Installation „SturzFrei“ entwickelt. Drei Stäbe in der Symbolik eines Handlaufs hängen durch Elektromagnete an einem Rohrbogen. Wer auf der Treppe ins Straucheln gerät, sieht aus den Augenwinkeln den Handlauf an sich vorbeisausen. Es entsteht der gleiche Effekt, wenn,durch eine Fernbedienung ausgelöst die Handlaufattrappen herunterfallen. Interessierte und Zweifler können ausprobieren, den Handlauf im letzten Moment noch zu greifen, wenn die Hand in der Hosentasche ist, an der Hosennaht anliegt oder die Betreffenden von anderen Ereignissen abgelenkt sind.

Das Aktionsmedium „SturzFrei“ kann wochenweise ausgeliehen werden. Ein Moderationsleitfaden versetzt Sicherheitsbeauftragte in die Lage, Kollegen von der Sinnhaftigkeit, den Handlauf zu begreifen, zu überzeugen.

Weitere Informationen:

www.institut-input.de/sturzfrei.html


Autor:

Dipl.-Ing. Reinhard R. Lenz

Geschäftsführer der Institut Input GmbH

Beratung, Qualifizierung, Mediengestaltung

Kaiserstraße 80, 44135 Dortmund

Tel.: 0231 584492–0

E-Mail: info@institut-input.de

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