Arbeitsschutz

„Die EU-OSHA kann wichtige Pionierarbeit leisten“

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Eigentlich fühlte sich alles zunächst so gut an: Mit der Arbeit mal aus dem Büro verschwinden, vielleicht ins Café um die Ecke oder auf den heimischen Balkon; mal nicht nur immer die gleichen Aufgaben erledigen, sondern in die zahlreichen, ineinander verzahnten Prozesse eingebunden sein; vielleicht auch mal am Wochenende an etwas sitzen, dafür aber unter der Woche einen freien Tag genießen.

Doch irgendwann wurde aus dem Angebot der Flexibilität des modernen Arbeitsplatzes eine Erwartung, eine Verpflichtung, eine Belastung – ein weiterer Stressfaktor in einem Arbeitsumfeld, dessen starker Termin- und Leistungsdruck mehr und mehr sprichwörtlich an die Nieren geht. Sollten wir also alle gemeinsam mal vom Gas gehen? Ganz so einfach ist es nicht, denn ganz ohne „guten“ Stress fühlen sich viele Menschen unterfordert und nicht ausreichend motiviert, Stagnation und Langeweile sind die Folge. Dann lieber doch noch einen weiteren Auftrag übernehmen? Das berüchtigte Multi-Tasking – ein nimmersatter Motivator? Laut des, durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin herausgegebenen, „Stressreport“ ist es inzwischen Spitzenreiter der psychisch belastenden Anforderungen. Der Balance-Akt ist heikel.

„Die Entwicklungen der modernen Arbeitswelt haben der Mehrheit der Arbeitnehmer einerseits gewisse Verbesserungen gebracht, etwa durch technologische Fortschritte oder erhöhte Flexibilität,“ sagt Prof. Dr. Johannes Siegrist, Seniorprofessor und ehemaliger Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie an der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Prof. Dr. Siegrist hat jahrelang zum Thema psychosoziale Arbeitsbelastung geforscht und ist einer der führenden Experten auf dem Gebiet. „Andererseits haben bestimmte Arbeitsbelastungen zugenommen, die man sehr pauschal als Stress bezeichnen kann. Insbesondere im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung erleben viele Beschäftigte eine spürbare Zunahme des Leistungsdrucks, häufig gepaart mit steigender Arbeitsplatzunsicherheit. Es ist diese Kombination von verschärften Anforderungen und verringerter Sicherheit und Belohnung, die den Betroffenen unter die Haut geht und sie langfristig bestimmten gesundheitlichen Gefährdungen aussetzt.“

Dabei kann man feststellen, dass es in Deutschland im europäischen Vergleich noch Verbesserungspotential gibt – und das trotz gut ausgebautem Netz sozialer Sicherung und relativ stabilen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie verhältnismäßig niedriger Arbeitslosigkeit und moderatem Wachstum. In einigen Ländern, insbesondere Nordeuropas und Skandinaviens, nimmt die Förderung der Gesundheit einen größeren Stellenwert ein.

„Es könnte von Seiten der Arbeitgeber durchaus mehr Interesse an Investitionen in gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen geben, wo doch mehrfach gezeigt worden ist, dass sich solche Investitionen mittelfristig auch wirtschaftlich auszahlen“, so Siegrist.

Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) zu. Sie setzt sich für sicherere, gesündere und produktivere Arbeitsplätze in Europa ein. „Die EU-OSHA spielt im weiteren Gestaltungsprozess der Europäischen Gemeinschaft durchaus eine wichtige Rolle“, so Siegrist. „Gerade angesichts immer komplexerer transnationaler wirtschaftlicher und sozioökonomischer Zusammenhänge stoßen nationale Zuständigkeiten für arbeits- und sozialpolitische Programme an ihre Grenzen. Da kann die EU-OSHA wichtige Pionierarbeit leisten.“

Im Interview spricht Prof. Dr. Johannes Siegrist über den idealen gesunden Arbeitsplatz sowie den Zusammenhang von Stressniveau und Arbeitskraft und plädiert für mehr Menschlichkeit im Arbeitsumfeld.

Inwiefern ist Stress bei der Arbeit eine Herausforderung für Arbeitgeber?
Erhöhte Fehlzeiten, vermindertes Leistungsvermögen und frühzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben stellen Herausforderungen dar, denen Arbeitgeber mit geeigneten präventiven Maßnahmen begegnen sollten. Hier sehen wir ein Spannungs- und Konfliktfeld, das sich überall in Europa zeigt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – in süd- und osteuropäischen Ländern mehr als in nord- und westeuropäischen Staaten.

Inwiefern sind sich verändernde Arbeits- und Lebensbedingungen ursächlich für das Stressniveau am Arbeitsplatz?
Zwei international anerkannte Arbeitsstressmodelle ermöglichen hier eine Antwort: das sogenannte Anforderungs-Kontroll-Modell und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen. Bei ersterem geht es um Stress in Form quantitativ hoher Anforderungen am Arbeitsplatz, zu deren Bewältigung jedoch nur ein geringer Entscheidungs- und Kontrollspielraum gegeben ist. Das gilt vor allem für Bandarbeit unter Zeitdruck. Das zweite Modell erfasst Belastungen, die aus unfairer, niedriger Belohnung im Vergleich zu erbrachter Leistung resultieren. Zu Belohnungen zählen dabei nicht nur Geld, sondern auch berufliches Fortkommen, sichere Arbeit sowie erfahrene Wertschätzung.

Welchen Einfluss haben diese Umstände auf die Arbeitskraft?
In einer großen Zahl wissenschaftlicher Studien ist gezeigt worden, dass eine über mehrere Jahre auf diese Weise erfahrene Stressbelastung die Wahrscheinlichkeit einer depressiven Störung oder einer koronaren Herzkrankheit erhöht. Im ersten Fall ist das Risiko etwa 80 %, im zweiten Fall etwa 30 % höher, als wenn man den Faktor Stress nicht berücksichtigt. Bei diesen nicht sehr hohen Werten muss jedoch berücksichtigt werden, dass die erwähnten Formen von Arbeitsstress im Durchschnitt bei jeder vierten beschäftigten Person festgestellt worden sind. Es besteht somit ein erheblicher präventiver Handlungsbedarf, um die Leistungsfähigkeit und Gesundheit arbeitender Menschen langfristig zu erhalten und zu stärken.

Welche sinnvollen Instrumente zur systematischen Stressbewältigung am Arbeitsplatz stehen zur Verfügung?
Es gibt eine Reihe von Modellen, an denen engagierte Betriebe und Unternehmen sich orientieren können. Sie zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass neben Programmen zur Verbesserung gesundheitsfördernden Verhaltens der Beschäftigten – wozu auch die individuelle Stressbewältigung zählt – strukturelle Aspekte optimierter Arbeitsorganisation sowie verbesserter Kommunikation und Kooperation berücksichtigt werden. Dies schließt auch eine angemessene Führungs- und Unternehmenskultur ein. Unsere Forschungen zeigen allerdings, dass Anstrengungen, die auf die Ebene einzelner Betriebe begrenzt bleiben, nicht ausreichen, um einen nachhaltigen Gesundheitseffekt auf der Ebene ganzer Belegschaften zu erzielen. Hierzu bedarf es eines verstärkenden Kontexts aktiver arbeitsmarktpolitischer und gesundheitspolitischer Maßnahmen auf nationaler Ebene.

Was kann auf Organisationsebene getan werden, um Stress zu bewältigen und Gesundheit am Arbeitsplatz zu verbessern? Anders gefragt: Wie sieht ein gesunder Arbeitsplatz aus?
Merkmale guter Arbeit sind etwa das Vermeiden bzw. die wirksame Kontrolle von physischen Belastungen und Unfallgefahren durch betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie ausreichender Schutz vor Bedrohung der persönlichen Integrität und des beruflichen Status. Auch die Gewährung wirksamer Chancen der Mitbestimmung in Verbindung mit anspruchsvollen, weder über- noch unterfordernden Tätigkeiten, die angemessene Kontrolle ermöglichen und von den Beschäftigten als sinn- und wertvoll erfahren werden können, machen gute Arbeit aus. Hinzu kommen die Teilhabe an wichtigen Informations- und Kommunikationsprozessen, Angebote beruflicher Qualifizierung und persönlicher wie beruflicher Entwicklung, eine faire Bezahlung ebenso wie eine angemessene nicht-materielle Würdigung von Leistung und schließlich gute Vereinbarkeit mit außerberuflichen Verpflichtungen und Präferenzen.

Welchen Stellenwert nimmt ein gesunder Arbeitsplatz in Zukunft ein und inwiefern wird dieser für den Erfolg von Unternehmen entscheidend sein?
Ausreichende Chancen einer vertraglich gesicherten und guten Arbeit zu gewährleisten, wird auch in absehbarer Zukunft ein vorrangiges Ziel moderner Gesellschaften bleiben. Im Vordergrund steht allerdings die Vereinbarkeit ökologischer und wirtschaftlicher Prioritäten. Dabei wird entscheidend sein, ein wirksames Gegengewicht zu den destruktiven Wirkungen des Prinzips Eigennutz aufzubauen, indem die kostbaren humanen Ressourcen der vertrauensvollen Kooperation und des solidarischen Handelns gestärkt werden.

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