Arbeitsschutz

Gefährdungsbeurteilung Nanopartikel

Nanopartikel werden heute in der Produktion weithin aktiv eingesetzt, können aber auch im Rahmen verschiedener Prozesse freigesetzt werden. In beiden Fällen kann es zu Gesundheitsgefährdungen für die Mitarbeiter kommen. Nanomaterialien unterliegen der Gefahrstoffverordnung und erfordern in ihrem Einsatz oder bei ihrer Freisetzung eine Gefährdungsbeurteilung.

Nanopartikel sind aus der Industrie nicht mehr wegzudenken und bereits in vielen Produkten enthalten (Müller et al. 2008). Auf der anderen Seite werden sie nicht nur aktiv und gezielt eingesetzt, sondern auch bei diversen Prozessen z. B. bei Schweiß- und Schleiftätigkeiten passiv und ungezielt freigesetzt (Möhlmann 2007). Sowohl der gezielte als auch der ungezielte Umgang unterliegen der Gefahrstoffverordnung, weil entweder

· die Grundmaterialien bereits Gefahrstoffe sind (z. B. Cadmium-Tellurit, Indiumphosphid, Nickel u. a.) oder

· sie als Stäube auftreten oder

· es hinreichende Verdachtsmomente auf eine Gesundheitsgefährdung gibt (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 GefStoffV)

Dementsprechend ist nach § 5 Arbeitsschutzgesetz, spezifiziert durch § 6 Gefahrstoffverordnung, eine Gefährdungsbeurteilung zu erstellen, wobei sowohl die stoffspezifischen Eigenschaften als auch die durch die Tätigkeiten auftretenden Expositionslagen zu berücksichtigen sind. Dies ist allerdings nicht ganz einfach, da insbesondere die Stoffeigenschaften nicht immer ausreichend bekannt sind.

Toxikologische Basisinformationen
Es können hier nicht in Breite die toxikologischen Grundlagen ausgeführt werden, dies ist an anderer Stelle hinreichend geschehen (Müller et al. 2008, Schmid & Stoeger 2014). Insgesamt kann aber festgestellt werden:

· Nanopartikel werden sehr gut über die Atemwege und die Lunge aufgenommen, andere Aufnahmewege, wie Verschlucken oder Hautkontakt, erscheinen nach dem jetzigen Stand der Kenntnis weniger bedeutsam

· In der Lunge bzw. den Alveolen liegt die höchste Retentionsrate bei Partikelgrößen zwischen etwa 5 – 50 nm, wobei bis zu 50 % der in der Luft auftretenden Partikel zurückgehalten werden können

· Inhalierte Nanopartikel treten sehr gut in den Körper über und werden in allen Organen einschließlich des Gehirns gefunden

· Kleine Nanopartikel unter etwa 50 – 30 nm scheinen sich chemisch und somit möglicherweise auch toxikologisch anders zu verhalten als gröberes Material

· Die genauen Reaktionsmuster im Körper sind noch nicht ausreichend verstanden, aber insbesondere die Bildung freier Sauerstoffradikale scheint eine wichtige Rolle zu spielen

· Gentoxische, krebsauslösende oder mutagene Wirkungen werden insbesondere für Kohlenstoff-Nanoröhren angenommen (CNTs – Carbon Nanotubes), wenn diese eine WHO-Faser-Charakteristik zeigen.

Insgesamt sind – wie schon angedeutet – die toxikologischen Wirkmechanismen noch nicht voll erfasst und es sind auch unter den Bedingungen industriellen Einsatzes noch keine sauberen und eindeutigen Nachweise für Erkrankungen durch Nanomaterialien nachgewiesen, die wissenschaftlichen Ergebnisse deuten aber darauf hin, dass präventive Schutzmaßnahmen erforderlich sind.

Alles in allem und mit allen Nachteilen einer Verallgemeinerung kann davon ausgegangen werden, dass negative Gesundheitsfolgen besonders dann zu erwarten sind, wenn die Partikel

· in hoher Zahl auftreten,

· sehr reaktiv sind oder einem schon erkannten Gefahrstoff entstammen,

· besonders klein (< ca. 50 nm) sind, · eine hohe Biopersistenz und geringe Wasserlöslichkeit aufweisen und · als Fasern mit WHO-Charakteristik auftreten (CNTs). Gefährdungsbeurteilung: Zwei Modelle
Sowohl die unsichere Datenlage als auch die relative Neuheit des Themas bedingen, dass beide, Arbeitsmediziner und Fachkräfte für Arbeitssicherheit, bei der Gefährdungsbeurteilung nicht recht wissen, wie sie vorgehen sollen.

Zwei grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweisen wurden deshalb in der Vergangenheit veröffentlicht: Die Bekanntmachung 527 des Ausschusses für Gefahrstoffe aus dem Jahre 2013 (BekGS 527) sowie ein Matrixverfahren, das der Autor dieses Artikels 2011 vorgeschlagen hatte. Beide Verfahren sollen kurz dargestellt werden.

BekGS 527 „Hergestellte Nanopartikel“
Die grundsätzliche Vorgehensweise bei der Verwendung von Nanomaterialien ist in Abbildung 1 dargestellt. Es handelt sich dabei weniger um eine Feststellung der reinen Gefährdungen als vielmehr um eine Hilfe, die richtigen Schutzmaßnahmen anhand wesentlicher Arbeitsbedingungen und unter Verwendung relativ weniger Daten auszuwählen.

Die Vorgehensweise ist klar strukturiert und berücksichtigt nur wenige toxikologisch relevante Daten. Auf diese Weise kommt der Anwender relativ schnell und unkompliziert zu den jeweils notwendigen Schutzmaßnahmen.

Kritisieren kann man an diesem Ansatz:

1. Die BekGS beschränkt sich selbst auf hergestellte Nanopartikel und gibt keine hinreichende Hilfe für das Auftreten prozessbedingter Nanopartikel, also z. B. bei Schleif- und Sägearbeiten, thermischen Prozessen etc. Rein formell ist sie sogar in solchen Fällen nicht anzuwenden

2. Der Ansatz ist auf Schutzmaßnahmen ausgerichtet, er hilft wenig bei der Einstufung der Partikel im Sinne einer Skala ansteigender Gefährdungen. Der Sinn der Gefährdungsbeurteilung (GB) ist aber nicht nur, entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, sondern im Rahmen der GB einen Erkenntnisgewinn bzgl. der Natur der und über die Gefährdungen durch die verwendeten Materialien zu erhalten

3. Einige Hinweise sind nur bedingt hilfreich: Im oberen Bereich der Grafik werden in den „einfachen“ Fällen mindestens die allgemeinen Schutzmaßnahmen nach §§ 7 und 8 GefStoffV verlangt. Dieses „mindestens“ lässt aber offen, ob die genannten Maßnahmen ausreichen. Es wird nicht klar, ob der Ausschuss hier sich einer abschließenden Aussage verweigerte oder ob und anhand welcher Kriterien diese Grundmaßnahmen denn doch nicht ausreichen und durch zusätzliche Maßnahmen ergänzt werden müssen.

4. Ab der 5. Entscheidungsraute der Darstellung wird durchgängig und undifferenziert auf die Schutzmaßnahmen nach Nr. 4.4. der Bekanntmachung verwiesen. Dieser Abschnitt beinhaltet eine große Zahl an möglichen Schutzmaßnahmen, deren konkrete Anwendung jedoch eine weiter gehende Beurteilung benötigt. Wenn etwa im Rahmen des Explosionsschutzes festgestellt wird „Kann die Entstehung gefährlicher explosionsfähiger Atmosphäre z.B. durch Aufwirbeln oder Einfüllen von Staub nicht vermieden werden, so ist im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung eine Zoneneinteilung vorzunehmen“, deutet dies darauf hin, dass hier und in anderen Gefährdungsbereichen tiefer gehende Betrachtungen erfolgen müssen. Die Autoren der BekGS 527 kennzeichnen daher auch die Darstellung sehr richtig als „vereinfachte Darstellung“

5. Das Verfahren fokussiert sehr auf die Gefährdungen durch das Material, reflektiert aber nur indirekt die unterschiedlichen Arbeitsverfahren. Eine Differenzierung nach z. B. „offenen“ und „geschlossenen“ Verfahren ist nur implizit vorhanden (etwa bei der Frage nach der Höhe der Staubbelastung).

Trotz dieser Kritikpunkte, die ja z. T. der Vereinfachung der Darstellung als auch den noch unsicheren Erkenntnissen geschuldet sind, darf nicht übersehen werden, dass der vorgestellte Ansatz eine große Hilfe für die Praktiker darstellt. Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass ein Großteil der Beurteilungsarbeit noch nach dem Durchlaufen des in Abbildung 1 gegebenen Schemas erfolgen muss. Die BekGS 527 listet im Kapitel 4 diverse zu berücksichtigende Faktoren auf, eine Entscheidungshilfe für die Kombination der Parameter ist aber nicht gegeben.

Matrixverfahren
Ein anderer Weg ist in dem Vorschlag von Schneider (2011) gewählt worden. Dieses ist ein klassisches Matrixverfahren, das sowohl die Gefährdungen durch das Nanomaterial als auch durch die Arbeitsverfahren betrachtet und dann aus der Kombination beider eine Gefährdungsableitung versucht (Abbildung 2).

Die Kriterien für die jeweiligen Parameter sind in den Tabellen 1 und 2 wiedergegeben. Aus der Kombination der jeweils zutreffenden Bedingungen wird dann anhand der Abbildung 2 die Gefährdungshöhe für die jeweilige Tätigkeit abgelesen. Der Ansatz ist vor allem toxikologisch ausgerichtet und beansprucht für sich, sowohl die Gefährdungen durch technologisch eingesetzte als auch bei Arbeitsprozessen freigesetzte Nanopartikel zu berücksichtigen. Kritisieren lässt sich an diesem Vorschlag:

1. Die Bestimmung der jeweiligen Partikelklasse stellt hohe Ansprüche an die Datenlage. Auch wenn nicht jeweils alle Daten vorhanden sein müssen, so ist doch nicht zu übersehen, dass eine gewisse Qualität der Daten notwendig ist. Ob dies gerade in Arbeitsbereichen gewährleistet werden kann, in denen Nanopartikel eher passiv freigesetzt werden, darf bezweifelt werden.

2. Die Gefährdungsmatrix beruht nicht auf stringent gesundheitsbasierten Kriterien, sondern folgt eher einem „klassischen Schätzansatz“. Es gibt keine epidemiologischen oder medizinisch-toxikologischen „Grenzwerte“, um zwischen z.B. rot oder gelb zu unterscheiden. Dass eine solche Vorgehensweise im Arbeitsschutz nicht unüblich ist, ist natürlich keine ausreichende Begründung.

3. Die Verweise auf die Schutzmaßnahmen in der Originalpublikation sind eher allgemeiner Natur. Das war zwar zum damaligen Zeitpunkt verständlich, müsste heute aber konkretisiert werden.

4. Der Vorteil des Verfahrens ist jedoch, dass es sich bemüht, gesundheitsrelevante Daten – soweit bekannt – einzubeziehen. Dadurch wird der Anwender stärker gezwungen, sich mit dem Material oder den freigesetzten Stäuben analytisch zu beschäftigen. Dies ist nach Meinung des Autors ein wichtiger Bestandteil der Gefährdungsbeurteilung – auch in Bezug auf die Arbeitsmedizin und ihre Fürsorgerolle. Es kann nicht nur darum gehen, anhand weniger Kriterien direkt in Arbeitsschutzmaßnahmen zu verfallen, sondern es sollte im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung auch reflektiert werden, was der Einsatz / die Freisetzung bedeuten kann. Eine Reflektion der toxikologischen Grunddaten kann darüber hinaus auch helfen, eine sinnvolle Substitution vorzunehmen. So muss nicht immer gleich das Material oder der Arbeitsgang verändert werden, denn es könnte genügen, z. B. die Partikelgröße oder bei den CNTs die Fasercharakteristik zu verändern.

Synthese und Ausblick
Wie dargestellt zeigen beide Methoden zur Beurteilung der Gefährdungen durch Nanomaterialien Vor- und Nachteile, die hier nicht gegeneinander abgewogen werden sollen und können. Idealerweise könnte eine Kombination beider Methoden sinnvoll sein, wobei z. B. zunächst das Matrixverfahren zur Feststellung der Gefährdungen herangezogen werden könnte und dann in Ergänzung die BekGS 527 in die Schutzmaßnahmen leitet. Aber auch das gegenteilige Vorgehen wäre sinnvoll: Zunächst eine Grobbetrachtung nach der BekGS 527, um in den „richtigen Bereich“ zu kommen, danach eine Feinanalyse mit dem Matrixverfahren, um z. B. die richtigen Maßnahmen nach dem Kap. 4.4 der BekGS 527 auszuwählen, also die tiefer gehende Beurteilung vorzunehmen.

Dies ist auch der Grund, warum der Autor des Matrix-Verfahrens jeweils möglichst viele Parameter für jede Partikelklasse genannt hat. Nicht alle Daten werden bekannt oder leicht zugänglich sein. Insbesondere bei Tätigkeiten, die mit einem passiven Freisetzen von Nanopartikeln verbunden sind, dürfte dies der Fall sein. Deshalb wurde auch bei den Tätigkeiten ein Gefährdungsranking eingeführt (Tabelle 2), so dass selbst bei gar keiner Kenntnis der Partikelcharakteristik zumindest eine mittlere Gefährdung zu erwarten ist.

Unabhängig davon sind natürlich weitere Informationen zu den jeweiligen Tätigkeiten mit heranzuziehen. Wenn z. B. Schweißrauche auftreten oder Hartholzstäube freigesetzt werden, so ist deren Gefährlichkeit schon lange bekannt und eine tiefere Betrachtung der Nanopartikel-Problematik wird diese Einstufung nicht ändern.

Unabhängig von den unterschiedlichen Ansätzen zur Gefährdungsbeurteilung sind sich die Autoren beider Verfahren in einem einig: Gefährdungen durch Nanopartikel sind schon heute technologisch beherrschbar und stellen keinen Grund dar, auf die Anwendung entsprechender Technologien oder Materialien zu verzichten. Dennoch fehlt es an ausreichenden materialspezifischen Daten. Unser derzeitiges Wissen stützt sich in erster Linie auf Beobachtungen und Experimente mit vergleichsweise wenigen Materialien, wobei teilweise ein „Mosaikwissen“ vorhanden ist: Von diesem Stoff wissen wir dies, von jenem das, vollständige Materialdaten liegen aber nur in wenigen Fällen vor. Deshalb ist eine angestrebte Regulierung zur Datenqualität solcher Nanofraktionen unter REACH sicher ein Schritt in die richtige Richtung.

Dr. Gerald Schneider

B·A·D GmbH Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik

Herbert-Rabius-Str. 1

53225 Bonn

Literatur

1. Müller, M., M. Fritz & A. Buchter (2008): Nanotoxikologie. – Zbl. Arbeitsmed 58, 238 – 252

2. Möhlmann, C. (2007): Ultrafeine Aerosole am Arbeitsplatz. – BGIA Handbuch Lfg. 2/ 07, 13 pp.

3. Schmid, O. & T. Stoeger (2014): Beurteilung der Exposition und gesundheitlichen Wirkungen von Nanomaterialien am Arbeitsplatz.- In: Handbuch der Arbeitsmedizin, 34. Erg. Lfg 10 / 14, 68 pp

4. Bekanntmachung zu Gefahrstoffen BekGS 527: Hergestellte Nanopartikel. Internet: http://www.baua.de/de/Themen-von-A-Z/ Gefahrstoffe/TRGS/pdf/Bekanntmachung-527.pdf ?__blob=publicationFile&v=2

5. Schneider, G. (2011): Gefährdungsbeurteilung bei Nanomaterialien. – Sicherheitsingenieur 12/2011, 8 – 11

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