Prävention

Ergonomische und sicherheitstechnische Aspekte für eine barrierefreie Nutzung von Regional- und Fernzügen durch alle Passagiere

Zusammenfassung Diese Publikation ist das Ergebnis eines Verbundprojekts bezüglich der Barrierefreiheit von Regional- und Fernverkehrszügen in Europa. Behinderte Menschen repräsentieren ungefähr 13% der Bevölkerung Europas. Dies entspricht ca. 63 Millionen Menschen. Darin einbezogen sind Personen mit eingeschränkter Mobilität einschließlich Rollstuhlfahrer, seh- und hörbeeinträchtigte Personen sowie mit anderen Behinderungen. Die Barrierefreiheit auf den gesamten öffentlichen Verkehr auszudehnen und für alle Bürger nutzbar zu machen, ist das erklärte Ziel des Projekts. Es geht aber auch darum, existierende Lösungen bei ausgewählten europäischen Bahnen bezogen auf die wesentlichen Elemente eines barrierefreien Zugangs (Türen, Information, Notfall- und Service-Einrichtungen) zu bewerten, ein Design-Konzept abzuleiten, ein Mock-up zu entwickeln, das den Anforderungen der Reisenden mit oben genannten Einschränkungen entspricht und es schließlich mit Nutzergruppen zu testen. Weiterhin sind entsprechende Empfehlungen für Standards abgeleitet worden. Schlüsselwörter: barrierefreier Zugang in Züge – Menschen mit Behinderungen – Möglichkeiten barrierefreier Gestaltung von Zügen Ergonomic and safety related aspects for a barrier free use of regional and long distance trains by all passengers Abstract This paper is the output of a collaborative European project concerning the barrier free accessibility for disabled persons to regional and long distance trains in Europe. Disabled people represent around 13% of the population in Europe. This is approximately 63 million people. The range of disabilities includes people with reduced mobility including wheel chair users, viewing and hearing impaired people and other forms of impairment. Improving accessibility aims at contributing to the provision of public transport services to all citizens in an equitable way. The purpose of the project was to analyse and to evaluate the existing solutions at selected European railways for all essential modules at the barrier free access (doors, information, emergency and service facilities), to derive a design concept, to develop a mock-up in meeting the needs of rail travellers with the above mentioned impairments and to test it with user groups. The project also aims at deriving components for the determination of standards. Key words: Barrier free accessibility to trains – disabled people – possibilities of barrier free design of trains

1 Einführung
Diese Publikation ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, gefördert von der Europäischen Kommission und koordiniert durch UNIFE (Europäische Vereinigung der Schienenfahrzeughersteller), an dem Betreiber europäischer Bahnen (DB, SNCF und Trenitalia), Hersteller und Zulieferer (bspw. Bombardier, Siemens, Alstom), Vereinigungen bzw. Verbände von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen (bspw. Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin e.V., Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.) und wissenschaftliche Einrichtungen (FAV Berlin, IAS Berlin, TU Wien, TU Barcelona) aus insgesamt sechs europäischen Ländern teilnahmen. Das Ziel des Projekts bestand darin, den Ein- und Ausstieg von Regional- und Fernzügen (d.h. Einstiegstür, vertikale und horizontale Spalte zwischen Bahnsteig und Zug sowie Einstiegshilfen), den Eingangsbereich, das Informationssystem innerhalb und außerhalb des Zuges, die Notfalleinrichtungen und das Servicesystem mit Toilette und Wickeltisch im Sinne einer barrierefreien Gestaltung zu optimieren. Aus diesem Grunde wurden physisch beeinträchtigte, seh- und hörbeeinträchtigte Personen, kleinwüchsige Menschen, ältere Personen, aber auch Eltern mit Kleinkindern projektbegleitend einbezogen3.

Entsprechend COST 3351 beträgt der Anteil von Menschen mit Einschränkungen ihrer Mobilität in Europa ca. 13%. Dies entspricht etwa 63 Millionen Einwohnern. Bezogen auf den Anteil älterer Menschen wird ein Anstieg von gegenwärtig 21% auf etwa 31% im Jahr 2020 und auf 34% im Jahr 2050 erwartet. Der Altersdurchschnitt steigt von 37,7 im Jahr 2000 auf 49,5 im Jahr 2050 an2. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es 6,6 Millionen Menschen mit Behinderungen (3,5 Millionen Männer und 3,1 Millionen Frauen). 75% sind älter als 55 Jahre und 52% sind älter als 65 Jahre4.

Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ziehen in der Regel die öffentlichen Verkehrsmittel der Nutzung eines privaten Fahrzeuges vor. Deshalb sind die Mittel des Regional- und Fernverkehrs so zu gestalten, dass sie von allen Passagieren einschließlich älterer und mobilitätseingeschränkter Personen im Sinne einer barrierefreien Reisekette genutzt werden können.

2.1 Basisstruktur
Abbildung 1 zeigt die Basisstruktur der dem Projekt zugrunde liegenden Methodik. Begonnen wurde mit der Analyse der Situation bezüglich des Einstiegs mobilitätseingeschränkter und älterer Passagiere in Personenzügen, einschließlich der relevanten Regelungen, Standards und Betriebsvorschriften sowie der auf internationaler und nationaler Ebene vorliegenden Forschungsarbeiten (Abbildung 1).

Eine nutzerorientierte Analyse basierend auf einem Interview-Leitfaden und einem Fragebogen sind durchgeführt worden. Die Struktur des Leitfadens ist folgende:

· Klassifikation mobilitätseingeschränkter Personen und ihre Hilfsmittel,

· Ergonomische Gestaltung des Einstiegsbereiches,

· Information,

· Notfalleinrichtungen.

Die Hauptkomponenten und Merkmale des Interview-Leitfadens sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

2.2 Testausrüstung
Die Ergebnisse der nutzerorientierten Analyse wurden als Input für den Leitfaden verwendet. Eine Computer-Version des Mock-up (siehe Abbildung 2) und schließlich ein teilweise funktionsfähiges Mock-up im Maßstab 1:1 wurden hergestellt. Weiterhin sind zwei zusätzliche Versuchsstände zum Testen unterschiedlicher Taster zum Öffnen und Schließen der Türen sowie zum Testen von Stufen-Paarungen unterschiedlicher Tiefe und Höhe gebaut und genutzt worden.

2.3 Testpersonen
Insgesamt wurden 67 Personen (33 weibliche und 34 männliche Personen) einbezogen, 57 mit unterschiedlichen Einschränkungen ihrer Mobilität und 10 ohne Einschränkungen (siehe Tabelle 2). Das mittlere Alter der Testpersonen betrug 53 Jahre. Die Testdauer betrug etwa 3 Stunden.

3 Ergebnisse
Die Hauptkomponenten gemäß Tabelle 1 wurden getestet. Im Folgenden sind zunächst Ergebnisse bezüglich der Testung der Türbreite ausgewählt worden, die besonders für Rollstuhlfahrer von Bedeutung sind. Die Bewertung der verschiedenen Türbreiten ohne horizontale und vertikale Spalte geht aus Abbildung 3 hervor. Werte kleiner als 850 mm werden von der Mehrzahl der Rollstuhlfahrer abgelehnt, 50% der Testpersonen bewerten eine Türbreite 800 mm als schlecht bzw. 64% eine Türbreite von 770 mm als sehr schlecht (TSI Empfehlung 800 mm; COST 335 Empfehlung mindestens 800 mm, vorzugsweise 850 mm). Der in DIN 18024 und 18030 empfohlene Wert für die Durchgangsweite von 900 mm ist damit in Frage gestellt.

Leider ist eine gleiche Höhe von Bahnsteig und Fahrzeugboden nur in wenigen Fällen gegeben. Sehr häufig haben es Rollstuhlfahrer mit einer Kombination von einer zu geringen Öffnungsweite der Tür und einem vertikalen und horizontalen Spalt zwischen Bahnsteig und Zug zu tun, was das Ein- und Aussteigen besonders erschwert. In diesem Kontext haben Rollstuhlfahrer unterschiedliche Kombinationen von Öffnungsweiten der Tür und vertikalen und horizontalen Spalten zwischen Bahnsteig und Fahrzeugboden getestet (Abbildung 4).

Die Bewertung dieser Kombinationen geht aus Abbildung 5 hervor. Demzufolge stellen die Spalten ein ernstes Hindernis für die Rollstuhlfahrer dar. Bereits ein Spalt von 50 mm vertikal und horizontal kann von 40% der Rollstuhlfahrer kaum überwunden werden, selbst bei einer Türweite von 900 mm (TSI Empfehlung toleriert einen Spalt von 50 mm vertikal und 75 mm horizontal; COST 335 Empfehlung hingegen 50 mm vertikal und horizontal). Die in TSI enthaltene Kombination eines Spaltes von 50 mm vertikal und 75 mm horizontal und einer Türweite von 800 mm hat sich für Rollstuhlfahrer als ungeeignet erwiesen. 83% der Rollstuhlfahrer bewerten diese Kombination als „schlecht“ bzw. „sehr schlecht“. Die abgegebenen Kommentare deuten darauf hin, dass die Stufe zu hoch und ihre Überwindung bei kleinen Vorderrädern schwer möglich ist. Ein diagonales Hineinfahren in den Zug erleichtert das Manövrieren, setzt aber eine größere Türweite voraus.

Es kann festgestellt werden, dass eine Türweite von 850 mm von der Mehrzahl der Rollstuhlfahrer, auch bei Nutzung des elektrischen Rollstuhls akzeptiert wird. Sie sollte wenigstens an einer Tür pro Zugseite vorhanden sein. Die in der TSI PRM (Technische Spezifikation Interoperabilität für Personen mit reduzierter Mobilität) enthaltene Türweite von 800 mm ist deshalb als kritisch zu werten. Im Falle unvermeidbarer Spalten sind auch im Sinne kurzer Einstiegszeiten diverse Hilfsmittel wie Rampen oder Lifts einzusetzen.

Die allgemeine Bewertung des barrierefreien Einstiegs in das Mock-up geht aus Abbildung 6 hervor, indem etwa 63% aller Testpersonen, 55% der Rollstuhlfahrer und 22% der blinden Personen eine positive Bewertung mit „gut“ oder „sehr gut“ abgaben, d.h. es gibt noch Reserven für weitere Verbesserungen.

Abschließend wurden die Testpersonen gebeten, bezogen auf vier Aspekte 100 Punkte zu verteilen und im Hinblick auf Anforderungen für eine barrierefreie Gestaltung Prioritäten zu setzen. Es handelt sich dabei um folgende Aspekte: Einstieg in den Zug und Einstiegsbereich, Bewegungsfreiheit im Abteil, Taster zur Betätigung von Türen und Informationsaufnahme innerhalb und außerhalb des Zuges (vgl. Abbildung 7).

Bezogen auf alle Testpersonen hat der Ein- und Ausstieg die höchste Priorität mit 36%. Die anderen drei Aspekte folgen mit jeweils 20%. Auch für 48% der Rollstuhlfahrer ist der Ein- und Ausstieg sehr wichtig. 32% der blinden, tauben, seh- und hörbeinträchtigten Personen (sd) geben der Informationsaufnahme die höchste Priorität.

4 Schlussfolgerungen
In den EUPAX-Tests sind wesentliche Elemente der barrierefreien Gestaltung von Zügen untersucht worden. Eine Überleitung der vorliegenden Ergebnisse in gesetzliche Regelungen bzw. Standards ist jedoch erst nach weiteren vertiefenden Untersuchungen möglich.

Empfehlungen für eine Standardisierung von Teilergebnissen der EUPAX-Tests sind dennoch für folgende Beispiele möglich:

w Taster zur Türöffnung: Runde Aktivierungsfläche mit einem Durchmesser von mindestens 40 mm –> Empfehlung für EN 14752

w Taster zur Türöffnung: Anzuordnen auf der äußeren Türfläche –> Empfehlung für EN 14752

w Notfalleinrichtungen: Kennzeichnung durch selbst erklärende Piktogramme –> Empfehlung für EN 14752

w Visuelle Information: Zur visuellen Information im Notfall sollten die in der TSI PRM definierten Zeichengrößen verdoppelt werden.

Für einige andere Aspekte sind weitere vertiefende Untersuchungen erforderlich, um zu fundierten Vorschlägen für TSI PRM bzw. EN 14752 zu gelangen. Dies betrifft:

w Türweite und Spalte

w Rampen

w Stufen und Handläufe

w Taster zur Türöffnung (taktile Information, Anordnung auf der Innenfläche der Tür)

w Notfalleinrichtungen (ein komplexer Modul versus dicht nebeneinander angeordneten Einzelgeräten für Notbremse, Notrufanlage, Türnotentriegelung, Höhe ihrer Anordnung, Details für taktile Information)

w Toilette für mobilitätseingeschränkte Personen

Es ist auch wichtig festzustellen, dass für die Problematik „Barriere-Freiheit für alle“ ein wachsender Markt vorhanden ist1.

Danksagung
Die Autoren bedanken sich zugleich im Namen aller beteiligten Institutionen bei der Europäischen Kommission für die finanzielle Unterstützung des Projekts.

· References

COST 335, European Commission, Directorate General Transport. „Passengers’ Accessibility of Heavy Rail Systems”, Final Report of the Action; Office for Official Publications of the European Communities; Luxembourg (1999)

Höhn Ch. „Alterung der Bevölkerung“, http://www.berlin-institut.org/pages/ buehne/buehne_beventw_hoehn_ alterung.html (2002)

Rentzsch M, Seliger D, Meissner T, Wessner C. Barrier free accessibility to trains for all, International Journal of Railway ISSN 1976–9067 Vol. 1 No. 4 (2008)

Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, http://www.destatis.de (2004)

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