Psyche und Arbeit

Ermittlung und Beurteilung von psychischen Anforderungen am Arbeitsplatz im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung – Der Auftrag zur menschengerechten Arbeitsgestaltung

PD Dr.-Ing. habil. Andreas WittmannBüro für Arbeit und Umwelt Managementsysteme GmbH, Sandkuhlstraße 6, 42853 Remscheid aw@bau-rs.deeingereicht am 01.05.2017, Review: 10.05.2017, angenommen am: 11.05.2017

1. Einleitung

Psychische Anforderungen sind in einer Dienstleistungsgesellschaft bei der Arbeit allgegenwärtig. Inwiefern psychische Anforderungen aber belastend oder gar gefährdend auf die Arbeitnehmer wirken ist nicht zuletzt deswegen schwer objektivierbar, da hierbei individuell bei jeder Person unterschiedliche Verarbeitungsprozesse eine Rolle spielen. Das subjektive Stressempfinden wird auch bei identischen Tätigkeiten in der Regel bei unterschiedlichen Personen stark divergieren.

Nichtsdestotrotz sind Arbeitgeber seit dem Jahr 2013 explizit aufgefordert, im Zuge der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung (GBU), auch die psychischen Belastungen bei der Arbeit zu berücksichtigen.

Häufig werden derzeit hierzu im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung Befragungen der Mitarbeiter mit unterschiedlichen Instrumenten (z.B. COPSOQ, KFZA, Psy Risk etc.) durchgeführt, mithin also in erster Linie das subjektive Stressempfinden der Beschäftigten erhoben.

Der Auftrag des Arbeitsschutzgesetzes lautet aber explizit, „durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.“ Aufgabe des Arbeitgebers ist also streng genommen, nur die wirklich objektivierbaren Gefährdungen, die mit der Arbeit verbunden sind, zu ermitteln.

Im Rahmen eines an der Bergischen Universität Wuppertal zusammen mit einem Dienstleister im Arbeitsschutz durchgeführten Projektes sollte einerseits geprüft werden, inwiefern (in der Regel subjektive!) Befragungen der Beschäftigten überhaupt den gesetzlichen Ansprüchen genügen bzw. einen sinnvollen Beitrag zur GBU liefern können und andererseits aber auch, ob – und wenn ja welche – objektiven Kriterien alternativ für die GBU herangezogen werden können.

Für die Beantwortung der zweiten Fragestellung wurde, ausgehend von den Zielen der menschengerechten Arbeitsgestaltung ein Fragekatalog entwickelt, der am Arbeitsplatz Abweichungen des Ist-Zustandes von den Idealkriterien der „menschengerechten Arbeit“ als objektivierbare Stressoren zu identifizieren hilft.

2. Material und Methoden

Hintergrund für die angestrebte objektive Überprüfung der Stressoren im Rahmen der GBU bildeten dabei die Humankriterien für menschengerecht gestaltete Arbeit nach ROHMERT. Aus diesen, durch die Deutsche Gesellschaft für Arbeitswissenschaft heute als nahezu allgemeingültig erklärten Kriterien folgt, dass menschengerechte Arbeit

  • ausführbar sein muss,
  • nicht schädigt,
  • erträglich ist,
  • zumutbar ist,
  • sowie zwingend auch persönlichkeitsfördernd ist (Rohmert 1988).

Für das entscheidende Kriterium der Persönlichkeitsförderlichkeit wurde als zentraler Aspekt das Humankriterium der Ganzheitlichkeit nach der Handlungsregulationstheorie von Hacker (1973) bzw. das daran anknüpfende Handlungsregulationsmodell der vollständigen Tätigkeit nach Volpert (1979) als sinnvolles Gestaltungskriterium für menschliche Arbeit herangezogen.

Demnach zeichnet sich eine persönlichkeitsförderliche Arbeitsorganisation dadurch aus, dass die zu verrichtende Tätigkeit sequentiell und hierarchisch vollständig ist. Hiefür müssen Elemente

  • der Vorbereitung,
  • der Durchführung und
  • der Kontrolle

in den Tätigkeiten enthalten sein und gleichzeitig die unterschiedlichen Regulationsebenen angesprochen werden, also

  • sensomotorische,
  • wissensbasierte und
  • intellektuell fordernde Elemente in der Tätigkeit enthalten sein.

Interessanterweise stehen diese beiden Modelle auch weitgehend im Einklang mit der Idee der Salutogenese nach Antonovsky (1979), der für seine Theorie des Sense of Coherence (Kohärenzgefühl, SOC) die zentralen Aspekte der

  • Verstehbarkeit (Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen), der
  • Handhabbarkeit (Überzeugung, dass man das eigene Leben gestalten kann) und der
  • Sinnhaftigkeit (Glaube daran, dass das Leben einen Sinn hat)

als Voraussetzungen für das Entstehen von Gesundheit (Salutogenese) prägte.

Ausgehend von den beschriebenen Anforderungen an menschengerechte Arbeit und grundsätzlichen Überlegungen zum Belastungs-Beanspruchungsmodell von Rohmert & Rutenfranz (1975) wurde daraufhin in bewährten Modellen der Stress-entstehung wie dem Transaktionalen Modell von Lazarus & Alfert (1964), dem Demand/Control-Modell von Karasek & Theorell (1990) und dem Effort-Reward-Imbalance Modell von Siegrist (2000) nach objektivierbaren, Arbeitsplatz- bzw. tätigkeitsspezifischen positiven und negativen Anforderungen gesucht.

In einem letzten Schritt wurden dann einige heute häufig genutzte Erhebungsinstrumente wie KFZA, Psy Risk, COPSOQ, die jedoch als Fragebogen an den Arbeitnehmer selbst gerichtet sind (und nicht an den für die GBU zuständigen Arbeitgeber) daraufhin untersucht, inwiefern sich auch mit diesen Befragungsinstrumenten die aus den oben beschriebenen Modellen ergebenden, objektivierbaren, arbeitsplatz- und tätigkeitsspezifischen psychischen Gefährdungen erheben lassen.

Aus den genannten Modellen wurde ein umfangreicher Anforderungskatalog an stressoptimierte Arbeitsplätze entwickelt. Dieser wurde in Frageform formuliert so dass es für die GBU verantwortlichen Vorgesetzten durch die Beantwortung einfach möglich ist, Arbeitsplätze und Tätigkeiten auf die Einhaltung der erarbeiteten Kriterien hin zu bewerten. Abweichungen vom Optimum definieren dabei dann direkt den Handlungsbedarf („abzuleitende Maßnahme“), so dass im Rahmen der Arbeitsgestaltung direkt für eine Optimierung gesorgt werden kann.

3. Ergebnisse

Abbildung 1 wurde aus den zuvor beschriebenen Modellen generiert. Sie stellt die derzeit denkbar kürzeste Form des Anforderungskatalogs dar und arbeitet mit Hilfe von Leitfragen. Derzeit (Stand Mai 2017) werden zur Optimierung noch weitere Kriterien eingearbeitet und parallel Praxistests im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungen in Betrieben durchgeführt. Die Beurteilung psychischer Gefährdungen wurde auf die beschriebene Weise in die Arbeitsschutzsoftware Risk-Project implementiert und wird mittlerweile routinemäßig zur Gefährdungsbeurteilung eingesetzt.

4. Diskussion

Es erscheint möglich, auch ohne direkte Befragung der Beschäftigten hinreichende objektive Informationen zur Gefährdung durch psychische Belastungen bei der Arbeit zu erheben um die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes festzulegen. Letztlich wird so dem übergeordneten Auftrag zur menschengerechten Gestaltung der Arbeit nachgekommen. Ist Arbeit von vornherein menschengerecht gestaltet, wird die Gefährdungsbeurteilung ergeben, dass zur Gefährdungsminderung durch psychische Faktoren keine weiteren Maßnahmen erforderlich sind. Bestehen Defizite, müssen Maßnahmen ergriffen werden, die die menschengerechte Arbeitsgestaltung zum Ziel haben. Die Ergebnisse des Projektes wurden im Rahmen der Wissenschaftlichen Jahrestagungen der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA) im Jahr 2016 vorgestellt und positiv aufgenommen. Vergleichbare Ansätze werden mittlerweile auch von staatlichen Aufsichtsbehörden empfohlen, so enthält der der Staatlichen Gewerbeaufsicht vergleichbare Ansätze.

http://www.gewerbeaufsicht.bayern.de/arbeitsmedizin/arbeitspsychologie/doc/dokumentationshilfe.pdf

Literatur

Antonovsky A (1979). Health, stress and
coping. San Francisco: Jossey-Bass, 1979

Hacker W (1979) Psychologische Arbeitsuntersuchung, Berlin : Deutscher Verlag d. Wiss., VEB, 1973

Karasek, R. A. & Theorell, T. (1990). Healthy work, stress, productivity, and the construction of the working life. New York: Basis Books.

Lazarus RS, Alfert E (1964). The short-
circuiting of threat by experimentally altering cognitive appraisal. Journal of Abnormal and Social Psychology, 69, S. 195–205

Rohmert W, Rutenfranz J (1975). Arbeitswissenschaftliche Beurteilung der Belastung und Beanspruchung an unterschiedlichen industriellen Arbeitsplätzen. Bonn: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung.

Siegrist, J. (2000). A Theory of Occupational Stress. In Dunham, J. (Ed.), Stress in the Workplace. Past, Present and Future, London: Whurr Publishers, pp. 63–66.

Volpert W (1979). Der Zusammenhang
zwischen Arbeit und Persönlichkeit aus
handlungstheoretischer Sicht. In: Groskurth, Peter (Hrsg.): Arbeit und Persönlichkeit,
berufliche Situation in der arbeitsteiligen
Gesellschaft : Ergebnisse der Arbeitswissenschaft. Reinbek: Rowohlt, 1979, – ISBN 3–499–17240–2. S. 21 – 46.

Wittmann A, Schmeing M (2016). Grenzen subjektiver Methoden zur Ermittlung und
Beurteilung von psychischen Anforderungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung, DGAUM Tagungsband 2016, 673–674

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