Psyche und Arbeit

Vom Rhein bis an die Aare – Burnout ohne Grenzen?

Ralph Kray

Der eine ist „Große Behörde“, der andere auch. Der eine ist Deutscher, der andere Schweizer. Beide sind sie reflektierte Burnout-Praktiker, Insider und insofern Realexperten durch den täglichen Umgang als Vorgesetzte mit ihren Mitarbeitern im Amt. Beide wissen: Von Burnout sind nicht nur viel zu viele einzelne Mitarbeiter persönlich betroffen, sondern mit ihnen das jeweilige Amt, der Betrieb und – wie uns die Kassen, Versicherer, behandelnde Mediziner und Gesundheitswissenschaften sagen – die gesamte Volkswirtschaft Deutschlands und der Schweiz – regelrecht „angeschossen“, wenn man den erheblichen „Personen- und Sachschaden“ in Fehltagen und Folgekosten für das Arbeits- und Gesundheitssystem, aber auch in individuellem Leid gesprochen, tatsächlich wiegen wollte.

Deutschland und Schweiz sind die Modelle für Hochleistungsgesellschaften, ökonomische Motoren im Herzen des Kontinents Europa. Keines der Länder kann es sich je für sich schon leisten, noch mehr und immer multipler differenziell diagnostizierte burnoutgeschädigte Menschen, Unternehmen und öffentliche Institutionen genau durch das zu (re-) produzieren, was sie stark gemacht hat und stark erhält. Das ist nämlich die Leistungsfähigkeit, welche aus der kreativen sozialökonomischen Urszene aller Arbeitsanreize erwächst: das innere „Ich mach was aus mir!“, wodurch der Betrieb und die Einrichtung erst profitieren und im Ideal ihrerseits dem Mitarbeiter dies beantwortet mit dem „Dann mach ich was bei mir aus dir!“. Dieser arbeitsethische Vertrag zwischen Mitarbeiter und Betrieb oder Einrichtung ist zerbrechlich geworden wie dünnes Glas, wenn und weil Burnout Hochleistungsgesellschaften wie Deutschland und die Schweiz epidemieartig heimsucht.

Wir starteten deshalb ein Experiment. Was sagt der Deutsche Prof. Dr. Andreas Meyer-Falcke, was der Schweizer Valentin Lagger, die je in ihrer eigenen Verantwortung als Vorgesetzte Burnout den intelligenten Kampf angesagt haben, zur „Lage der eigenen Nation“, oder etwas kleiner verpackt: zu Struktur, Sozialpsychologie, zur Rolle von Arbeitsschutzgesetzen und Präventionsmaßnahmen, zu Lösungen etwa durch Transparenz, faire Kommunikation, Empathie und „Verstehen“,

ja Kooperation innerhalb von Amt und Betrieb, aber auch zwischen Amt, Betrieb und Unfall-, Sozial- und Rentenversicherern. Das Experiment ging jedoch noch weiter. Wie kommentieren beide Praktiker-Experten die Antworten des jeweils anderen, die Sicht auf den anderen und dessen Umgang mit Burnout als das hartnäckige, „klebrige“ Risikosyndrom, das es ist? Ein ganz eigener Deutsch-Schweizerischer Dialog über Burnout ist so virtuell entstanden. Eins ist danach für uns sicher: Wir sollten uns mehr und besser austauschen, international lernen voneinander – denn es geht uns wegen Burnout irgendwie allen gleich: „schön dreckig“. Eine Operation am offenen Seelenherzen Europas. Zwischenfazit Burnout-Deutschland und Burnout-Schweiz – wie stark, und wie zerbrechlich doch.

Wie sehen Sie das Thema Eigenverantwortung versus Fremdverantwortung, heißt: Mitverantwortung des Arbeitgebers? Was kann und muss der Betrieb, der Staat tun, was der Einzelne selbst?

Meyer-Falcke: Die Eigenverantwortung eines jeden Menschen (und damit auch eines Arbeitnehmers) sollte grundsätzlich die Basis seines Handelns sein – abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen, in denen der Betroffene aus individuellen Gründen, zum Beispiel krankheitsbedingten oder intellektuellen, nicht in der Lage ist, diese Eigenverantwortung wahrzunehmen. Natürlich ist er „von außen“ in die Lage zu versetzen, diese seine Rolle faktisch auch wahrnehmen zu können. Ihm sind Informationen zugänglich zu machen, er ist über die Konsequenzen seines Tuns oder auch der Unterlassung einer Handlung aufzuklären. Dieses „von außen“ hat vielerlei Facetten: Es sind zum Beispiel die Eltern und Freunde, die Lehrer beispielsweise in der Berufsschule, das soziale Umfeld – zum Beispiel der erfahrene Vorarbeiter oder Meister, aber auch die Peer Group – und es sind eben auch der Arbeitgeber ebenso wie die Gewerkschaft und die Betriebs-/Personalräte.

Der Staat seinerseits sollte sich auf das Setzen der inhaltlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen eben dieser Informations- und Aufklärungsarbeit beschränken und gegebenenfalls die Kommunikation über Best-Practice-Modelle fördern: Eine individuelle Veranlagung oder Neigung, fehllaufende soziale Arbeitsbeziehungen, die ihrerseits wiederum vielfache Ursachen haben, begünstigende, weil überfordernde Arbeitsbedingungen etc.. Das alles lässt sich sowohl beim „Opfer“ als auch beim „Täter“ und seinen „Mitläufern“ nicht durch ein normatives Regelsystem in den Griff bekommen.

Lagger: Das Schweizer Arbeitsrecht verpflichtet den Arbeitgeber, alle Maßnahmen zum Schutz der physischen und psychischen Gesundheit zu treffen und den Persönlichkeitsschutz der Mitarbeitenden zu wahren. Der Mitarbeitende trägt auch Eigenverantwortung für seine Gesundheit, das heißt er hat die Persönliche Schutzausrüstung (PSA) zu tragen, Anweisungen zu folgen und Missstände zu melden.

Meyer-Falcke zu Lagger: Wobei das Tragen der PSA etc. hier nur exemplarisch gemeint sein kann: Auch alle anderen Aspekte in Sachen Eigenverantwortung und Gesundheit kommen zum Tragen, verhaltens- wie verhältnisbezogen. Dies ergibt sich aus der Definition von Gesundheit, die eben nicht nur pathogenetisch (nach hinten, Anm. d. Red.) orientierte Prävention einschließt, sondern auch salutogenetisch (nach vorne, Anm. d. Red.) ausgerichtete Gesundheitsförderung und der im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankerten Fürsorgeverpflichtung für den Arbeitgeber (AG). Das gilt zum Beispiel auch für das aktive Hinterfragen der eigenen beruflichen Qualifikation: Bin ich noch hinreichend ausgebildet? Muss ich etwas dazu lernen? Komme ich ohne Weiteres noch mit? Das Stichwort vom lebenslangen Lernen gilt auch für die berufliche Qualifizierung und bindet nicht nur den AG. Konkrete Bedeutung: die EU räumt in ihrer Rahmenrichtlinie 89/391/EWG dem einzelnen Arbeitnehmer (AN) ein Arbeitsverweigerungsrecht ein. Dies greift für den Fall, dass der AG die Gesundheit dieses AN nicht hinreichend schützt. Sollte der AN hiervon Gebrauch machen, so muss er sicher sein, dass dies kein arbeitsrechtlicher Bumerang wird im Sinne von „Das hätten Sie wissen müssen!“.

Und wenn man dezidiert von physischer und psychischer Gesundheit spricht, darf die soziale Gesundheit nicht vergessen werden. Dies resultiert wiederum aus der Definition von Gesundheit gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die das bundesdeutsche Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) zu Grunde legt. Konkret: Ausdruck fehlgeleiteter beziehungsweise fehlgesteuerter sozialer Beziehungen sind zum Beispiel Mobbing oder sexuelle Belästigung, aber auch Diskriminierung zum Beispiel auf Grund von Herkunft, Religion oder Hautfarbe. Alle diese Beispiele haben unmittelbar belastende Auswirkungen auch, zum Teil vor allem, insbesondere auf die Gesundheit des Betroffenen – und auf die Gesundheit des Betriebs ebenfalls: von Stress bis hin zum Tode durch Suizid. Dafür, dass alles dies nicht auftritt, hat der AG eine auch im ArbSchG verankerte Verantwortung. Betroffene Mitarbeiter und betroffene Betriebe benötigen hoch kompetente, fachlich und soft-skill-versierte „Unternehmensberater in Sachen Gesundheit bei der Arbeit“.

Warum steigen generell die Fehltage, der Krankenstand und Ausfälle wegen Burnout und dessen psychologisch-medizinischen Korrelaten in der Diagnostik wie Angstzustände, Depression etc. immer noch, statt zu sinken, obwohl überall sowohl mehr Bewusstheit für Burnout geschaffen wurde als auch an Präventionsmaßnahmen gesetzlich und betrieblich scheinbar kein Mangel ist?

Meyer-Falcke: Es ist die Frage, ob die Zahlen tatsächlich steigen. Möglicherweise war in der Vergangenheit auch „nur“ deren Dunkelziffer so hoch. Die aktuelle intensive öffentliche Befassung mit dieser Thematik auch im beruflichen Kontext würde ihrerseits dazu führen, dass viele psychosoziale Erkrankungen nun ans Licht kommen, während die Summe aller dieser Erkrankungen konstant ist. Insofern wäre es kein „obwohl“, sondern ein „gerade weil“. Hinzu kommt: Mit der Abnahme schwerer körperlicher Arbeit und in Folge dessen mit dem Absinken „klassischer“ arbeitsassoziierter Erkrankungen haben die psychosozialen Erkrankungen nunmehr auch prozentual einen größeren Anteil am gesamten Krankheitsgeschehen in der Arbeitswelt.

Unabhängig davon stellt die zunehmende zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit – forciert durch komplexe globale Prozesse und die rasante Entwicklung

der Digitalisierung – die Beschäftigten vor große individuelle, intellektuelle und qualifikatorische Herausforderungen, was im Übrigen auch für die Arbeitgeber und beide Sozial-/Tarifpartner gilt. Zudem erfordert die exponentiell steigende Menge an verfügbarem Wissen immer stärker teamorientierte, kooperative Lösungsstrategien, die vor allem erhöhte soziale Fähigkeiten bedingen.

Lagger: Das Mitteilen von Belastungsgrenzen ist nach wie vor ein schwieriges Thema. Einerseits ist die Belastungsgrenze eine sehr individuelle Angelegenheit. Jeder Mensch hat eine eigene Grenze. Anderseits dürften Mitarbeiter wohl negative Konsequenzen zu befürchten haben, wenn sie das Thema ansprechen, von wegen „nicht belastbar“ oder „kündbar“.

In der Schweiz ist der Schutz vor psychosozialen Risiken im Arbeitsgesetz weniger konkret ausformuliert als in Deutschland und Österreich. Allerdings gibt es trotzdem auch in der Schweiz eine gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers, die Gesundheit des Arbeitnehmenden zu schützen. Es besteht eine allgemeine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers in Bezug auf die Gesundheit, aber keine gesetzlichen Vorgaben betreffend Gefährdungsermittlung, anzuwendender Instrumente sowie Dokumentation psychosozialer Belastungen im Betrieb. Auch sind die Betriebe nicht verpflichtet, einen Arbeitspsychologen für die Gefährdungsermittlung herbeizuziehen.

Meyer-Falcke zu Lagger: Eine entsprechende gesetzliche Verpflichtung, andere Professionen als Ärzte und Ingenieure, noch konkreter gemäß dem Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit – kurz Arbeitssicherheitsgesetz oder ASiG – Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit im Betrieb einzusetzen, gibt es auch in Deutschland nicht. Hierauf zielt schon lange meine Kritik an der nicht ausreichenden Umsetzung der einschlägigen EU-Richtlinie 89/391/EWG in nationales Recht, also ASiG in Verbindung mit ArbSchG: Während die EU den beratenden Einsatz einer „fachkundigen Person“ fordert, wird dies in Deutschland aus „historischen Gründen“ – das ASiG ist von 1973! – auf eben die beiden oben genannten Professionen eingeengt. Wir wären im Sinne der Gesundheit der AN einen wesentlichen Schritt weiter, wenn ein AG in sein Einsatzstundenkontingent auch andere als diese beiden, also zum Beispiel Psychologen, aber auch Gesundheitsförderungsspezialisten einrechnen dürfte, statt bestenfalls „oben draufzusatteln“, denn das hat mit Wettbewerbsgerechtigkeit innerhalb der EU nicht viel zu tun.

Warum ist Burnout ein Thema für die Arbeitssicherheit? Was kann schieflaufen, wenn man zu spät handelt? Was wären innovative Vorkehrungen?

Meyer-Falcke: Die Frage erweckt den Eindruck, Arbeitssicherheit sei eine Profession um ihrer selbst willen. Die sprachlich sperrige Umschreibung „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ impliziert dies möglicherweise. Damit manifestiert sich der im ASiG verankerte professionelle Dualismus: hier der Sicherheitsingenieur, dort der Betriebsarzt. Bei einem wirklich ganzheitlichen Verständnis von Arbeitsschutz als umfassendem Schutz der Gesundheit und einem tatsächlich ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit im Sinne der WHO ist klar, dass alle hierin involviert sind.

Und natürlich ist es – auch – ein klassisches Arbeitssicherheitsproblem, wenn zum Beispiel ein depressiv erkrankter Mensch – vorübergehend – nicht mehr in der Lage ist, Entscheidungen rechtzeitig oder richtig zu treffen, weil sein Krankheitsbild ihn daran hindert, oder seine Medikation im Gegenteil eine zu große stimmungssteigernde Wirkung erzielt. Was dann konkret schiefläuft, hängt von der jeweiligen Arbeitsaufgabe ab.

Psychische Störungen oder Erkrankungen haben ein komplexes Entstehungsmuster. Anders als bei manch klassischen Belastungen lassen sich einfache Ursache-Wirkungsbeziehungen und damit präventive Ansätze kaum postulieren. Hier helfen perspektivisch nur Verbesserungen in der Aus- und Fortbildung der Beschäftigten und ihrer Führungskräfte, Schulung der innerbetrieblich Verantwortung Tragenden und ihrer Arbeitsschutzberater und Aufklärung über die komplexen Wirkungszusammenhänge sowie über erfolgreich erprobte Lösungen. Auch strukturelle Ergänzungen des innerbetrieblichen Arbeitsschutzsystems, beispielsweise um eine psychologisch ausgerichtete Konfliktberatungsstelle, oder das Angebot einer 24/7 erreichbaren Telefonhotline für Betroffene können Mittel zum Zweck sein.

Lagger zu Meyer-Falcke: Auch in der Schweiz existiert ein Dualismus zwischen Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz (ASGS). Die AS (Arbeitssicherheit) ist dabei im Unfallversicherungsgesetz, der GS (Gesundheitsschutz) im Arbeitsgesetz behandelt. Dieser Dualismus impliziert eventuell eine Trennung zwischen den beiden Themen, obwohl in der Tat das Vorliegen einer psychosozialen Störung wie zum Beispiel ein Burnout aus gesamtheitlicher Sicht – egal ob AS oder GS – bekämpft beziehungsweise durch Prävention verhindert werden sollte.

Lagger: Unter Stress verändert sich unsere Wahrnehmung. Dies kann zu Konzentrationsschwierigkeiten, abschweifenden Gedanken, Vergesslichkeit, fehlender längerfristiger Planung und auch kurzfristiger oder eingeschränkter Perspektive führen. Auch das Verhalten verändert sich: Gestörte Kommunikation, Spannungen, sozialer Rückzug oder abnehmende Teamfähigkeit sind mögliche Konsequenzen. All das kann letztlich dann auch zu Unfällen führen.

Durch den sozialen Rückzug bei Burnout kann auch der Halt im Team geringer werden. Wird Burnout nicht frühzeitig erkannt, so fällt der Arbeitnehmende aus dem Arbeitsprozess aus. Der Aufwand, ihn wieder einzugliedern, ist deutlich größer als präventiv Belastungen frühzeitig anzusprechen. Vorkehrungen sind: Ein offenes Betriebsklima schaffen, wo Fehler und Schwachstellen möglich sind, Auffälligkeiten ansprechen, Belastungen erfassen, Maßnahmen erarbeiten und Arbeitsbedingungen anpassen, für das Thema sensibilisieren sowie Schulungen im Umgang mit Belastungen anbieten.

Wo liegt als Beobachter und Bearbeiter des Themas für Sie die Grenze, wann aus dem Erschöpft-Sein und dem Rückenleiden, also symptomatischen Phänomenen, handfeste Depression wird – und woran merken Sie das bei Ihren Mitarbeitern nur am Krankenschein, der herein flattert?

Meyer-Falcke: Der Mensch verfügt entwicklungsgeschichtlich bedingt über ein relativ eingeschränktes Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten auf objektiv vorhandenen oder subjektiv empfundenen Stress. Das gilt im Übrigen bei körperlicher, seelischer und sozialer Überforderung ebenso wie bei einer entsprechenden Unterforderung. Insofern wirken sich Burnout und Boreout gleichermaßen auf den Organismus aus – mit dem Unterschied, dass der auf einem Feld Gelangweilte seinen individuellen Ausgleich auf einem anderen Betätigungsfeld möglicherweise leichter und von sich aus findet als sein Pendant, das – auf sich allein gestellt – schon mit der Bekämpfung seiner Überforderung faktisch überfordert ist.

Am Krankenschein ist das nicht zu erkennen, und das nicht nur, weil dort keine Klartextdiagnose verzeichnet ist. Eher schon an der Häufung von individuellen Krankmeldungen oder kollektiv in bestimmten organisatorischen Arbeitsbereichen. Aber sicherlich am ehesten im kollegialen Miteinander oder auch im vertrauensvollen regelmäßigen Umgang von Beschäftigtem und Führungskraft vor Ort, das heißt im unmittelbaren Arbeitsalltag-Erleben.

Allein aus nachlassender Leistungsbereitschaft oder -fähigkeit, aus zunehmender Abkapselung oder gesteigerter Reizbarkeit auf ein – beruflich oder privat oder wechselwirkend durch beides bedingtes – Burnout zu schließen, kann dabei rasch zu Fehlschlüssen führen. Die richtigen Schlüsse aus möglicherweise unklaren Signalen zu ziehen, setzt entsprechende soziale Kompetenz voraus und die Bereitschaft aller, entsprechende Fähigkeiten auch erwerben zu wollen und Defizite entsprechend auszugleichen: als Führungskraft, als Team und eben auch als Betroffener. Wohlgemerkt: Soziale, nicht fachliche, also diagnostische oder therapeutische Fähigkeiten sind gemeint, denn diese gehören in entsprechend qualifizierte ärztliche, psychologische oder psychotherapeutische Hände. Laienhaftes Vorgehen, so gut es auch gemeint ist, kann hier eher schaden als nutzen.

Lagger: Nichtmediziner können keine medizinischen Diagnosen stellen. Vorgesetzte sollen aber mit ihren Mitarbeitenden über die Arbeit und das Befinden reden. So können sie Anzeichen von Erschöpfung, zum Beispiel auffällige Verhaltensänderungen, frühzeitig erkennen, ansprechen und gemeinsam nach Maßnahmen suchen. Zudem sollten Vorgesetzte auch die Einhaltung von spezifischen Schutzbestimmungen einfordern, beispielsweise Höchstarbeitszeit oder Ruhezeiten. Mögliche Indikatoren sind im Flyer „Erschöpfung frühzeitig erkennen – Burnout vermeiden“ (www.seco.admin.ch/seco/de/home.html Publikationen & Dienstleistungen Publikationen Arbeit Arbeitsbedingungen Broschüren und Flyer) aufgeführt.

Was sind praktische Tipps, die Sie für sich selbst realisieren und anderen empfehlen würden?

Meyer-Falcke: Achtsamkeit ist ein Wort, das aktuell en vogue ist. Es fordert mich auf, mich selber zu beobachten, meinen Körper ebenso wie meine Seele, aber auch mein soziales Umfeld, innezuhalten, wenn mir etwas „zu viel“ wird oder „aus dem Ruder laufen“ könnte. Was tut mir gut – von der Ernährung über die Bewegung bis hin zur Entspannungsübung; was kann ich anders machen in meinem Verhalten, meinen Reaktionen oder meiner Kommunikation; was will ich eigentlich selber erreichen und ist das realistisch – persönlich, privat, beruflich; habe ich für einen gleichwertigen Ausgleich gesorgt, wenn eine meiner Lebenssituationen oder Rollen klar die anderen zu dominieren droht?

Das zeigt deutlich: Was ich für mich selbst realisiere, muss nicht automatisch als Tipp für die anderen taugen. Das Wichtigste muss jeder für sich klären: Stehen Anspannung und Entspannung, Be- und Entschleunigungsphasen in einem für mich gesunden Verhältnis zueinander? Das ist wie beim Sport: Aufwärmen und Dehnen, Leistung und Relaxen gehören zusammen. Nur habe ich im Berufsleben in den seltensten Fällen einen Trainer, der mich anleitet, sondern muss mich darum selber kümmern.

Und noch etwas Wichtiges: Klar sagen, was einen stört, was man gerne möchte, was einen bedrückt – das haben wir vielfach zu Gunsten einer Kommunikation „über Bande“ oder „um die Ecke“ verlernt. Das hat aber in solchen Situationen nichts mit diplomatischem oder sozialverträglichem Verhalten zu tun, sondern verschlimmert die persönliche Situation im Gegenteil. Früher hieß es: „Nur den Menschen, die sprechen, kann geholfen werden!“ Oder auch etwas sozialwissenschaftlich verballhornend: „Gut, dass wir drüber gesprochen haben!“ Früher war zwar nicht alles besser, aber das zumindest stimmt auch heute noch.

Lagger: Distanz zur Arbeit nehmen, bewusst abschalten und andere Interessen pflegen, das soziale Umfeld pflegen, Belastungen ansprechen, Hilfe frühzeitig suchen!

Wie nehmen Sie wahr, dass Burnout-Prävention gelingt? In messbaren Zahlen, Ergebnissen also – und welche sind das?

Meyer-Falcke: Nein, so einfach sind die Zusammenhänge nicht. Aber es ist schon ein Erfolg, wenn über die Tatsache als solche geredet wird und nicht über die Betroffenen hinter ihrem Rücken, wenn Betroffene nach unterstützenden Angeboten fragen. Das gilt für die unmittelbar selbst Betroffenen gleichermaßen wie für deren Kollegen oder Vorgesetzte, wenn Hilfsangebote nicht nur seitens der Personalvertretung eingefordert, sondern auch seitens der Beschäftigten aktiv nachgefragt werden.

Zum Glück sind lernende Organisationen wie ein Team oder ein Unternehmen in der Lage, Leistungsdefizite eines oder, in Anhängigkeit von der Größe der Einheit, auch mehrerer ihrer Mitglieder vollständig zu kompensieren. Das ist gut so – und bis zu einem bestimmten Punkt auch hilfreich für den Betroffenen und relativ unkritisch für die Übrigen. Von außen betrachtet lässt sich also allein an Hand von Produktivitätskennzahlen weder auf den Zustand des Teams noch auf den Erfolg von Präventionsmaßnahmen schließen.

Lagger: Mir sind keine Studien bekannt, die verlässliche Zahlen zum Thema Burnout enthalten.

Seelische Gesundheit ist kein Tabuthema mehr, aber dennoch in der Leistungsgesellschaft schwer kommunizierbar, man ist schnell draußen vor der Türe. Was tun Sie gegen die Stigmatisierung von Burnout-Betroffenen?

Meyer-Falcke: Das ist leider tatsächlich so. Beispiele zeigen aber einen möglichen Ausweg auf: Bekennt sich ein bekannter Fußballspieler oder eine aktive Politikerin dazu, ausgebrannt zu sein, so schlägt ihnen eben nicht der Unmut ihrer Fans oder Anhänger entgegen, sondern Verständnis für ihre Situation. Warum sollte Vergleichbares nicht auch im Arbeitsleben funktionieren? Die Kollegen einweihen, vertrauenswürdige Ansprechpartner suchen und sich denen anvertrauen, können erste Schritte raus aus dem Teufelskreis einer sich ansonsten selbst erfüllenden Prophezeiung sein. Sich das zu trauen, setzt ein vertrauensvolles Arbeitsklima voraus. Das wiederum lässt sich nicht verordnen, sondern ist ein langfristig angelegter Prozess von betrieblichem Lernen und wechselseitigem Vor-Leben. Wenn das entsteht, ist auch ein entsprechender Artikel in der Mitarbeitendenzeitung oder der lokalen Presse denkbar, wie es das als Storytelling bei körperlichen Erkrankungen durchaus häufig gibt; und flankierend wäre es in den einschlägigen Fachpublikationen als Case Report ebenso denkbar.

Lagger: Wer als Vorgesetzter Mitarbeitende mit psychischen Problemen stigmatisiert oder zulässt, dass andere dies tun, verletzt seine Fürsorgepflicht und schadet der persönlichen Integrität einer Person. Mit den diversen Publikationen zum Thema psychosoziale Risiken leistet das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) darum Aufklärungsarbeit und wirkt damit indirekt der Stigmatisierung von von Burnout betroffenen Personen entgegen.

Einstellungen und erst recht Vorurteile zu verändern, ist allerdings ein schwieriges Unterfangen, das sich nicht allein mit Information beheben lässt. In der Schweiz sind darum auch andere Stellen aktiv in der Entstigmatisierung von Burnout-Betroffenen, zum Beispiel in Form der Kampagne „Wie geht es dir?“ (www.wie-gehts-dir.ch).

Macht es einen Unterschied, selbständig zu sein, betrieblich angestellt, machen Branchen Unterschiede, vor allem auch unterschiedliche Stellungen im Management, und welche Unterschiede wären das? Wer leidet am stärksten unter Burnout – der Arbeitssuchende, Ungesicherte, der Akkordarbeiter oder der mittlere Manager?

Meyer-Falcke: Entscheidend ist nicht die Branche, entscheidend sind die Rahmenbedingungen, unter denen gearbeitet und Leistung erbracht wird. Überall gilt zum Beispiel: je höher in der Hierarchie, desto geringer die Arbeitsunfähigkeitsquote. Als Selbstständiger selbstbestimmt zu arbeiten, unmittelbar den wirtschaftlichen Erfolg der eigenen Arbeit zu erfahren, kann ein Vorteil sein. Aber die Existenznöte in schwierigeren Geschäftssituationen oder der permanente Druck, innovativ sein zu müssen, können diesen Vorteil auch aufwiegen. Sich keine unmittelbaren Sorgen um den Arbeitsplatz machen zu müssen, ist sicher beruhigend; immer den Spielregeln folgen zu müssen, die andere formulieren und kontrollieren, ist hingegen nicht für jeden erstrebenswert. Einfluss und Macht zu haben und auszuüben ist für den einen erstrebenswert und damit gesund. Zugleich können ihn die Erwartungen seiner Stakeholder einerseits und die gegenläufigen Interessen seiner Beschäftigten andererseits zermürben und krank machen.

Über- und Unterforderung, Burnout und Boreout, sind gleichermaßen und unabhängig von der Branche ungesund. Und beides kann qualitativ, also Arbeitsinhalte versus qualifikatorische Voraussetzungen, und quantitativ, also Arbeitsmenge pro Zeit, aber auch intrinsisch-motivational begründet sein. Beides kann aber auch in der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen und im Genom verankert sein: Warum brennt die eine Kollegin für ihre Arbeit, während der Kollege im Team ausbrennt? Fragen, denen sich die so genannte Resilienzforschung widmet. Hoffentlich unstrittig ist, dass Arbeit in seiner negativsten Ausprägung, nämlich keine Arbeit haben zu dürfen, sicher am ungesündesten ist.

Lagger: Die Schweiz führt keine Studien zur Betroffenheit von Burnout in Bezug auf verschiedene Bevölkerungsgruppen. Aus den Daten der Schweizer Gesundheitsbefragung aus dem Jahr 2012 geht hervor, dass sich die Antworten auf die Fragestellungen „Gefühl, emotional verbraucht zu sein“ und „Erleben von Stress in der Arbeit“ in den drei untersuchten Bildungsniveaus hingegen nicht unterscheiden.

Was ist mit Empathie am Arbeitsplatz, Rücksichtnahme, gegenseitige Nachsicht und Hilfe am Arbeitsplatz – kann man diese weichen Faktoren überhaupt verordnen, etwa wie eine Burnout-Charta am Arbeitsplatz und kollegial, oder wie schaffen Sie dafür Awareness, Bewusstsein?

Meyer-Falcke: Natürlich lassen Sie sich nicht verordnen wie „maximal 85 dB(A)“, und schon gar nicht messen. Aber sie sind unmittelbar und mittelbar Ausdruck der jeweiligen Unternehmensphilosophie. Familienfreundlichkeit mit Blick auf Kinder und pflegebedürftige Angehörige, Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch individuell zugeschnittene Arbeitszeitvereinbarungen, Integration und Inklusion von Beschäftigten unter allen Aspekten und nicht nur, aber natürlich auch, unter Gendergesichtspunkten, entsprechende Qualifizierungsangebote für alle Beteiligten – alles das und vieles mehr lässt sich vereinbaren. Zum Beispiel in Form einer Betriebsvereinbarung oder im Leitbild des Betriebs.

Allein der Vereinbarungsprozess zwingt die Beteiligten zu einer kritischen, aber konstruktiven Bestandsaufnahme mit dem Ziel, ambitionierte, aber nicht illusionäre Absprachen zu treffen – und schafft damit Aufmerksamkeit für die Themenvielfalt der weichen Faktoren und ihre Bedeutung für ein fruchtbares Miteinander. Und nicht zu vergessen: Innerbetriebliches Marketing für eben diese „Produkte“ ist eine der Voraussetzungen, damit sie überhaupt nachgefragt werden können.

Lagger: Eine „Spürst mich-Kultur“ zu pflegen ist wenig nützlich. Vielmehr geht es darum, dass man am Arbeitsplatz anständig miteinander umgeht und sich jeder ernst genommen und geschätzt fühlen kann. Konkret zeigt sich das in der Art und Weise, wie Aufgaben auf die Fähigkeiten und Erfahrungen der Mitarbeitenden abgestimmt werden, im Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Mitarbeitenden, darin, ob Mitarbeitende in für sie wichtige Arbeitsbelange einbezogen werden und daran, wie damit umgegangen wird, wenn Mitarbeitende signalisieren, dass sie an Grenzen kommen.

Welche Rolle spielt etwa die Größe einer Arbeitsgruppe – je kleiner, desto besser, weil flexibler?, das sogenannte Mobbing, versagte Anerkennung durch Chefs, falscher Ehrgeiz etc. ?

Meyer-Falcke: Es besteht keine einfache Relation zwischen Größe und Auftrittswahrscheinlichkeit sozialer Fehlsteuerungen. Im Kleinbetrieb ist möglicherweise viel schneller klar, dass etwas unrund läuft, entsteht beim Betriebsinhaber viel unmittelbar spürbarer, weil betriebswirtschaftlich ablesbar der Handlungsdruck, ein Problem lösen zu müssen. Das gilt aber auch für Teams in Großbetrieben oder Verwaltungen, wenn sie denn eigenständig operieren und die Verantwortlichkeiten klar geregelt sind.

Formale Zuständigkeitsdiskussionen, positive wie negative Kompetenzkonflikte, die Neigung zu bürokratischen Prozessen … all das sind vor allem Probleme von größeren und großen Organisationen. Im Großbetrieb hingegen besteht eher die Chance, innerbetriebliche qualifikatorische, organisatorische oder strukturelle Lösungen zu finden, eher die Möglichkeit, vorhandene Gesundheitsstrukturen neu auszurichten oder zu ergänzen und verteilte, aber vorhandene Ressourcen zielgerichtet zu bündeln.

Mag der eine in einem kleinen, überschaubaren Team die unmittelbare Gestaltungsmöglichkeit und die damit vorhandene Ergebnisverantwortung als große Chance auch für sich persönlich ansehen, so empfindet schon der nächste im selben Team allein die unmittelbare, „intime“ soziale Kontrolle als individuelle Bedrohung. Prallen beide Persönlichkeiten im Arbeitsalltag aufeinander, sind Konflikte vorprogrammiert.

Diese Beispiele zeigen, dass allein die Größe eines Teams nicht entscheidend

ist für oder gegen sozial fehlgeleitetes Verhalten. Um Mobbing und ähnliches als Folge dieser Konflikte zu verhindern, sind vielmehr Teamfähigkeit und -willigkeit zu entwickeln und zu fördern.

Lagger: Die Größe der Gruppe scheint mir irrelevant zu sein. Das Verhalten des Chefs und das Betriebsklima sind ausschlaggebend.

Und nun fast staatstragend und ökonomisch: Wie arbeiten Sie mit Kranken- und Unfallkassen, den Sozial- und Rentenversicherungen und anderen Versicherern zusammen? Sehen Sie Handlungsbedarf auf der Ebene von Strukturen? Was ist der Impact von Burnout auf die Ökonomie, betriebs- und volkswirtschaftlich, und was wären Strukturprojekte, in die man einzahlen müsste?

Meyer-Falcke: Natürlich sind die Sozialversicherungsträger Partner für Gesundheit im Betrieb. Und natürlich kooperieren wir mit ihnen. Von präventiv-orientierter Beratung bis hin zur anlassbezogenen Projektarbeit spannt sich der Bogen. Im Kontext Burnout fehlt es aktuell – abgesehen von ersten Pilotprojekten – an einer Unterstützung, die quer zu den bestehenden Systemen liegt und strukturell verankert ist. Eine Einheit, in der berufliche, qualifikatorische, gesundheitliche und soziale Rehabilitation aus einer Hand erfolgen.

Es ist zu begrüßen, dass sowohl die gesetzlichen Kranken- als auch Unfallversicherungsträger mit Blick auf das Krankheitsgeschehen im Betrieb und bei diversen präventiven Gesundheitsprogrammen kooperieren. Volkswirtschaftlich müssten hier – und vor dem demographischen Hintergrund künftig immer mehr – vor allem die Rentenversicherungsträger im Fokus stehen. Es ist gesamtgesellschaftlich unverzichtbar, Beschäftigte möglichst lange und gesund im Erwerbsleben zu halten – und

so auch diese Sozialversicherungskassen zu entlasten. Allein schon die ethisch-moralische Verpflichtung eines jeden Arbeitgebers, für die Gesundheit seiner Beschäftigten Sorge zu tragen, müsste argumentativ reichen, damit er es auch tut. Offenkundig ist dies nicht immer so gewesen, so dass diese Verpflichtung durch eine Reihe von gesetzlichen Vorgaben im Strafrecht, im BGB, vor allem aber im Arbeitsschutzrecht flankiert wird. Dabei ist unbeschadet dieser normativen Vorgaben auch die betriebswirtschaftliche Situation klar: Jeder einzelne Ausfalltag kostet Geld. Anders als zum Beispiel bei urlaubs- oder fortbildungsbedingten Ausfalltagen steht den krankheitsbedingten dabei keinerlei Gegenleistung gegenüber. Je höher die Ausfallquote, desto höher die „umsonst“ aufzubringende Lohnsumme. Unabhängig davon, welche Ursache die Erkrankung hat und ebenso unabhängig davon, ob es sich um eine körperliche oder seelische Erkrankung handelt.

Lagger: Wie bereits erwähnt, gibt es in der Schweiz keine Studien zu Burnout. Allerdings ist es selbstverständlich evident, dass Mitarbeiter, die wegen eines Burnouts ausfallen, für den Arbeitgeber zusätzliche Kosten verursachen. In der Schweiz existiert keine wirklich institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den Krankenkassen und jenen Institutionen, die für die Prävention zuständig sind.

Lagger zu Meyer-Falcke: Ich kann die Einschätzung nur unterstützen, dass es zur wirksamen Prävention eine Zusammenarbeit und eine effiziente Koordination zwischen den Akteuren von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz braucht. Wie oben erwähnt besteht ein solcher Dualismus auch in der Schweiz. Und wir arbeiten daran, negative Begleiterscheinungen des Dualismus zu überwinden, um einen gesamtheitlichen und auch effizienten Schutz der Gesundheit am Arbeitsplatz zu erreichen.

Aber passt sich der Arbeitnehmer beziehungsweise Mitarbeiter nicht automatisch selbst eher durch innere Verdrängung an seine Umwelt im Marktgeschehen, bei Selbständigen, beziehungsweise am Arbeitsplatz an, weil Unternehmen und Märkte als Systemplayer „keine Seele“ haben, er aber als Einzelner schon?

Meyer-Falcke: Bis zu einem gewissen Punkt ist Verdrängung etwas grundsätzlich Positives. Sie hilft uns, uns nicht permanent von bestimmten Erlebnissen beeinträchtigen zu lassen. Bewusstes Verarbeiten einer Situation wie z.B. bei der Trauerarbeit oder der Therapie posttraumatischer Belastungsstörungen kann man im Übrigen auch erlernen. Problematisch wird es, wenn Verdrängen als einziger Ausweg gesehen wird und zu manifesten körperlichen oder seelischen Beschwerden führt. Hier kann eine Lösungsstrategie darin bestehen, dem Betroffenen Angebote zu vermitteln, die ihm eine Öffnung gegenüber seinen Problemen ermöglichen.

Naturgemäß einfacher ist Verhaltens-prävention, wenn auch oftmals schon der Versuch, den Lebensstil, also Ernährung, Bewegung oder Suchtverhalten, zu ändern, am eigenen inneren Schweinehund scheitert. Ungleich schwieriger, weil noch komplexer, dafür aber systemisch betrachtet unbedingt nachhaltiger, ist die Verhältnisprävention. Mit Humanisierung der Arbeitswelt hat es überhaupt nichts zu tun, wenn der Arbeitsgeber seinen Beschäftigten zur Burnout-Prophylaxe Stressbewältigungskurse anbietet, um im nächsten Schritt dann die Arbeitsprozesse weiter zu verdichten mit dem Argument „Ihr habt doch jetzt gelernt, mit Stress umzugehen!“. Die Bedeutung der Unternehmensphilosophie und des Arbeitsklimas sind hier schon mehrfach thematisiert worden. Organisationen, die sich diesbezüglich erfolgreich – nicht perfekt! – engagieren, sind lebende Organisationen. Und so, wie lebende Menschen krank werden und meistens auch wieder gesund, so können auch Organisationen als solche krank werden – und sich meistens auch wieder zu einer gesunden Organisation fortentwickeln. Insofern haben auch Unternehmen eine Seele.

Lagger: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Der Umgang mit Belastungen ist individuell.

Warum sind – gegebenenfalls – Sie
Burnout-resistent, oder: Wo ist Ihre
eigene Schmerzgrenze, Ihre „Timeout-Zone“? Wie ist Ihre eigene seelische Ökologie angelegt?

Meyer-Falcke: Ich habe zum Glück eine berufliche Aufgabe, die mir neben aller Fremdbestimmtheit, die mir im Übrigen bei meiner Berufs-Wahl bewusst war, zugleich auch viele Freiräume lässt, meine eigenen Vorstellungen zu realisieren. Ich bin in meinen verschiedenen Rollen überzeugt vom Stellenwert, Sinn und Nutzen meines eigenen Tuns in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. All das hilft mir auch in angespannteren Situationen Stress – auch den, der möglicherweise als solcher zu objektivieren ist – zumeist subjektiv als (positiven, Anm. d. Red.) Eu- und fast nie als (negativen, Anm. d. Red.) Dys-Stress zu empfinden.

Lagger: Ich bin beruflich in einer Position, in der ich meine Arbeit größtenteils selber gestalten und meine Arbeitszeit selber einteilen kann. Insbesondere die Flexibilität bezüglich der Arbeitszeiten gibt die Möglichkeit, die Arbeit durch Pausen zu unterbrechen. Pausen, in denen ich dann musischen, sportlichen und sonstigen Hobbyaktivitäten nachgehen kann.

Lagger zu Meyer-Falcke: Ich denke auch, dass größere Freiräume förderlich sind, um Burnout-Prävention zu machen.

Vielen Dank für das Gepräch.

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