Arbeitsschutz

Irren ist menschlich

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„Wenn das Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten,wären wir zu einfach, um es zu verstehen.“ (Ken Hill)

Jedes Sandkastenkind ist den modernsten Robotern überlegen: Es liest den Gesichtsausdruck seines Gegenüber und sagt damit die unmittelbare Zukunft voraus, und es duckt sich rechtzeitig, bevor es von einer Plastikschippe getroffen wird. Keine Maschine könnte mit der Schnelligkeit der Analyse, der Flexibilität und der Präzision dieser Bewegungsantwort mithalten. Das Kleinkind besitzt eben ein menschliches Gehirn, einen Vorhersageapparat, der passende Bewegungsmuster auswählt, die exakt zu den Ereignissen passen, die geschehen werden.

Kein noch so perfektes Steuerprogramm wird in absehbarer Zeit Menschen ersetzen können, die für die Sicherheit von Anlagen und komplizierten Maschinen sorgen. (Wolpert) Die Effizienz, Sicherheit und Zuverlässigkeit von Maschinen hängt davon ab, wie die mit ihnen arbeitenden Menschen denken und handeln: wie aufmerksam sie sind, wie reibungsfrei sie mit den Maschinen umgehen, wie sie kommunizieren und wie sie unter schwierigen Bedingungen handeln können.

Das Zusammenwirken von Mensch und Maschine kann allerdings verbessert werden: 2010 starben in Deutschland über 600 Menschen bei der Arbeit. Die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle stieg insgesamt auf über eine Million (BMAS/BAuA 2012). Bei Fehltagen und der Erwerbsunfähigkeit gewannen die Muskel- Skelett-Erkrankungen und die psychischen Störungen weiter an Bedeutung. Versagt bei ungewöhnlichen Belastungen die mechanische Logik, kann es zu Großunfällen kommen, wie 1986 bei der Explosion des „Reaktors 4“ des Kraftwerkes Tschernobyl. Eine Serie von Fehlentscheidungen und Übersteuerungen führte zu erfolglosen Versuchen, ein System zu stabilisieren, dass allmählich in die Unzuverlässigkeit abdriftete. Die dabei auftretenden Handlungsmuster der Beteiligten waren nicht ungewöhnlich, sondern hätten in ähnlichen Situationen bei beliebig anderen Personen auftreten können (Hofinger, Dörner).

Auch bei der Katastrophe der Anlage Fukushima Dai-ichi im Jahr 2011 spielten menschliche Faktoren eine wesentliche Rolle (IAEA). Allerdings betrafen die Fehler hier nicht nur das akute Handlungsfeld, sondern auch Planung und Sicherheitsstandards im Vorfeld. Und die Beschönigungsstrategie während der Ereignisse erschwerten Kommunikationsprozesse, die für ein effizienteres Eingreifen nötig gewesen wären. (Pulitz) Wenn zu viele Informationen einfluten, die nicht sinnvoll in einen bekannten Kontext eingeordnet werden, laufen Handlungsmuster ab, die eine ohnehin komplexe und ungünstige Situation weiter verschlimmern:

“An expert is a person who avoids the small errors while sweeping to the grand fallacy.“ (Bloch)

· Lupen-Wahrnehmung

Vereinfachen, ignorieren und ausgrenzen wichtiger Information

An Teilaspekten werkeln

Radiergummi: Information löschen

Vergessen von Regeln und Anweisungen

Verlust des Langzeitgedächtnisses unter Druck

Allein klarkommen

Sich anderen nicht sinnvoll mitzuteilen

Einsame Entscheidungen treffen

In Problemlöse-Trance verfallen

Konservative Handlungsmuster ablaufen lassen

„In die am nächsten stehende, aber unpassende Werkzeugkiste greifen“

Suggestionen blind folgen, und sei es auf Irrwegen

Dem Bauchgefühl folgen

In einen Intuitions-Aktionismus verfallen

Übersteuern

Fliehen, Aufgeben

Primitive Notfall-Lösungsmuster ablaufen lassen („Stress“)

Kollaps („Burn-out“)

Neben den großen, scheinbar schicksalhaften Unfällen gibt es Problemsituationen, die sich langsam, schleichend, allmählich und unmerklich entwickeln: So kann auch eine Intervention über Jahrzehnte zu ungeahnten Folgen führen, die mit bester Intention, unter Kenntnis aller bekannten Risiken, wohlüberlegt, sorgfältig und mit einwandfreier Technik durchgeführt wurde und die vielleicht auch sehr erfolgreich war. Häufig spielen in solchen Fällen Wechselwirkungen mit anderen Faktoren eine Rolle, die völlig unabhängig von der Intervention auftraten. Irgendwann tauchen, scheinbar plötzlich, Probleme auf, von deren Existenz zum Zeitpunkt der Intervention niemand etwas ahnte. Solche „Rache- Effekte“ (Tenner) sind gut untersucht, u.a. bei der Entstehungsgeschichte der flächendeckenden Arsenvergiftung in Bangladesch. (Jäger)

Menschen neigen dazu, komplexe Systemzusammenhänge konsequent einfach auf das offenbar Naheliegende zu reduzieren. Die Möglichkeit von Zufällen und Absurditäten des Verhaltens der beteiligten Systeme oder Menschen werden ignoriert, und Ereignisse, deren Wahrscheinlichkeit sehr klein ist, werden „sicher“ ausgeschlossen. Das kann trügen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch ein amerikanischer Präsident ist, beträgt 1:7 Mrd. Trotzdem ist der Herr im Weißen Haus vermutlich kein Außerirdischer. Auch Unwahrscheinliches ist manchmal bedeutsam:

„Beforehand … and after the decision … the thing that was needed was a day around the table brainstorming Murphy”s Law: “If anything can go wrong it will!”“ Amerikanische Regierungskommission zum Desaster einer Impfkampagne 1976 (Dehner)

„Murphy‘s Law“ fand inzwischen Eingang in das Fail-Safe-Prinzip der Qualitätssicherung, z. B. bei der Ausfallsicherheit durch redundante Systeme. Chaos kommt eben manchmal vor und es ist gut, die geeignete Einstellung dazu zu gewinnen:

„You can make it foolproof, but you can’t make it damnfoolproof.” (Bloch)

Nach einer Analyse des „World Economic Forum“ (s. Lit) werden die Unwägbarkeiten und unabsehbaren Krisen im globalen Maßstab zunehmen und zudem ihren Charakter verändern. Die beruflichen Anforderungen werden also in einer sich immer schneller verändernden Welt weiter steigen. Es wird schwieriger werden, innerlich stabil, flexibel, mit kühlem Kopf zu handeln und für die Sicherheit im Unternehmen zu sorgen.

Sicheres Handeln lernen
Paradoxerweise sind Menschen, die für die Sicherheit technischer Anlagen unverzichtbar bleiben, gleichzeitig die eigentliche Ursache der Unsicherheit. In der Evolution nennt man ein solches Phänomen Anpassungsdruck, der „lernende, lebende Systeme“ dazu zwingt, sich durch sinnvolle Veränderung der Verhaltensmuster anzupassen, damit sie nicht aussterben.

Vor einem Lernprozess steht der Glückszustand „unbewusst unfähig zu sein“. Noch entziehen sich Probleme, Mängel oder Fehler der Wahrnehmung: „Ein Baby krabbelt fröhlich auf dem Teppich herum und weiß noch nichts vom Stehen“. Diesem Zustand folgt meist plötzlich und schmerzhaft die Erkenntnis der Unfähigkeit, angesichts eines Fehlers oder eines unerwarteten Problems: „Die Keksdose auf dem Tisch ist für das Baby unerreichbar“. Mit Konzentration, Anstrengung und erst nach langem, mühsamem und dornigem Training folgt die „bewusste Fähigkeit“, die sehr viel Konzentrationsenergie und Haltearbeit verbraucht: „Wackelig stehen, einen Schritt gehen, Hinfallen, Aufstehen“. Schließlich sind im Gehirn und im Körper die automatisch ablaufenden Bewegungsmuster verankert, die nur durch einen Handlungswillen, eine Intention, losgetreten werden müssen (Llinas): „Losgehen und Kekse essen“.

Lernen erfordert Fehler-machen, da eine begrenzte Informationsbasis zum Probehandeln zwingt. Das Gehirn wird dabei durch die Abweichungen zwischen gewolltem Handlungsergebnis und der erreichten Realität kalibriert. Persönlich erlebte Erfahrungen, die mit ungewöhnlichen Erfolgen oder Fehlern verbunden sind, werden besonders nachhaltig abgespeichert. Die Erzählung von den Erfolgen und der Fehlerfreiheit anderer („Best practise“) bleibt selten haften.

Damit wir aber aus Fehlern lernen können, müssen sie die richtige Größe haben: zu klein bewirken sie nicht die nötige Frustration, die zu Veränderung zwingt, und zu groß führen sie zu Abwehr oder Aufgeben. Idealerweise geschehen sie in einem Rahmen, in dem geschütztes Probehandeln und offene, uneingeschränkte Kommunikation möglich ist. Dann untergräbt das Auftreten von Fehlern nicht das Selbstvertrauen, sondern zeigt nur Hürden auf, die anschließend überwunden werden und zu einem neuen Erfolgsgefühl führen.

Daraus entsteht Kompetenz. Damit ist nicht nur das perfekte, elegante und hocheffiziente Abspulen erlebter und erfahrener Handlungsmuster von Experten gemeint, sondern auch die Fähigkeit, neue Muster zu erkennen und damit weiterlernen zu können. Kompetentes Handeln zeigt sich auch in der Souveränität zur Begrenztheit der Expertise zu stehen, und in den Fähigkeiten selbstbewusst Vertrautes zu hinterfragen, interdisziplinär zu kommunizieren und von anderen Experten Rat einzuholen.

„Fehlervermeidungsstrategien“ können ein System hinsichtlich bereits bekannter Risiken und Fehlerquellen, die in der Vergangenheit aufgetreten waren, stabilisieren, sie können aber nicht flexibel auf mögliche bisher ungeahnte Probleme vorbereiten. Sie führen daher selten zu Veränderungen, die die Sicherheit und Stabilität von Systemen erhöhen: Zum Beispiel war eine wichtige „lesson learned“ des Untergangs der Titanic im Jahr 1912 , dass es nötig sei, für genügend Rettungsboote an Bord zu sorgen. Diese richtige Erkenntnis, die zu Lernen den Tod von über tausend Menschen erforderte, wurde sehr konsequent bei der Ausstattung der „Eastland“ beherzigt. Man brachte also genügend Rettungsboote an Deck, was den Schwerpunkt des Schiffes nach oben verschob. Im Hafen von Chicago gut vertäut, kippte die Eastland 1915 um und riss dabei 850 Menschen in den Tod. Erfahrung ist eben etwas, das erst nach dem Ereignis entsteht, wofür man diese Erfahrung gebraucht hätte.

Die Eastland-Katastrophe, die ausschließlich auf menschliches Versagen zurückzuführen war, wurde rasch vergessen: Bei der Titanic hingegen schienen schicksalhafte Naturkräfte beteiligt zu sein, was den Unfall für die Nachwelt offenbar attraktiver gestaltete.

„There is always one more bug.” (Bloch)

Aus erlebten Fehlern zu lernen ist offenbar die einprägsamste Möglichkeit das komplexe System des Gehirns zu kalibrieren. Die Analyse noch nicht eingetretener Fehler in „Stress-Tests“ ersetzt keine Erfahrung, da bei ihnen nur Varianten des bekannten Wissens einfließen können. Zufälle und indirekte Auswirkungen anderer Systemzusammenhänge lassen sich nur schätzen, und auch psychologische Faktoren können solche Planungsszenarien einschränken. Es wäre z. B. möglich, dass die Beteiligten an einem Stress-Test über eine „Killerannahme“, etwas was das ganze Projekt kippen würde, nicht reden wollen, über den „Elefanten im Raum“, den keiner wahrzunehmen scheint oder über den keiner zu sprechen wagt. Es könnten auch immer mehr Belege, Studien, Gutachten und Arbeitsgruppenergebnisse eingeholt worden sein, mit dem Ziel die Theorie zu belegen und zu bestätigen. Ferner könnte es sein, dass zu wenig Experten zur Verfügung stehen, d.h. Personen, die jahrelange persönliche Erfahrungen machen konnten (und nicht nur Lösungen theoretisch verinnerlicht haben), oder dass es an Kompetenz mangelt, verschiedene Expertensichtweisen zu einem schlüssigen Gesamtkontext zusammenzuführen.

„There are some things which are impossible to know, but it is impossible to know these things.“ (Bloch)

Sensation (Alles vergleichen) und Perzeption (Einzelnes prüfen)
Menschen erfahren, indem sie tun. Vieles spricht dafür, dass Nervenzellen im Wesentlichen dazu da sind, Aktivierungsprogramme zu bahnen, die Handlungen bewirken. Diese Aktivitäten führen zu Ergebnissen, die wir beobachten. Wir tun also etwas, damit wir zurückschließen können auf die Situation, in der wir uns befinden. Natürlich nehmen wir es umgekehrt wahr, aber Handlungsimpuls und Handlung gehen der Empfindung voraus (Buzsáki).

Die inneren Widersprüche und Reibungsverluste bei diesem Prozess bleiben gering, wenn alle Nervenzellen gleichzeitig, harmonisch koordiniert, aktiv werden: Sätze werden geschliffen, brillant formuliert oder Handgriffe präzise, exakt ausgeführt. Für Nervenzellen trifft das gleiche zu wie für Zellen des Bewegungsapparates: sie wirken optimal, wenn sie „in Serien“ geschaltet sind. Genauer, wenn sie über zahllose Re-Entry- oder Feedback- Schleifen aufeinander abgestimmt sind. Würde ein Leistungssportler nur mit einer Muskelgruppe werfen, während eine andere schlaff und unbeteiligt wäre, würde er sich verzerren und wenig bewirken. Die gleichen Widersprüche entstehen bei Versuchen, bestimmte Anteile des Gehirns zu Hochleistung anzutreiben und andere auszubremsen. Auch das zieht über kurz oder lang Probleme nach sich.

Nehmen wir an, ein Ingenieur bemerkte über die Anzeige der Kontrollinstrumente ungewöhnliche Prozesse, eine andere Periodizität der Ereignisse, ein geringes Schlingern oder Vibrieren. Je erfahrener er wäre, desto früher nähme er möglicherweise (oder scheinbar) harmlose Zeichen wahr. Er würde aufmerksam sein, hellwach und „ganz da“. Um aus der Situation lernen zu können, müsste er sich ihr gewachsen fühlen, gegründet auf Erfahrung und Selbstwert. Und er sollte einen Sinn erkennen, einen motivierenden Zusammenhang, der über seine Person hinaus Bedeutung hat, wie das Wohl der Familie oder seiner Firma.

Ein aufmerksamer Zustand koordinierter Aktivität aller Nervenzellen beruht auf Pulsgebern im Mittelhirn und Stammhirn (Buzsáki). Auch die Rhythmen anderer Gehirnanteile sind dafür von Bedeutung, insbesondere die der vorderen Großhirnhälften, deren Aufgabe es im Wesentlichen ist, den Rest des Hirns zu beruhigen: von der Unmittelbarkeit der Ereignisse zurückzutreten, um sie neu zu bewerten (McGilchrist). Diese komplexen Vorgänge erfordern Ruhe, Selbstsicherheit und eine durch Training gefestigte Struktur. Effektives Handeln gründet sich gleichermaßen auf Stabilität und Flexibilität; und für innere Haltungs- und Entscheidungsprozesse sollte möglichst wenig Energie aufgewandt werden.

Je nachdem, ob der Ingenieur seinem rechten oder seinem linken Frontalhirn die Führung überlässt, wird er eine jeweils unterschiedliche Weltsicht wahrnehmen. Und das ist sehr nützlich:

Die rechte Hirnhälfte scheint u.a. darauf spezialisiert zu sein, die Welt in ihren komplexen ungeahnten und überraschenden Zusammenhängen und Beziehungen wahrzunehmen, etwa so wie ein Vogel, der sich im Vogelhäuschen umschaut und nach fremden Tönen lauscht (McGilchrist). Die Welt stellt sich bei dieser Art der Aufmerksamkeit als ein sich rasch veränderndes Chaos ineinander verwobener, eigendynamischer Systeme dar. Sie gleicht Meereswellen, die uns harmonisch plätschernd beruhigen oder in Stürmen aufgewirbelt, oder noch schlimmer als Tsunami, bedrohen können. Diese Art der Mustererkennung nennen einige Psychologen „Sensation“, die „sofort“ aus Wahrnehmungsmustern Emotionen wie Angst oder Fröhlichkeit erzeugt. Dabei werden alle Informationen aller Nervenzellen miteinander abgeglichen, um eine Bedeutung oder eine Stimmigkeit zu entdecken. Wir erkennen schlagartig eine Gestalt in einem scheinbar chaotischen Muster, den Ausdruck einer Mimik, ein indirektes Zeichen einer verborgenen Bedrohung oder ein Tierbild in einem Wolkenbausch.

Die linke Hirnhälfte dagegen betrachtet tot-unbewegliche, scharf abgegrenzte, voneinander isolierte Teilchen wie unter einer Lupe. Diese Mustererkennungen des Unterscheidens nennen einige Psychologen „Perzeption“. Ein Vogel zum Beispiel braucht diese Art der Wahrnehmung, wenn er nach nützlichen Körnchen zwischen reichlich Unrat pickt. „Perzeption“ ist langsamer als „Sensation“, weil das Gehirn nur wenige Begriffszusammenhänge gleichzeitig verarbeiten kann (Humphrey). Einzelinformationen bewerten, zusammensetzen und neu ordnen erfordert Zeit.

Beide Fähigkeiten der Wahrnehmung oder Einstellung zu einer Situation sind wichtig für unser Überleben. So könnte die Ursache einer Abweichung von einer Normalität sowohl daran liegen, dass völlig unbekannte Ereignisse oder Einflüsse zu wirken beginnen („Sensation“) oder dass einfach ein Einzelteil beschädigt ist, das ausgewechselt werden muss („Perzeption“).

Idealerweise würde der Ingenieur also in einer bedrohlich werdenden Situation dem instinktiven Wunsch zum Griff nach der Notbremse frühzeitig in sich wahrnehmen, ihn jedoch dämpfen können. Er würde tief durchatmen und sich beruhigen, um dann die Fähigkeiten beider Großhirnhälften gleichermaßen einzusetzen. In der Realität entsteht hier häufig das Problem, dass eine Hirnhälfte, meist die linke, besser trainiert ist als die andere und daher die Führung behält, obwohl sie in einer ungewohnten Situation weniger zu bieten hätte.

Als Experte würde der Ingenieur alle bekannten Ablaufdetails kennen und hätte ggf. alles verinnerlicht, was in Handbüchern zu schwierigen Situationen zu sagen ist. Er wäre absolut sicher hinsichtlich der Begriffe und Details, wäre aber nun mit etwas völlig Neuem, was es bisher nicht gab, konfrontiert. Er müsste nun den ganzen, komplexen, vielleicht chaotischen, eigendynamischen Zusammenhang wahrnehmen, der ggf. voller weiterer Überraschungen steckt, die er jetzt noch nicht sehen kann.

Behielte er dabei einen „kühlen Kopf“, blieben das „Bauchgefühl“ und noch einfachere Lösungsprogramme, von Frontalhirnwirkungen beruhigt, im Hintergrund. Er behielte den Überblick über die sich eröffnenden Möglichkeiten. Die Basis seiner Expertise und das bisher verfügbare Wissen vermittelten ihm Sicherheit. Er könnte aber auch, wenn nötig, ihm in dieser speziellen Situation geeignet erscheinende Lösungen auswählen, die innovativ wäre oder ggf. sogar kontra-intuitiv erschienen. D.h. er könnte aus gutem Grund auch einen Weg einschlagen, der noch nie begangen wurde, etwas das bisherigen Anweisungen widerspräche, sich aber im Nachhinein als die richtige, zur neuen Situation passende, Lösung erweisen würde.

emotionale Intelligenz
Nehmen wir an, der Ingenieur behielte auch dann den Überblick, wenn sich die Situation verschärfen würde. Er hätte das sichere Gefühl, sich auch unter Belastung auf eine ungewohnte Situationen einstellen zu können, auch wenn er nicht mehr „alles im Griff“ hätte. Er würde jetzt sein körperliches und geistiges Aktivierungspotential voll ausschöpfen. Dazu benötigt er insbesondere die Anteile seines nicht bewussten Nervensystems, das maximale körperliche und geistige Hochleistung bewirkt, aber gleichzeitig weiter verhindert, dass die Notbremse aktiviert wird.

Wie geschieht das? Indem er etwas fühlt: eine sehr praktische und nützliche Eigenschaft unseres Zwischenhirns, das alle Informationen von innen und außen verarbeitet, bevor sie in die Großhirnrinde gelangen. Fühlen entwickelt sich auf der Basis der Botschaften von Zellen, insbesondere denen der inneren Sinne: Druck, Zug, Gelenkstellung, Temperatur und Schmerz. Deren Meldungen werden im Zwischenhirn bewertet, bevor sie bewusst werden: „gut, schlecht, sicher gefährlich, …“ (Damasio). Für das Gefühlserleben wird das Gespürte mit Erlebnisbildern, Erfahrungen, Kompetenzeinschätzung und Zukunftsvorstellungen zu einem Gesamten verknüpft. Dieser Vorgang kann im Nachhinein beobachtet werden: „Was spüre ich, wenn ich mich so fühle?“ Durch eine Veränderung des Spürens durch eine andere Gelenkstellung, eine andere Form der Atmung, eine andere Muskelspannung, verändert sich das Gefühlte. Die Schwingungsmuster, die beim Fühlen im Zwischenhirn entstehen, verleihen dem Erlebten einen besonderen Charakter („Färbung“ oder „Tonart“), und beeinflussen alle anderen Gehirntätigkeiten (Dörner, Porges). Diese „Gangschaltung des Gehirns“ ist bei allen menschlichen Kulturen gleich und damit die Basis interkultureller Kommunikation: Überraschung, Sicherheitsempfinden, Befriedigung der Grundbedarfe, Freude, Trauer, Wut, Ärger, Ekel, Angst.

Mimik und Körperhaltung spiegeln die Gefühle reflexartig: Wir leiden, wenn eine andere, uns nahe stehende Person leidet. Über Gefühle treten wir in Kontakt, beeinflussen uns und lassen uns mitreißen. Fühlen wir Freude, wird Belastung zu einer willkommenen Herausforderung. Dann sind neben einem voll präsenten Aktivierungsprogramm, gleichzeitig stark dämpfende, beruhigende Impulse aktiv, die über höhere Hirnzentren vermittelt werden. Es resultiert ein Bewegungsfluss, bei dem die Herz-Kreislauffunktion besonders effizient arbeitet. Sportler, die sich in diesem hochaktiv-entspannten Zustand bewegen, sind anderen, „die im Stress alles geben“ hinsichtlich der Effizienz der Bewegungsausführung und der Leistungsreserven der Herzaktion deutlich überlegen.

Reflexhaft handeln und sich wieder beruhigen
Nüchterne Herangehensweisen an Situationen, die auf einem Gefühl der Selbstsicherheit gründen, sind mit einem entscheidenden Nachteil verbunden: sie sind mindestens eine halbe Sekunde langsamer als „sofort“. Bei plötzlich auftretender starker Unbestimmtheit kommen sie deshalb nicht in Frage: wenn zum Beispiel ein Alarmsignal eine unmittelbare Reaktion verlangt, muss der Ingenieur seine Hand sofort bewegen, erst danach kann er die Situation insgesamt wahrnehmen und darüber nachdenken, was gerade geschehen ist. Erst danach würde er „Herzrasen“ wahrnehmen und einen Kollegen ansprechen, um ihm mitzuteilen, wie elend er sich fühle.

Nothandeln ist zwar nicht optimal und häufig mit Kollateralschäden verbunden, manchmal aber lebensrettend. Je schneller aber das reflexhafte Handeln wieder beruhigt wird, desto besser.

Notsituationen entstehen auch, wenn Bedrohungssituationen eskalieren, z.B. wenn Gefühle aufgeschaukelt werden, oder wenn versucht wird sie zu unterdrücken, aus Angst sie zu offenbaren. Es wird auch umso schneller zur Notbremse gegriffen, je niedriger der Selbstwert, je geringer die Erfahrung und je unbedeutender die Motivation ist.

„Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît pas. – Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ Blaise Pascal

Reflexartige Reaktionen können relativ rasch durch Kommunikation unterbrochen werden (Goleman). Solange mit anderen über Sprache oder Gesichtsausdruck ein Austausch möglich ist, und sei es im Zustand von Angst, Wut, Ärger oder Ekel besteht die Möglichkeit, dass sich das Gefühl bei kompetentem Verhalten verändern könnte. Einer der Beteiligten könnte ein Gefühl zeigen, das nicht zum Aufschaukeln passt oder er könnte Ruhe ausstrahlen, zuhören, Verständnis für den Grundbedarf des Anderen nach Sicherheit signalisieren, mit einer Geste beruhigen oder langsam, ruhig sprechen. (Porges) Das Gefühl „Überraschung“ löst eine Reflexstarre besonders gut auf, weil etwas Gefährliches („ein Tiger“) als harmlos entlarvt wird („ein Stofftier“), und Stress verpufft mit Humor und erleichterndem Lachen (Miller).

Flow und Trance
Eine weitere Möglichkeit bei zunehmender Belastung zu handeln, bietet ein bestimmtes Schwingungs- und Verschaltungsmuster des Gehirns, das auch bei Tieren vorkommt, die in Gruppen handeln. Sportler die den Bewegungsablauf, den sie trainieren, genießen und sich unter Belastung wohlfühlen, kennen diesen Zustand als angenehmes Flow-Gefühl. Im Flow verliert sich die Empfindung für Zeit und der Gedankenfluss an alles außerhalb der Bewegung verebbt. Handwerker und Künstler erleben Gewandtheit, wenn Sie sich von ihrer Wahrnehmung mit einem Werkzeug oder einem Werkstoff zu einer harmonischen Bewegungseinheit verbinden. Nimmt die Leistungsanforderung zu (z. B. nach Überwindung der Erschöpfungsphase beim Marathonlauf), gehen Flow und Gewandtheit in eine konzentrierte Trance über. Die Fähigkeit zu individuellem, rationalem, innovativem Denken wird dann vorübergehend ausgesetzt („Trance-Logik“ Merö) und es wird das an Handlungsmustern ungehindert abgespult, was im Rahmen erlebter Erfahrung eintrainiert wurde. Fühlen und Schmerzempfinden werden gedämpft.

In einer Gemeinschaftstrance tritt das Ich-Gefühl gegenüber dem der Gruppe oder der Aufgabe zurück. Das Gehirn öffnet sich für Suggestionen der Alpha-Person, die sich auskennt und der jetzt (ggf. bedingungslos) gefolgt werden muss. Das ist dann günstig, wenn der Verantwortliche (Schichtleiter, Bergführer, Kapitän) die Übersicht behält, also nicht selbst in einen Trancezustand verfällt.

Kämpfen und Fliehen
Wenn alle genannten Lösungsstrategien nicht helfen und nicht zu den gewünschten Resultaten geführt haben, müssen schließlich alle verfügbaren Reserven mobilisiert werden: entweder mit allen Mitteln „Gegenetwasan“-Kämpfen oder davor Zurückweichen, jeweils ohne Rücksicht auf Verluste. Diese „Stress“ genannte Primitivreaktion stammt entwicklungsgeschichtlich aus der Zeit der Dinosaurier. Die Stressreaktion ist zwar noch nicht so schnell wie ein Reflex („Finger von der Herdplatte zurückziehen“), kommt dieser Geschwindigkeit aber schon sehr nahe.

Wenn der Ingenieur unter Stress handelt, weil er z.B. übermüdet ist oder sich überfordert fühlt, wird es kritisch: nicht unbedingt für ihn, sicher aber für die Anlage. Gehirn und Körper werden mit Alarmbotenstoffen überschwemmt, sein Denken und Fühlen abgeschaltet, die Weltsicht verändert sich röhrenartig („Tunnelblick“). Der Körper wird maximal für Grobmotorik aktiviert und beruhigende Impulse werden unterbunden. Dieser Zustand des „Augen zu und durch“ zieht über kurz oder lang Kollateralschäden nach sich: bei ihm selbst, bei anderen oder bei dem Material mit dem er arbeitet.

Um aus dieser scheuklappenartigen, linearen Art des „Vor oder Zurück“ herauszufinden, braucht es Zeit, um den Körper wieder wahrzunehmen, Sicherheitsgefühle zu entwickeln und schließlich neue Möglichkeiten zu entdecken.

Paradoxerweise ist die Stressreaktion selbst bei lebensbedrohenden Katastrophen gänzlich unnötig. Stress schränkt die Handlungsmöglichkeiten ein und vermindert die Effizienz aktiver Bewegung. Und nichts von dem, was andere tun oder was gerade geschieht, stresst uns: sondern wir stressen uns selbst, d.h. greifen unbewusst zu einem wenig geeigneten Verhaltensmuster, obwohl uns in jeder Situation effektivere Mittel zur Verfügung stehen würden. Um diese wahrnehmen zu können, muss aber immer zuerst die Stressreaktion durch innere oder äußere Kommunikation beruhigt werden.

Zusammenbruch: sich tot stellen
Wenn schließlich auch Angreifen oder Fliehen nicht mehr möglich sind, kommt es nach einer krampfartigen Daueranspannung irgendwann zum Kollaps. Für Schildkröten ist diese Strategie nützlich: unter Wasser den Kopf einziehen und den Kreislauf solange auf nahe null einregulieren, bis die Gefahr vorübergezogen ist. Für Säugetiere und insbesondere für Menschen ist dagegen der Zusammenbruch nach einer maximalen Stressaktivierung extrem gefährlich, weil ein hochaktives Gehirn keine Drosselung der Zufuhr von Zucker und Sauerstoff folgenlos überstehen kann. Auch zahlreiche Körperrhythmen, insbesondere die des Herzens, des Verdauungstraktes und des Immunsystems werden im Zusammenbruch nachhaltig gestört. Das Modewort „Burn out“ umreißt den Zustand sehr unscharf. Präziser sind die Bezeichnungen für Stress-Folgekrankheiten: Herzinfarkt, Immunstörungen, Magengeschwüre, chronische Erschöpfung und Depression u.v.a.

Schlussfolgerung
Stresssituationen oder noch schlimmer, die Ignorierung offensichtlicher Probleme, sind hochriskant für die Sicherheit einer Anlage und für den Unternehmenserfolg. Ingenieure und Manager müssen daher trainieren, wie in schwierigen Situationen der Kopf hellwach und klar und der Körper entspannt bleibt.

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