Betriebliches Gesundheitsmanagement

Der Betriebsarzt als Leiter eines Präventionsteams

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Wachsende Anforderungen an betriebsärztliche Tätigkeit
Mit Inkrafttreten der DGUV Vorschrift 2 änderten sich auch die Anforderungen an die betriebsärztliche Betreuung. Im Unterschied zu den alten Regelwerken konzentriert sich die Betreuung stärker auf konkrete Inhalte und nicht mehr ausschließlich auf starre Einsatzzeiten. Damit wird einer sich ständig verändernden Arbeitswelt mit sich ebenfalls verändernden Gesundheitsrisiken entsprochen. Die Anforderungen an Dynamik und Flexibilität im täglichen Arbeitsleben nehmen seit Jahren zu: Zudem werden die Arbeitsprozesse immer komplexer, die Belastungen und Beanspruchungen der Arbeitnehmer individueller. Damit ändern sich auch die Anforderungen an den Betriebsarzt, der Beratungsbedarf nimmt zu, nicht zuletzt auch unter dem Aspekt des demografischen Wandels in Deutschland. Der Betriebsarzt muss im Rahmen seiner Aufgaben sowohl die Gestaltung von Arbeitsabläufen und Arbeitsplätzen als auch die individuellen gesundheitlichen Voraussetzungen der Beschäftigten beurteilen und beeinflussen. Um dabei den aktuellen Anforderungen gerecht werden zu können, sind wiederum ständige Fortbildungen zur Aktualisierung des Wissens hinsichtlich neuer rechtlicher Grundlagen sowie Untersuchungs- und Diagnostikverfahren erforderlich. Dies stellt gegenwärtig eine Herausforderung dar.

Wie lassen sich nun die Steigerung der Attraktivität der betriebsärztlichen Tätigkeit, die Forderung nach umfassendem und aktuellem Fachwissen und der wachsende betriebsärztliche Beratungsbedarf in der Praxis realisieren? Ein denkbarer Lösungsansatz zielt in Anlehnung an die Ausführungen der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vom 29.08.2008 auf ärztlich delegierbare Leistungen ab.

Betriebsärztlich delegierte Leistungen
Im Rahmen eines Konzepts zur modernen arbeitsmedizinischen Betreuung tritt der Betriebsarzt als zentraler Berater des Unternehmers in Fragen zur betrieblichen Gesundheit der Beschäftigten auf. Er ist Ansprechpartner des Unternehmers sowie Dreh- und Angelpunkt in der betriebsärztlichen Grundbetreuung gemäß DGUV Vorschrift 2 und in der betrieblichen Gesundheitsförderung als Bestandteil der betriebsspezifischen Betreuung. Gemeinsam mit dem Unternehmer stimmt er alle erforderlichen betrieblichen Maßnahmen ab. Hierzu führt er jährlich eine Arbeitsplatzbegehung durch, berät die Beschäftigten zu gesundheitsrelevanten Fragen sowie den Arbeitgeber in Fragen der Arbeitsplatzgestaltung, der Arbeitsgestaltung und in der Auswahl geeigneter Präventionsmaßnahmen. Seine Erkenntnisse und Ergebnisse überführt der Betriebsarzt in einen Jahresarbeitsplan für das jeweilige Unternehmen. Im Jahresarbeitsplan werden alle weiteren Aktionen, die der Betriebsarzt empfiehlt, schriftlich festgehalten. Der innovative Ansatz des Konzeptes sieht den Betriebsarzt im Folgenden als besonders befähigten Teamplayer, als Leiter eines Präventionsteams, das sich aus verschiedenen Fachexperten zusammensetzt.

Betriebsarzt und Präventionsteam
Mitglieder im Präventionsteam können z. B. Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen, Sportwissenschaftler, Gesundheitswirte, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden, medizinische Präventionsassistenten etc. sein. Bei festgestellten Gesundheitsrisiken und -gefahren, beurteilten Belastungen oder erfassten Beanspruchungen kann der Betriebsarzt aus diesem Portfolio schöpfen und konkrete Teilleistungen auf den jeweiligen Fachexperten delegieren. So wird bereits heute die Einbindung von Arbeitspsychologen in die betriebsärztliche Betreuung bei tiefer gehenden arbeitspsychologischen Fragen praktiziert. Unzweifelhaft sinnvoll dürfte auch das Hinzuziehen eines Logopäden für stimmlich beanspruchte Berufe wie Call-Center-Agenten, Lehrer, Schauspieler oder Sänger sein. Dieser gedankliche Ansatz lässt sich nun fortführen und z. B. bei bestimmten Fragestellungen auf Gesundheitswirte oder Sportwissenschaftler projizieren. Delegierbare Leistungen für diese Berufsgruppe können ein Arbeitstechnik-Training für ergonomisches Heben und Tragen, Trainingseinheiten für Ausgleichsbewegungen bei starker einseitiger körperlicher Belastung oder Entspannungsübungen für die Augen bei überwiegender Bildschirmarbeit sein. Ebenso erscheint eine Beratung zum vorbeugenden Hautschutz durch einen speziell geschulten Präventionsassistenten denkbar.

Leitung durch den Betriebsarzt
Der Betriebsarzt behält dabei stets alle Fäden in der Hand. Er allein entscheidet in Abstimmung mit dem betreuten Unternehmen, ob überhaupt und welche Leistung an welches Mitglied seines Präventionsteams delegiert wird. Jede delegierte Teilleistung erfährt durch den jeweiligen Fachexperten eine Zusammenfassung und Auswertung, die dem Betriebsarzt zugearbeitet wird. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass alle Ergebnisse beim Betriebsarzt als Prozessführer zusammenlaufen. Er analysiert die Ergebnisse und lässt die Erkenntnisse z. B. in die Arbeitsschutzausschuss-Beratungen oder die Beratungen betrieblicher Arbeitskreise für Gesundheit einfließen. Somit kann er seiner Beratungsaufgabe innovativ, anforderungsrecht und auf allseitigem, hohen fachlichen Niveau gerecht werden. Durch die betriebsärztliche Koordination und Überwachung können Maßnahmen ggf. vertieft oder angepasst werden. Einzelmaßnahmen lassen sich systematisch zusammenführen im Sinne einer nachhaltigen betrieblichen Gesundheitsförderung. Für die Delegation von betriebsärztlichen Leistungen sind unbedingt qualitative Maßstäbe erforderlich. So muss sich der Betriebsarzt zuvor überzeugen, ob der Fachexperte für eine Delegation der betreffenden Leistung geeignet erscheint (Auswahlprinzip) und er muss ihn zur selbständigen Durchführung anleiten (Anleitungspflicht) sowie die Durchführung in geeigneter Form überwachen (Überwachungspflicht). In einem eingespielten Präventionsteam dürfte der Betriebsarzt als Teamleiter sehr schnell die konkreten Fähigkeiten der Teammitglieder einschätzen und koordinieren können. Die Qualität und das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg sind oftmals widerstrebende Parameter. Daher ist bei der ärztlichen Delegation an das Präventionsteam zu beachten, dass nicht die Kosteneinsparung zum Entscheidungskriterium und generell auf das kostengünstigste Personal delegiert wird. Das Präventionsteam darf demnach nicht ausschließlich aus Hilfskräften bestehen. Der Einsatz im Präventionsteam bedarf einer besonderen Qualifikation. So kann eine Arzthelferin durchaus Mitglied des Präventionsteams sein, muss sich zuvor im Rahmen dieses Konzeptes jedoch zur Präventionsassistentin z. B. durch eine Fortbildung zum präventiven Hautschutz speziell für eine Branche aufqualifiziert haben.

Neue Ressourcen durch zeitliche Entlastung
Die Delegation von betriebsärztlichen Teilleistungen verschafft dem Betriebsarzt zeitliche Entlastung und verschiebt seine betriebliche Rolle stärker in Richtung eines allseitigen Gesundheitsberaters, ggf. sogar eines betrieblichen Gesundheitsmanagers, der nicht jede Teilleistung persönlich ausführen muss. So gewonnene zeitliche Ressourcen können wiederum auch dem Markt zur Verfügung gestellt werden. Damit wandelt sich die Tätigkeit des Betriebsarztes von der bisher eher Einzelkämpferrolle im betrieblichen Gesundheitsschutz zum Teamplayer als Leiter eines Expertenteams. Aus Sicht des betreuten Unternehmens dürfte dieser konzeptionelle Ansatz ebenfalls von Nutzen sein. Für spezifische Fachfragen kann aus dem Präventionsteam des Betriebsarztes jeweils der beste Fachexperte hinzugezogen werden, ohne dass es eines Aufwandes über Drittanbieter bedarf. Der Pool an u. a. betriebsspezifischem Fachwissen, auf den das betreute Unternehmen zugreifen kann, ist erheblicher größer. Trotzdem gibt es mit dem Betriebsarzt einen einheitlichen Ansprechpartner und fachlichen Koordinator.

Betriebsarzt als wichtigster Gesundheitsberater
Dieses Konzept ist explizit nicht darauf ausgerichtet, die betriebsärztliche Betreuung durch nichtärztliche Akteure zu ersetzen. Vielmehr soll das vorhandene, qualitativ hochwertige Niveau den wirtschaftlichen Anforderungen nach wachsendem Bedarf, Dynamik, Komplexität und Flexibilität gerecht werden und sich den Erfordernissen einer modernen Wirtschaft anpassen. Der Betriebsarzt ist und bleibt aufgrund seiner ärztlichen Qualifikation, seiner gesetzlichen Aufgaben und seines betriebsspezifischen Wissens der betriebliche Gesundheitsberater schlechthin. Seine Rolle wird durch die Teamleitung weiter aufgewertet.

Lösungshilfe für aktuell knappe betriebsärztliche Ressourcen
Die Statistiken der Bundesärztekammer weisen darauf hin, dass aktuell immer weniger Arbeitsmediziner und andere Fachärzte mit der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin für die arbeitsmedizinische Betreuung zur Verfügung stehen. Im Jahr 2010 waren rd. 40 Prozent der Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde bereits 65 Jahre und älter, weitere rd. 13 Prozent waren zwischen 60 und 64 Jahre alt (Schoeller 2011). Seitdem sind mehr als zwei Jahre vergangen, so dass davon ausgegangen werden muss, dass von der großen Gruppe der über 65-jährigen nur noch ein ständig kleiner werdender Teil tatsächlich arbeitsmedizinisch aktiv ist. Etliche Betriebe und Einrichtungen spüren bereits, dass es zunehmend schwerer wird, für die betriebsärztliche Betreuung einen Arbeitsmediziner oder Betriebsarzt in räumlicher Nähe zu finden. Privat tätige Arbeitsmediziner oder Fachärzte mit der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin stehen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Überbetriebliche Dienste verstärken seit Jahren ihre Anstrengungen in der ärztlichen Nachwuchsgewinnung. Initiativbewerbungen junger Ärzte sind eher selten, ausgeschriebene, freie Stellen bleiben oft lange Zeit unbesetzt. Kooperationen mit Medizinischen Fakultäten von Universitäten zur attraktiven Mitgestaltung von Praxisteilen in der Arztausbildung, das Vorhalten von ärztlichen Weiterbildungsstellen und weiterbildungsermächtigten Ärzten, das Werben um ausländische EU-Ärzte und auch das VDBW-Programm „Doc‘s@work“ sind Investitionen in die Zukunft. Kurzfristig jedoch bleibt das betriebsärztliche Ressourcenproblem gegenwärtig. Es darf bezweifelt werden, dass die Aktivierung interessierter Arbeitsmediziner oder Betriebsärzte im Ruhestand eine zukunftsweisende Lösung darstellt, zumal bereits heute entsprechende Möglichkeiten bestehen. Sie kann bestenfalls die Symptome lindern.

Sind die Ressourcen knapp, steigen die Preise für die betriebsärztliche Betreuung. Letztere ist auf dem Markt bereits spürbar, allerdings wird gerade erst wieder das Preisniveau der 1980er Jahre der westlichen und südlichen Bundesländer erreicht. Vor allem in ländlichen Gegenden verändert sich schrittweise die individuell wahrgenommene Servicequalität der betriebsärztlichen Betreuung. Erschlossen die Betriebsärzte noch vor einigen Jahren buchstäblich jeden Winkel des Landes ohne Berechnung von Reisekosten und transportierten dabei für eventuell erforderliche Vorsorgeuntersuchungen sämtliche hochwertige Medizintechnik einschließlich Fahrradergometer per Auto, werden Untersuchungen heute auch aus qualitativen Gründen überwiegend nur noch in den arbeitsmedizinischen Praxen angeboten. Zudem etabliert sich aktuell außerhalb der Großstädte die Berechnung von Reisezeit und Kilometergeld. Zwar ist dies bei jeder handwerklichen Serviceleistung akzeptierter Standard, in der Arbeitsmedizin wird dies derzeit jedoch als verminderter Service wahrgenommen.

Trotz knapper betriebsärztlicher Ressourcen kann und wird ein gesundheitlicher Nutzen für die Beschäftigten und für die Unternehmer geschaffen. Das Präventionsteam unter Leitung des Betriebsarztes bildet dabei eine optimale Ergänzung.

Wenig interessante Alternativen
Alternativ stellt sich unter der Prämisse einer qualitativ mindestens gleichbleibend hochwertigen Betreuung die Frage nach anderen Auswegen aus der Ressourcenknappheit in der Arbeitsmedizin. Diskutierte Ansätze sind die Erweiterung des für die betriebsärztliche Betreuung zugelassenen Personenkreises auf andere Facharztgruppen oder die Senkung der Einstiegshürden in die Arbeitsmedizin, z. B. durch Wiedereinführung der „Kleinen Fachkunde“. Beide Varianten stoßen in der bestehenden Arbeitsmedizin auf wenig Akzeptanz. Käme der Gesetzgeber zu dem Schluss, dass aufgrund fehlender Ressourcen die arbeitsmedizinische Betreuung in der heutigen Form nicht mehr realisierbar ist, besteht die Gefahr einer Lockerung der Verpflichtung zur Betreuung. Dies steht dem Präventionsgedanken entgegen und kann ebenfalls nicht Ansinnen der Arbeitsmedizin sein. Diese Alternativen wären weder Garant für eine hochwertige Arbeitsmedizin noch für eine nachhaltige Problemlösung und Prävention.

Bündelung der Maßnahmen
Der zukunftsorientierte Ansatz des Präventionsteams unter betriebsärztlicher Leitung dagegen bietet die Möglichkeit, den gestiegenen, aktuellen Anforderungen an Dynamik, Komplexität und Flexibilität gerecht zu werden, hohe qualitative Standards beizubehalten und zur Ressourcenoptimierung beizutragen. Der Betriebsarzt bindet unter seiner Leitung Fachexperten anderer, auch nicht ärztlicher Gesundheitsberufe in die arbeitsmedizinische Betreuung ein. Diese Fachexperten stehen durch die heutige Bildungslandschaft in ausreichender Zahl zur Verfügung. Sie sind bestens qualifiziert (Master-, Diplom-, Bachelor-Abschlüsse) und hoch motiviert. Die Arbeitsmedizin kann auf diese Experten zugreifen, deren Know-How nutzen und auf diese Weise aktuell knappe ärztliche Ressourcen überbrücken. Aber auch die bereits eingeschlagenen Wege und Maßnahmen bedürfen einer intensiven Fortführung. Die leistungsgerechte und stimulierende Honorierung wird der Markt in den nächsten Jahren hervorbringen. Arbeitsmedizinische Beratungsleistungen unterliegen keiner gesetzlichen Preisbindung. Bedeutsam für zunehmende Ressourcen und für ein angestrebtes, wachsendes Interesse bei jungen Ärzten an der Arbeitsmedizin ist auch eine deutlich stärker praxisorientierte Gestaltung der studentischen Ausbildung, im unmittelbaren Kontakt mit aktiven Arbeitsmedizinern oder Fachärzten mit der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin. Die Arbeitsmedizin darf nicht bloßes Theoriefach sein, sondern soll den Medizinstudenten einen unmittelbaren Einblick in die Praxistätigkeit geben. Erste Entwicklungen sind regional unterschiedlich bereits zu beobachten. Nachwuchsprogramme wie Doc’s@work unterstützen ebenfalls.

Falko Kirsch

M.A. Management im Gesundheitswesen, Gastwissenschaftler der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Wielandstr. 21, 39108 Magdeburg

Telefon: (0391) 73 28 324

E-Mail: f.kirsch@web.de

Literatur

1. Höppner, K. und Kuhlmey, A. (2009): Gesundheitsberufe im Wandel, in: Zeitschrift Gesellschaft + Gesundheit (GGW), Jg. 9, Heft 2 (April), S. 7–14

2. Schoeller, Dr. A. (2011): Aktuelle Entwicklungen in der Arbeitsmedizin, Vortrag auf der 21. Tagung des Arbeitskreises „Thüringer Betriebsärzte“, Erfurt 26.10.2011, http://www.thueringen.de/imperia/md/content/tlatv/veranstaltungen/vortraege/betriebsaerzte2011/ schoeller.pdf, Zugriff: 13.06.2013, 09.15 Uhr

3. Siegmann, S. und Meyer-Falcke, A.: Delegation statt Substitution: Ein möglicher Lösungsansatz für den Ärztemangel in der Arbeitsmedizin, in: Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA), Bochum, 23.-25.09.2010. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2010. Doc10gma118.DOI:10.3205/10gma118, URN: urn:nbn:de0183–10gma1189; (www.egms.de/en/meetings/gma2010/10gma118.shtml)

4. Wienhausen-Wilke, V. und Schneider, K. (2012): Wohlfühlen leicht gemacht – Strukturiertes Programm zur effektiven und nachhaltigen betrieblichen Gesundheitsförderung, in: Zeitschrift ErgoMed / Prakt.Arb.med. 2/2012 (36), S. 6–10

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