Erkrankungen

Geschlechtersensible Berichterstattung zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit in der Arbeitswelt

Zusammenfassung
Die in der Arbeitswelt beobachtete gesundheitliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hängt von mehreren, sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren ab und lässt sich nicht unmittelbar mit dem chronischen Krankheitsgeschehen verknüpfen. Zudem werden relevante Entscheidungen zu Gender und Gesundheit in anderen Politikbereichen getroffen, die außerhalb der Zuständigkeiten des Arbeitsschutzes liegen. Bei der Datenerhebung müssen deshalb mögliche Einflussfaktoren und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen und Männern innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt betrachtet werden, z. B. Belastungen, Beanspruchungsfolgen und Bewältigungsmuster, soziale Rolle und Lage, unterschiedliche Beschäftigungs- und Karrieremuster, unbezahlte Arbeit und Freizeitaktivitäten, sexuelle Belästigung und Diskriminierung. Das Konzept einer geschlechtersensiblen Datenbasis, das die erwähnten Gesichtspunkte umfassend berücksichtigt, wird vorgestellt und der Nutzen von Analysen der verfügbaren Daten für politische Entscheidungsträger aufgezeigt.

Schlagwörter
Arbeitswelt, Geschlechtersensible Berichterstattung, Indikatoren, Belastung, Beanspruchungsfolgen, Bewältigung

1. Einleitung
Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts befassen sich verschiedene internationale und supranationale Organisationen und deren Organe (UN, ILO, WHO, EU) im Rahmen von Resolutionen und Entschließungen mit den Themen „Gleichstellung der Geschlechter“ und „Geschlechtergerechtigkeit“ (Gender) in der Arbeitswelt. In den Grundsatzpapieren wird die Bedeutung geeigneter Datensätze und Indikatoren für die Entwicklung und Durchsetzung politischer Zielsetzungen hervorgehoben, die nach Geschlecht aufgeschlüsselt sind.

Zu den wichtigen Determinanten für die Gesundheit von Frauen und Männern gehören zum einen die Vielzahl der Risikofaktoren bei der Arbeit und zum anderen das Gesundheitsverhalten des Einzelnen. Beide Determinanten korrelieren nach gegenwärtigem Erkenntnisstand oft mit dem sozioökonomischen Status der Beschäftigten. Trotzdem werden im Arbeits- und Gesundheitsschutz vor allem auf betrieblicher Ebene geschlechterspezifische Unterschiede bzw. Ungleichheit kaum beachtet.

Der Arbeitsplatz ist besonders dazu geeignet, eine breite Diskussion über Genderfragen in der Prävention und Gesundheitsförderung anzustoßen, bei der nicht nur arbeitsbezogene, sondern auch verhaltensbezogene und andere Risikofaktoren, z. B. Arbeitsplatzumgebungsfaktoren, Arbeitszeit, Rauchen, Essgewohnheiten, körperliche Aktivitäten, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Geschlechter differenzierend angesprochen werden können. In ihren Empfehlungen nennt die WHO drei Arten von Handlungskonzepten, die zur Verminderung bzw. zum Abbau von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern geeignet sind: gesetzliche Regelungen, Organisationsprozesse und Berichterstattung. Durch die systematische Datensammlung und Aufschlüsselung nach Geschlecht werden die für politische Zielsetzungen und Prioritäten notwendigen Datengrundlagen geschaffen und die Wirkungsmessung getroffener Entscheidungen ermöglicht.

2. Hintergrund
Von den Vereinten Nationen sind grundlegende Schritte eingeleitet worden, um die in vielen Ländern beobachtete Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bzw. Diskriminierung von Frauen vor allem in Fragen der Bildung, Gesundheit und Arbeit anzugehen und Ziele der Frauenförderung in politische Entscheidungen und Aktionen auf nationaler Ebene zu integrieren. Drei wichtige Meilensteine seien hier genannt.1

· Die Gleichstellung der Geschlechter wurde 1948 als Grundrecht in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ und 1979 im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau verankert.

· Die Vierte Weltfrauenkonferenz in Peking verabschiedete 1995 „Gender Mainstreaming“ als politische Strategie zur Erreichung von Geschlechtergerechtigkeit.

· Die Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frau ist eines der acht Millenniumentwicklungsziele, das auf dem Millenniumgipfel in New York 2000 die Regierungsspitzen aus 147 Ländern beschlossen haben.

Der 60. UN-Gesundheitsgipfel 2007 verabschiedete eine Resolution zur Integration von Geschlechtergerechtigkeit in die Arbeit der WHO, die vier strategische Ziele verfolgt: die WHO-Kompetenzen für Genderfragen bei der Analyse und Planung aufzubauen, Genderaspekte in das WHO-Management einzubeziehen, den Einsatz von nach Geschlecht disaggregierten Daten und Analysen zu fördern und die Verantwortlichkeiten festzuschreiben.2

In 2009 hat sich die Internationale Arbeitskonferenz (IAK) mit der Gleichstellung der Geschlechter in der Arbeitswelt befasst und darauf hingewiesen, dass in der Forschung und bei der Datenerhebung die Probleme von Frauen in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit häufig ignoriert oder unzureichend berücksichtigt werden.3 Im Aktionsplan für die Gleichstellung der Geschlechter 2010 – 2015 ist die Erhebung und Nutzung von nach Geschlecht aufgeschlüsselten Daten in Statistiken, Registern und Analysen z. B. zu Unfällen, Beschäftigung, Kinderarbeit, Zwangsarbeit, ein besonderer Schwerpunkt.4

Der Europäische Rat hat für 2011 – 2020 den Europäischen Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter angenommen und seine Verpflichtung erneuert, Genderaspekte in alle Politikbereiche zu integrieren. Die Mitgliedstaaten und die Kommission sollen u. a. darin bestärkt werden, unterstützt durch Eurostat vorhandene Statistiken und Indikatoren Gender differenzierend durch die Einführung der Aufschlüsselung nach Geschlecht weiterzuentwickeln (EU, 2011).5

In der Literatur werden die Begriffe „Gleichstellung der Geschlechter“ und „Geschlechtergerechtigkeit“ unterschiedlich – und in der Regel abhängig vom Kontext – verwendet. In der vorliegenden Arbeit wird ein Gender bzw. Geschlechter differenzierender Ansatz verfolgt und der Begriff „geschlechtersensible“ Analysen verwendet, um sowohl biologische als auch sozioökonomische Unterschiede zwischen Frau und Mann sowie Mädchen und Jungen zu beschreiben.

3. Geschlechtersensible Berichterstattung zu Gesundheit und Wohlbefinden
In einigen Ländern sind geschlechtersensitive Gesundheitsberichte aus pragmatischen Erwägungen heraus entwickelt worden, die als Diskussionsbasis für die nationale Gesundheitspolitik dienen sollen. Eine umfassende Initiative der WHO zur Identifizierung geeigneter, geschlechtersensibler Indikatoren, die in den einzelnen Staaten dazu genutzt werden können, Anhaltspunkte für gesundheitliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu erkennen, führte zu einem ersten Satz von 35 Indikatoren in den Bereichen „Gesundheitsdeterminanten“, „gesundheitliche Lage“ und „Leistungsfähigkeit des Versorgungssystems“.6 In diesem Satz fehlen jedoch arbeitsweltbezogene Indikatoren, die sich mit Belastungsrisiken bzw. ihren Auswirkungen auf die Gesundheit verknüpfen lassen. In vergleichenden Studien wird vielfach auf die begrenzte Aussagekraft und die Lücken vorhandener Indikatorensätze sowie auf das Fehlen geeigneter Daten hingewiesen.7

3.1 Arbeitsweltbezogene Gesundheitsberichte
Seit Langem haben Aggregatdaten und Indikatoren den Kern traditioneller arbeitsweltbezogener Gesundheitsberichte gebildet, die zur Beschreibung der Wechselbeziehungen zwischen Arbeitsbedingungen und Gesundheit geeignet sind und Aussagen zu den gesundheitlichen Auswirkungen ermöglichen. Dazu gehören vor allem Indikatoren zu den biologischen Faktoren und den Umweltfaktoren, zu Morbidität und Mortalität sowie Kennziffern zu der sozioökonomischen Lage und den Versorgungsstrukturen (Input-, Output- und Outcome-Indikatoren). Der Aufbau einer geschlechtersensiblen Berichterstattung setzt jedoch voraus, dass nach Geschlecht disaggregierte Daten bzw. Indikatoren verfügbar sind, die bestehende Unterschiede sensitiv bzw. im Einzelfall spezifisch anzeigen und über die sich die Heterogenität zwischen Frau und Mann abhängig z. B. von Alter, Herkunft, sozialer und geografischer Lage, Gesundheitsstatus, abbilden lässt.7,8

3.2 Entwicklungsstand zu Arbeitswelt
Im ersten ausführlichen Bericht der Europäischen Arbeitsschutzagentur über Genderfragen im Arbeitsschutz9 werden der Bedarf zur systematischen geschlechtersensiblen Datenerhebung bzw. Berichterstattung festgestellt und Empfehlungen zu Verbesserungen der Datengrundlagen gegeben, z. B. Weiterentwicklung der Arbeitsschutzstatistiken in den Mitgliedstaaten, sodass Geschlechter differenzierende Aussagen möglichst bis auf die Ebene der konkret ausgeführten Tätigkeiten getroffen bzw. Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten aufgezeigt werden können. Auch die Verbesserung der Datenqualität erfordert besondere Anstrengungen. In 2007 hat die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen einen analytischen Bericht mit einer Übersicht über die Umsetzung der Gendermainstreaming-Strategie in zwölf Mitgliedstaaten veröffentlicht.10

Auf EU-Ebene stellt inzwischen Eurostat statistische Daten zum Arbeitsmarkt und zum Arbeitsschutz zur Verfügung, die nach Geschlecht aufgeschlüsselt sind.11 Eine weitere, gut etablierte Quelle mit Daten über Arbeitsbedingungen, Arbeitsqualität und Beschäftigung ist der „Europäische Survey über Arbeitsbedingungen“ (European Working Conditions Survey – EWCS), der viele arbeitweltbezogene Themen abdeckt, z. B. Erwerbstätigkeit, Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, Ausbildung und Weiterbildung, physische und psychische Belastungsfaktoren, betrieblicher Arbeitsschutz, Partizipation, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Einkommen.12

In Pionierarbeit hat Kanada den Aufbau eines Geschlechter differenzierenden Indikatorensatzes intensiv vorangetrieben. Colman legte 2003 einen bemerkenswerten Bericht vor, in dem anhand von 60 Indikatoren ein geschlechtersensibles Profil beispielhaft entwickelt wird und konkrete Aussagen zur Frauengesundheit getroffen werden. Einige Indikatoren stehen in Beziehung zu Themen der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. In Übereinstimmung mit Forschungsergebnissen13 stellt Colman (2003)14 in seinem Fazit fest, dass „… eindimensionale oder vorhersehbare Verknüpfungen zwischen einer bestimmten Gesundheitsdeterminante und einer gegebenen Wirkung nicht möglich sind und dass mehrere Determinanten miteinander in Wechselbeziehung stehen … Es ist notwendig, Einkommen und Beschäftigungstrends, die Belastung von Frauen durch bezahlte und unbezahlte Arbeit, Stresshäufigkeit und Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder, die jeweilige Landespolitik und die makroökonomischen Trends, die diese Politik beeinflussen, und weitere Faktoren zu betrachten, um die möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit zu erkennen.“

Anfang 1970 begann eine intensive politische Diskussion über Geschlechterfragen in Deutschland, die eine Reihe wichtiger Maßnahmen (z. B. Gesetzesinitiativen zur Frauenförderung, Strukturbildung und Berichterstattung) auf Bundes- und Länderebene zur Folge hatte. Der erste umfassende Bericht mit nach Geschlecht disaggregierten Daten wurde 2005 publiziert,15 ein besonderer Bericht über Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit erschien dann in 2008.16 Der Bericht der Arbeitsgruppe „Geschlechterperspektive für wirksameren Arbeits- und Gesundheitsschutz“ an die 21. Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen, -minister, -senatorinnen und -senatoren der Länder (GFMK) in 2011 setzte sich erstmalig mit dem Umsetzungsstand eines Geschlechter differenzierenden Ansatzes im Arbeits- und Gesundheitsschutz auseinander.17

3.3 Resümee
Daten bzw. Indikatoren sollten grundlegende Qualitätsmerkmale erfüllen. Dazu zählen: Relevanz, Vollständigkeit, Rechtzeitigkeit, Präzision, Verfügbarkeit, Eindeutigkeit, Effizienz, Transparenz, Vergleichbarkeit und Kohärenz. Vorhandene Register, Statistiken und Surveys, die sich auf die Gesundheit bei der Arbeit beziehen, entsprechen nur teilweise den genannten Qualitätsanforderungen und werden dem Anspruch einer geschlechtersensiblen Berichterstattung auf nationaler Ebene nicht gerecht. Häufig stehen Fragen der Erwerbsarbeit im Mittelpunkt, z. B. Erwerbsquoten oder Diskriminierung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt. Sie decken in der Regel die Themen „Arbeitsformen“, „Arbeitszeit“ oder „Einkommen“ ab und beziehen auch Beschäftigungsformen außerhalb des geregelten Arbeitsmarktes ein. Statistiken zu Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sind weit verbreitet, werden aber oft als Aggregatdaten veröffentlicht. Zudem beziehen sich Berufskrankheiten in der Regel auf Erkrankungen mit langer Latenzzeit und sind als Spätindikatoren für die Früherkennung gesundheitlicher Störungen bzw. Erkrankungen wenig geeignet.

Aus der Genderperspektive besteht erheblicher Bedarf an zusätzlichen Indikatoren, die in den amtlichen Statistiken und Registern noch nicht oder nur unvollständig enthalten sind. Trotz bestehender Einschränkungen können geschlechtersensible Statistiken und Indikatoren, ergänzt durch Befragungsdaten, die Funktion eines „Sentinels“ übernehmen, um aufkommende gesundheitliche Ungleichheit bzw. Lücken in verschiedenen Handlungsfeldern aufzudecken, die in Forschung oder Praxis systematisch weiter verfolgt werden müssen.

4. Geschlechtersensible Profile für die Arbeitswelt
Nach heutigem Forschungsstand hängt die in der Arbeitswelt beobachtete gesundheitliche Ungleichheit von mehreren, sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren ab und lässt sich nicht unmittelbar mit dem chronischen Krankheitsgeschehen verknüpfen.13,14 Zudem werden relevante Entscheidungen zu Gender und Gesundheit in anderen Politikbereichen getroffen, die außerhalb der Zuständigkeiten des Arbeitsschutzes liegen. Bei der Datenerhebung müssen deshalb mögliche Einflussfaktoren und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen und Männern innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt betrachtet werden. Einige Beispiele für Faktoren aus der Genderperspektive sind: unterschiedliche Beschäftigungs- und Karrieremuster (vertikale und horizontale Segregation), unbezahlte Arbeit und Freizeitaktivitäten, sexuelle Belästigung und Diskriminierung. Weitere interessierende Aspekte der Gesundheit bei der Arbeit hängen mit Unterschieden in der sozialen Rolle und Lage oder Branchen- und Berufszugehörigkeit zusammen.13

Wie bereits in Kapitel 3 ausführlich dargelegt, behandeln vorhandene Gesundheitsberichte zur Arbeitswelt häufig zwar Erwerbsarbeit und traditionelle Beschäftigungsformen sowie Unfälle und Berufskrankheiten sehr umfassend, lassen aber wichtige Gesundheitsdeterminanten bzw. ihre Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen außer Acht.

Im Folgenden wird am Beispiel von Nordrhein-Westfalen (NRW) das Konzept einer geschlechtersensiblen Datenbasis, das Genderaspekte umfassend berücksichtigt, vorgestellt und der Nutzen von Analysen der verfügbaren Daten für politische Entscheidungsträger aufgezeigt.

4.1 Berichterstattung in Nordrhein-Westfalen
Mitte der 1990er Jahre hat die Landesregierung in NRW den Aufbau einer Berichterstattung und die Schaffung geschlechtersensibler Datengrundlagen auf den Weg gebracht.18,19,20 Auf Basis eines umfassenden Gesundheitsbegriffs13 wurde das Observatorium der Gesundheitsrisiken bei der Arbeit in NRW eingerichtet,21 in dem zahlreiche Faktoren mit möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit einbezogen worden sind. Der gesetzte Rahmen umfasst Indikatoren in den vier Bereichen „Sozioökonomische Faktoren“, „Gesundheitsdeterminanten“, „Auswirkungen auf die Gesundheit“ und „Leistungsfähigkeit der Versorgungssysteme“ und hat sich bei der Quellenerschließung bzw. Datenerhebung gut bewährt (Tabelle 1).

Amtliche Statistiken, Register und Befragungen (Surveys) sind die wesentlichen Quellen, aus denen relevante Informationen über die Gesundheit bei der Arbeit gewonnen werden, z. B. über Beschäftigung, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Arbeitsunfähigkeit, Rentengeschehen. Aufgrund bestehender Lücken über z. B. Belastungsdaten, Gesundheitsstatus der arbeitenden Bevölkerung, Qualität des betrieblichen Arbeitsschutzes wird seit 1994 regelmäßig (N = 2000; Periodizität: 5 Jahre,22 eine repräsentative Befragung telefonisch (CATI – computer-assisted telephone interviewing) durchgeführt.

4.2 Tätigkeitsfeld „Pflegen/Heilen“ – ein Beispiel
Unterschiede zwischen den Geschlechtern mit möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit sind in Verbindung mit Bildung, Beschäftigung, Einkommen und weiteren sozioökonomischen Faktoren seit Längerem dokumentiert worden.23 Die Vorteile von Datenanalysen nach Geschlecht liegen folglich auf der Hand und sollen anhand besonderer Auswertungen von disaggregierten Daten aus dem Observatorium in NRW dargestellt und diskutiert werden. Zum Beispiel lag 2009 in NRW die allgemeine Erwerbsquote von Männern (M) höher als von Frauen (F) (Verhältnis F:M = 0,8), in einigen Branchen dominierten aber die Frauen, z. B. im Pflegebereich (Verhältnis F:M = ca. 3,5). Gleichzeitig fällt aber auf, dass fast alle Männer, aber nur jede zweite Frau im Pflegeberuf Vollzeit beschäftigt waren.

Aus dem regelmäßigen Survey22 lassen sich Unterschiede der Belastungseinschätzung nach Branchen bzw. Tätigkeitsfeldern (Tabelle 2) und Geschlecht (Tabellen 3 und 4) erkennen.

Zu einem spezifischen Profil gelangt man, wenn die Daten nach Geschlecht für ein bestimmtes Tätigkeitsfeld ausgewertet werden, wie dies die unterschiedlichen Angaben über die subjektive Einschätzung der Belastungen und ihre Folgen für Pflegen/Heilen in den Tabellen 3 und 4 (N = 144) zeigen.

Das komplexe Belastungsmuster setzt sich aus mehreren physikalischen und psychosozialen Belastungsfaktoren zusammen. Auffallend ist das häufige Auftreten von Stressoren wie z. B. hoher Zeitdruck, hohe Verantwortung, Überforderung durch Arbeitsmenge, ungünstige Arbeitszeiten und die berichteten Auswirkungen auf die Gesundheit (Beschwerden), die nach Meinung der Betroffenen durch die Arbeit entstanden sind. Diese Beobachtungen sind im Einklang mit Ergebnissen aus der laufenden NEXT-Studie (2011),24 die das multifaktorielle Belastungsgeschehen und die möglichen langfristigen Beanspruchungsfolgen auf die physische und psychische Gesundheit der mehrheitlich weiblichen Pflegekräfte auf EU-Ebene untersucht.

Aktivitäten außerhalb der Arbeitswelt können für Erwerbstätige eine zusätzliche Belastung bedeuten. In unserem Survey werden in erster Linie die Betreuung von Kindern und Jugendlichen, Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger sowie ehrenamtliche Tätigkeit als zusätzliche Belastung genannt, und zwar von den männlichen Pflegekräften häufiger als von den weiblichen. Diese Feststellung deckt sich nicht mit der aufgrund der Geschlechterrollen erwarteten höheren Betroffenheit bei Frauen.

Männliche und weibliche Pflegekräfte setzen ähnliche Strategien zur Verarbeitung arbeitsbedingter Belastungen, z. B. Aktivitäten mit Familie und Freunden, Freizeitaktivitäten und Hobbys oder Sport. Es gibt aber auch signifikante Unterschiede. So berichten z. B. Männer häufiger, dass sie „ein Gläschen trinken“, während Frauen „Hängen lassen“, „Entspannungsübungen“ bzw. „Arztbesuch“ häufiger als Bewältigungsstrategien angeben.

Anhand der Ergebnisse in den Tabellen 3 und 4 lässt sich zusammenfassend feststellen, dass differenzierte Aussagen zu der Belastungssituation und den Beanspruchungsfolgen sowie den Bewältigungsstrategien männlicher und weiblicher Pflegekräfte möglich sind. Die erkennbaren Unterschiede indizieren Handlungsbedarf und geben Hinweise auf konkrete Interventionsmaßnahmen zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit im Allgemeinen und zur Förderung der Frauengesundheit im Besonderen – sowohl auf betrieblicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Repräsentative Daten zu Arbeitsunfähigkeit in NRW stehen nicht zur Verfügung. Der BKK-Gesundheitsbericht 201025 weist für den Pflege- und Sozialsektor durchschnittlich 14,8 Fehltage bei den weiblichen und 13,7 bei den männlichen Versicherten in NRW aus. Beide Werte liegen nah beim BKK-Bundesdurchschnitt und sind wenig aussagefähig. Erst durch die Einbeziehung aller Krankenkassendaten für NRW wird in Zukunft eine Verbesserung der Datengrundlagen erreicht werden können.

Die Indikatoren zum Unfallgeschehen im Bereich Pflegen/Heilen sind niedrig (Frauen: 11 Unfälle pro 1000; Männer: 17 Unfälle pro 1000) im Vergleich zu den allgemeinen Unfallzahlen in NRW (21 bzw. 48 Unfälle pro 1000 entsprechend, eigene Berechnungen anhand der Unfalldaten 2009 der DGUV26). Auch die Zahlen zu den Berufskrankheiten sind niedrig (525 anerkannte Fälle in 2009, ca. 90 % der betroffenen Versicherten waren weiblich).

Die Selbsteinschätzung der Arbeitsfähigkeit bis zur Rente unterscheidet sich signifikant zwischen den Geschlechtern: nur 8,5 % der Frauen, aber 17,4 % der Männer gaben 2009 an, dass sie sehr wahrscheinlich in der Lage sein werden, bis zur Rente zu arbeiten. Diese Aussage deckt sich mit zwei weiteren Beobachtungen (NRW, 2010):27

· Nach der amtlichen Statistik waren 2009 unter den Personen, die eine Erwerbsunfähigkeitsrente in den Bereichen Pflegen/Heilen erhalten haben, 87,1 % weiblich und 12,9 % männlich.

· Geschlechterunterschiede in der Altersverteilung der Beschäftigten: in der Gruppe der ab 55-Jährigen betrug die Quote bei den Frauen 11,5 % und bei den Männern 19,1 % (Frauen/Männer = 0,6). Für die NRW-Bevölkerung insgesamt lag dieses Verhältnis bei 0,9.

Offensichtlich führen gesundheitliche Probleme bzw. reduzierte Arbeitsfähigkeit, die u. a. durch die Arbeitsbedingungen negativ beeinflusst werden, zum frühen Berufsausstieg oder Arbeitsplatzwechsel weiblicher Pflegekräfte.24

Verfügbarkeit und Qualität einer Reihe von Arbeitsschutzmaßnahmen im Betrieb (Zustand von Sicherheitseinrichtungen, Information über Gefährdungen und Sicherheitsmaßnahmen, Bereitstellung persönlicher Schutzausrüstung) haben die befragten Pflegekräfte mehrheitlich als „eher gut“ bezeichnet (Anteil 81–95 % mit geringen Unterschieden zwischen den Geschlechtern). Weniger gut fielen die Urteile über individuelle Betreuungsmaßnahmen aus: Lediglich 56–77 % der Pflegekräfte beurteilen im Durchschnitt die Betreuung durch Sicherheitsfachkräfte und Betriebsärzte positiv, die Quoten der Frauen lagen signifikant niedriger als die der Männer. Das Engagement des Betriebes zur Gesundheitsförderung hat jeder dritte Befragte mit eher gut beurteilt.

Dem oben beschriebenen Profil liegt eine erweiterte Sicht auf die arbeitsweltbezogenen Einflussfaktoren und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit zugrunde, die bezahlte und unbezahlte Arbeit von Frauen und Männern einbezieht. Beschäftigung kann sich direkt oder indirekt auf die körperliche und psychische Gesundheit von Frauen auswirken, deshalb muss die Analyse der Beschäftigungsmuster von Frauen mehr als nur Erwerbs- und Arbeitslosenquoten in den Blick nehmen. Dazu gehören u. a. Berufswechsel, Arbeitsplatzunsicherheit, Arbeitszeit, Arbeitszufriedenheit und -souveränität, Arbeitsstress, Bewältigungsstrategien und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Neben den traditionellen Indikatoren „Unfall“ und „Berufskrankheit“ sind Daten über Gesundheitsstörungen und Erkrankungen unerlässlich, um daraus ein vollständiges Bild über die arbeitsweltbezogenen Gesundheitsrisiken von Frauen und Männern zu gewinnen und gezielte geschlechtersensible Maßnahmen der Gesundheitsförderung abzuleiten.

5. Schlussfolgerungen
Die Aggregierung von Daten führt zum Verlust wertvoller Informationen über Geschlechterunterschiede und sollte beim Aufbau einer Berichterstattung vermieden werden. Mit der Aufschlüsselung der Daten nach Geschlecht steht ein praktikables Werkzeug für den Kampf gegen gesundheitliche Ungleichheit in der Arbeitswelt zur Verfügung, mit dessen Hilfe spezifische und effiziente Maßnahmen entwickelt werden können. Geeignete Daten lassen sich aus verschiedenen Quellen extrahieren, jedoch sind amtliche Statistiken, Register und Surveys die wichtigsten Quellen und sollten um das Merkmal „Geschlecht“ konsequent weiter ausgebaut werden.

Gegenüber Aggregatdaten sind Datenanalysen nach Branche(n) oder bestimmten Tätigkeitsfeldern die bessere Basis für eine Geschlechter differenzierende Politik und maßgeschneiderte Interventionen für Frauen und Männer. Je spezifischer die erhobenen Daten über die ausgeführten Tätigkeiten sind, desto präziser können die Gesundheitsrisiken bei der Arbeit abgeschätzt werden. Bei Surveys sollte deshalb die Stratifizierung im Befragungsdesign branchen- bzw. tätigkeitsspezifische Aspekte berücksichtigen. Zur Risikofrüherkennung wird ein international abgestimmter Indikatorensatz benötigt, mit dem die subjektive Einschätzung der Beschäftigten zu der Belastung, den Beanspruchungsfolgen und Bewältigungsstrategien erfasst werden kann.

Literatur

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