Prävention

Bedeutung und Praxis zielgruppenspezifischer Gesundheitsförderung

Zielgruppenspezifische Gesundheitsförderung in Betrieben (BGF) wird seit vielen Jahren von der Wissenschaft gefordert, um z. B. bildungsferne und andere schwer erreichbare Zielgruppen wie die steigende Anzahl der mobil Arbeitenden für BGF-Maßnahmen zu gewinnen (Akzeptanz, bedarfsgerechtes Angebot). Jedoch gibt es nach unseren aktuellen Recherchen in der Praxis deutlich weniger Angebote, als zu erwarten wären. Was insbesondere fehlt, sind zielgruppenspezifische „Qualitätsstandards“, die sich auf die Zugangswege, die Inhalte der Maßnahmen und die Methodik beziehen sollten. Für die Gruppe der Auszubildenden hat mein Mitherausgeber Herr Schröder auf die Besonderheiten der Zielgruppe hingewiesen und aufgezeigt, welche Themen im Rahmen der Gesundheitsförderung besonders wichtig sind.

Andere Zielgruppen, die punktgenaue Angebote der BGF benötigen, sind beispielsweise prekär Beschäftigte oder gering Qualifizierte. Hier liegen die Schwerpunkte in anderen Bereichen: Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand fällt das gesundheitliche Risikoprofil umso ungünstiger aus, je niedriger qualifiziert die Beschäftigten sind und je unsicherer ihre Position im Betrieb ist. Beschäftigte ohne Berufsausbildung haben häufig körperlich anstrengende Arbeitstätigkeiten, sind eher lernungewohnt, haben häufiger ein risikoreiches Gesundheitsverhalten (Rauchen, Alkoholkonsum, weniger Vorsorgeaktivitäten) und festgefügte geschlechtliche Rollenstereotypien auch hinsichtlich ihres Gesundheitsverständnisses. Oft kommen private Probleme hinzu, was bedeutet, dass weniger gesunderhaltende Ressourcen aus dem Privatleben vorhanden sind. Die Teilnahmemotivation an Maßnahmen der Gesundheitsförderung ist generell gering, besonders bei Männern.

Ein Beispiel, wie eine zielgruppenspezifische Intervention für diese Zielgruppe aussehen kann, ist die Berliner Stadtreinigung (BSR), die seit vielen Jahren BGF praktiziert. Ursprünglich entwickelt wurde das Programm im Rahmen eines Forschungsprojekts von Hamburger Kolleginnen und uns an der Beuth Hochschule für Technik Berlin. Finanziert wurde das bundesweite Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), verschiedene AOKs haben das Projekt aktiv unterstützt.

Was waren die zielgruppenspezifischen Besonderheiten des Programms und wie haben wir es umgesetzt?

Da sich Un- und Angelernte selten selbst für Gesundheitsförderungsmaßnahmen interessieren, ist eine Ansprache über den Betrieb und das unmittelbare Arbeitsteam sehr wirkungsvoll, um die Teilnahmemotivation zu erhöhen. Wir haben daher hier in Berlin Straßen- und Gehwegreiniger direkt über die Betriebshöfe angesprochen, haben dort unser Projekt vorgestellt und zur Teilnahmebedingung gemacht, dass nur vollständige Arbeitsteams teilnehmen können. Der Zugang erfolgte über den zentralen arbeitsmedizinischen Dienst und über Betriebshofleiter, die als besonders aufgeschlossen für neue Ideen galten und von der Betriebsärztin empfohlen wurden.

Die ersten Gruppen waren zurückhaltend interessiert und haben sich aber zur Trainingsteilnahme bereiterklärt. Die Zurückhaltung bezog sich vor allem auf die Frage, „was das bringen solle“, und auf die Frage, ob das Stress- und Ressourcentraining ein „Psycho“-Training sei. Nach der erfolgreichen Durchführung des Trainings auf einem Betriebshof wurde die Teilnahmebereitschaft anderer Mitarbeiter deutlich durch Mund-Propaganda verbessert.

Methodisch didaktisch benötigen Gesundheitsprogramme für diese Zielgruppe aufgrund der körperlichen Arbeit und der oft geringen Lernerfahrung eine klare Struktur sowie kurze und einfache Sequenzen zur Wissensvermittlung, die durch viele praktische Übungen und aktivierende Methoden angereichert werden. Im ReSuM-Training wurde die klare Struktur durch ein Trainingsmanual gewährleistet. Ca. zehnminütige Informationsblöcke zum Beispiel zum Thema Belastungen und Stressentstehung wechselten sich mit verschiedenen Bewegungsübungen ab, die die Muskelgruppen angesprochen haben, die bei der Straßenreinigung vernachlässigt werden (insbesondere Dehnübungen). Belastungen wurden zuvor durch eine Schichtteilnahme der Trainer erhoben. Im Training wurden diese Belastungen aufgegriffen und hieran Stressprozesse verdeutlicht. Als sehr wichtig stellte sich im Trainingsverlauf heraus, dass Trainer die Sprache der Teilnehmer nicht nur kennen, sondern auch möglichst selber sprechen müssen, um akzeptiert zu werden.

Da ein Hauptproblem dieser Zielgruppe darin besteht, dass sie insgesamt über weniger Ressourcen am Arbeitsplatz verfügen, sollte der Fokus der Intervention darin liegen, Ressourcen zu stärken: Zu den Maßnahmen gehören neben Informationen über Arbeit und Stress die Bedeutung von Sport und Bewegung, die Vermittlung von Problemlösekompetenz in Gruppen, aber auch Konfliktbehandlung im Privatbereich.

Darüber hinaus spielen für gering Qualifizierte die unmittelbaren Vorgesetzten und ihr Verhalten eine große Rolle. Aus diesem Grunde wurde in dem Trainingsprogramm neben dem Teamtraining für Beschäftigte eine begleitendes Training zum Thema wertschätzende Führung für Vorgesetzte durchgeführt. Eine Besonderheit des Trainings bestand darin, dass die Teams und die Vorgesetzten das Thema Wertschätzung und Anerkennung getrennt voneinander behandelt haben. Am Ende der Sequenzen wurden Team und Vorgesetzte aufgefordert aufzuschreiben, was sie am jeweils anderen schätzten. Diese Flipcharts wurden dann in der nächsten Übungssequenz dem jeweils anderen überreicht. Führungskräfte waren überrascht, Positives von ihren Teams zu hören und umgekehrt.

Beim gesamten Training stellte sich Sprache als ein zentrales Element dar. Vielfach verfügt diese Zielgruppe über ein breites Wortrepertoire zu Dingen, die sie ärgern, belasten oder stören. Wenn sie sagen oder aufschreiben sollen, was genau gut ist, fehlen im wahrsten Sinne vielfach die Worte. Hier wurde im Training viel nachgefragt und teilweise auch Beispiele gegeben, um die passenden Worte zu finden. Hierfür war die Kenntnis des konkreten Arbeitsalltags der Teilnehmer sehr wichtig.

Ein weiteres Beispiel für Zielgruppenspezifika, kommt aus einem gerade abgeschlossenen Forschungsprojekt des BMBF zum Thema Gesundheitsförderung in Kleinbetrieben des Handwerks, das wir von der Beuth Hochschule für Technik zusammen mit der AOK Niedersachsen und der Handwerkskammer Osnabrück-Emsland abgeschlossen haben. Hier liegt eine Besonderheit der Zielgruppe darin, dass die Unternehmer selbst die wichtigsten Akteure sind, für sie aber meistens die Gesundheit der Mitarbeiter kein vorrangiges Handlungsfeld darstellt.

Aus diesem Grunde haben wir ein sogenanntes „Huckepackverfahren“ entwickelt. Huckepack bedeutet, dass das Thema Gesundheitsförderung mit anderen betrieblich relevanten Themen kombiniert wird. In unserem Fall wurde es mit den Themen Innovationsfähigkeit und Mitarbeitermotivation gekoppelt. Im Vordergrund dieses Verfahrens stehen die Arbeitsbedingungen, die die Innovationskraft des Unternehmens und die Motivation der Mitarbeiter stärken und gleichzeitig auch die psychosoziale Gesundheit der Beschäftigten verbessern.

Das InnoGeKo-Verfahren (InnovationGesundheitKompetenz) wird aktuell gerade publiziert. In 26 Betrieben haben wir das Vorgehen erfolgreich erprobt. Es zeigte sich, dass auch hier Führung eine große Rolle spielt: Gesundheitsförderlich führen heißt in vielen Kleinbetrieben mehr mit Mitarbeitern darüber zu reden, was sie brauchen, um ihre Arbeit gut zu machen. Eine gute Arbeitsplanung, gute verfügbare Werkzeuge, aber auch ein gutes, angstfreies Klima untereinander sorgen dafür, dass Mitarbeiter nicht nur gerne arbeiten, sondern auch eher bereit sind, selber innovative Ideen zu entwickeln. In den von uns untersuchten Betrieben wurden 102 innovative Ideen entwickelt, die sich z. B. auf eine störungsfreiere und gesündere Arbeitsorganisation oder einen verbesserten Wissenstransfer zwischen alten und jungen Mitarbeitern bezogen und z. B. regelmäßige Kundenbefragungen, die Einrichtung eines „Stilleraumes“ oder auch neue Modelle der Azubi-Rotation beinhalteten.

Zusammengefasst: Die Herausforderung jeglicher BGF besteht darin, die Besonderheiten der Zielgruppe richtig zu erfassen und in Maßnahmen umzusetzen. Dafür ist immer eine betriebliche Zielgruppen- und Bedingungsanalyse im Vorfeld erforderlich und eine konkrete Übersetzung der Besonderheiten in die Programmgestaltung. Besonders wichtig ist es, die richtige Sprache und Ebene im Kontakt zwischen Trainer und Teilnehmer oder zwischen Berater und Unternehmen zu finden. Wie so etwas aussehen kann, ist abhängig von den betrieblichen Bedingungen.

Vieles ist schon positiv begonnen worden, bedarf aber eines systematischen Vorgehens, einer nachhaltigen Organisation und grundlegender Leitlinien. Auch für zielgruppenspezifische Programme gilt, BGF-Maßnahmen sollten verhaltenspräventive Aspekte mit den Mitarbeitern bearbeiten und gleichzeitig Anregungen für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen – auch von den betroffenen Mitarbeitern – erheben, um die Verhältnisse gesundheitsgerecht gestalten zu können. Durch eine angemessene Gestaltung der Arbeitsplätze, der Arbeitsaufgaben und der Arbeitsmittel wird die Umsetzung gesundheitsgerechten Verhaltens unterstützt. Nur wenn beides Hand in Hand geht und an die jeweiligen Besonderheiten der Zielgruppe angepasst wird, können wir Beschäftigte motivieren und dafür gewinnen, sich für ihre Gesundheit zu engagieren und damit langfristig ihre Gesundheit zu erhalten oder gar zu verbessern.

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