Psyche und Arbeit

DAK-Gesundheit fordert sachliche Debatte über psychische Krankheiten

Berlin, 26. Februar 2013. Die Krankschreibungen von Arbeitnehmern aufgrund psychischer Leiden erreichten 2012 einen neuen Höhepunkt. Laut aktuellem DAK-Gesundheitsreport haben sich zwischen 1997 und 2012 die Fehltage durch Depressionen und andere psychische Krankheiten mehr als verdoppelt (plus 165 Prozent). Dieser Trend bei den Krankschreibungen lässt auf den ersten Blick vermuten, die Deutschen würden sich zu einem Volk von psychisch Kranken entwickeln. Epidemiologische Studien belegen jedoch: Psychische Störungen sind seit Jahrzehnten in der Bevölkerung nahezu gleich verbreitet. „Das Bewusstsein und die Sensibilität von Ärzten und Patienten diesen Krankheiten gegenüber haben sich deutlich verändert“, betont Herbert Rebscher, Chef der DAK-Gesundheit.

Die DAK-Gesundheit stellt fest, dass sich die Fehltage in den Betrieben deutlich verschieben: Während sich 1997 nur jeder 50. Erwerbstätige wegen eines psychischen Leidens krankmeldete, war es bereits jeder 22. im Jahr 2012. Frauen waren dabei fast doppelt so häufig betroffen wie Männer. Viele Arbeitnehmer werden heute mit einem psychischen Leiden krankgeschrieben, während sie früher mit Diagnosen wie chronische Rückenschmerzen oder Magenbeschwerden arbeitsunfähig gewesen wären. „Wir brauchen eine ehrliche und sachliche Debatte, um diese Entwicklung in der Arbeitswelt richtig bewerten zu können“, erklärt Rebscher. „Denn die Arbeitsausfälle sind für Betriebe schwerwiegend. Psychische Erkrankungen dauern meist lange“. Der DAK-Gesundheitsreport 2013 rollt die Diskussion anhand der eigenen Krankenstandsanalyse sowie Befragungen von über 3.000 Arbeitnehmern und Ärzten neu auf.

Sind wir heute anders krank?
Arbeitsunfähigkeitsdaten geben zuverlässig Auskunft über das Ausmaß psychischer Diagnosen bei Krankschreibungen. Sie spiegeln allerdings nicht zwangsläufig die tatsächliche Verbreitung psychischer Erkrankungen wider.

Frank Jacobi, Professor an der Psychologischen Hochschule Berlin, erläutert: „Es gibt keine Hinweise darauf, dass heute mehr Menschen psychische Störungen haben als vor 20 Jahren“. Im DAK-Gesundheitsreport 2013 werden deshalb folgende Fragen näher untersucht: Sind wir anders krank als früher? Gibt es neue, bisher in der Öffentlichkeit zu wenig diskutierte Gründe für den Anstieg seelischer Erkrankungen bei Arbeitsunfähigkeit? Seit einigen Jahren läuft eine breite öffentliche Debatte über das Burnout-Syndrom. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, die psychischen Erkrankungen stärker in den Fokus zu rücken. Der DAK-Gesundheitsreport 2013 hinterfragt, ob das Thema Burnout bei den psychischen Krankheiten wirklich die Bedeutung hat, wie es in der öffentlichen Debatte häufig scheint. Der Report analysiert darüber hinaus, welche Rolle die Arbeitswelt für psychische Erkrankungen spielt.

Burnout ist kein Massenphänomen
Im vergangenen Jahr hatten die Ärzte nur bei jedem 500. Mann und jeder 330. Frau ein Burnout auf der Krankschreibung vermerkt. „Es gibt offensichtlich kein Massenphänomen Burnout“, betont Rebscher. „Burnout ist eine Art Risikozustand und keine Krankheit“. Der Begriff sei auch durch die breite Berichterstattung in den Medien positiver besetzt und sozial akzeptierter als eine Depression. Burnout-Betroffene hätten in der öffentlichen Wahrnehmung meist sehr engagiert gearbeitet und seien dadurch „ausgebrannt“. Insofern hat die öffentliche Debatte dazu beigetragen, dass Arbeitnehmer beim Arzt leichter über psychische Beschwerden sprechen.

In der Öffentlichkeit wird das Thema Burnout häufig wie eine eigenständige psychische Krankheit behandelt. In der Praxis vermerken die Ärzte diese Zusatzdiagnose auf der Krankmeldung meist ergänzend bei Depressionen und Anpassungsstörungen. Burnout kann unter einer Zusatzcodierung (Z 73) auf der Krankmeldung begleitend vermerkt werden. Unter dieser Zusatzcodierung werden „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“ erfasst.

Vor einigen Jahren spielte das Burnout kaum eine Rolle. Die Zusatzcodierung wurde noch im Jahr 2004 so gut wie gar nicht auf der Krankmeldung vermerkt. Bis 2012 lässt sich auch bedingt durch das geringe Anfangsniveau ein steiler Anstieg verzeichnen.

Insgesamt werden durch die Zusatzcodierung Krankschreibungen mit einem Volumen von etwa zehn Ausfalltagen pro 100 Erwerbstätige begründet. Zum Vergleich: Die Depression verursacht mit 85 Fehltagen pro 100 Arbeitnehmer mehr als achtmal so viele Ausfalltage.

Ständige Job-Telefonate in der Freizeit führen zu Depressionen
Berufliche Telefonate außerhalb der Arbeitszeit sind sehr viel weniger verbreitet als die öffentliche Debatte vermuten lässt. Zwar haben neun von zehn Arbeitnehmern (87,3 Prozent) ihre Telefonnummern beim Arbeitgeber hinterlegt und sind dadurch grundsätzlich ständig erreichbar. Offenbar macht der Arbeitgeber jedoch wenig Gebrauch davon, die Mitarbeiter anzurufen. Denn über die Hälfte (51,7 Prozent) der Befragten werden nie von Kollegen oder Vorgesetzten außerhalb der Arbeitszeit angerufen. Nur ein knappes Drittel ist gelegentlich (seltener als einmal pro Woche) mit Anrufen konfrontiert.

Fast jeder Sechste wird jedoch einmal pro Woche oder öfter außerhalb der Arbeitszeit angerufen. Alarmierend ist, dass schon ein mittleres Ausmaß an Erreichbarkeit (bis zu einmal pro Woche) nach Feierabend mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, an einer psychischen Störung zu erkranken. Noch höher ist das Gesundheitsrisiko für die etwa acht Prozent der ständig erreichbaren Mitarbeiter: Jeder Vierte von ihnen leidet unter einer Depression. Das sind rund zwei Prozent der Arbeitnehmer. „Für diese kleine Gruppe hat der Wegfall der Grenze zwischen Beruf und Privatleben einen hohen Preis“, betont Rebscher.

Belastung durch E-Mails schätzen Befragte geringer ein
Im Vergleich zur telefonischen Erreichbarkeit empfinden die Befragten die Belastung durch E-Mails geringer. Auch wenn zwei Drittel der Beschäftigten nicht ständig per E-Mail erreichbar sind, liest mehr als jeder Zehnte (11,7 Prozent) täglich oder fast täglich dienstliche E-Mails außerhalb der Arbeitszeit. Allerdings fühlen sich zwei von drei dieser Personen nicht durch das Lesen der Mails nach Feierabend belastet. Immerhin neun Prozent checken ihre Mails mehrmals in der Woche abends oder am Wochenende.

Psychische Probleme bleiben Stigma im Betrieb
Der DAK-Gesundheitsreport zeigt ferner, dass beim Termin mit ihrem Hausarzt zwei Drittel der betroffenen Patienten von sich aus psychische Erkrankungen als Ursache für ihr Leiden nennen. Nur bei 20 Prozent der Gespräche fragte der Hausarzt selbst nach psychischen Problemen.

Deutlich häufiger hätten die Mediziner ihre Patienten auf die körperlichen Belastungen der Arbeit angesprochen.

Auffällig ist, dass das Thema der psychischen Erkrankungen in der Arbeitswelt weiterhin stärker stigmatisiert wird als im vertrauten ärztlichen Gespräch. Ein Vergleich zwischen 2004 und 2012 zeigt: Es findet keine Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen im Betrieb statt. Das Verständnis von Mitarbeitern und Kollegen für psychische Probleme wird 2012 eher pessimistischer eingeschätzt als 2004. „Hier besteht dringender Handlungsbedarf für Betriebe und betroffene Mitarbeiter, das Thema mehr als bisher aus der Tabuzone herauszuholen“, fordert Rebscher.

Ärzte sehen mehrere Ursachen für Anstieg
Die in die aktuelle Studie einbezogenen Ärzte sehen in Arbeitsverdichtung, Konkurrenzdruck und langen Arbeitszeiten eine Ursache für mehr Krankschreibungen mit psychischen Diagnosen. Aus Sicht der Mediziner gibt es für nicht so leistungsfähige Mitarbeiter immer weniger Platz in der Arbeitswelt. Prekäre und kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse verschärfen psychische Belastungen. Depressionen und andere seelische Erkrankungen werden nach Erfahrungen der Ärzte vom Patienten immer mehr als Grund für eine Krankschreibung akzeptiert. Ferner führt fehlender sozialer Rückhalt außerhalb der Arbeitswelt zu mangelnder Widerstandsfähigkeit gegenüber psychischen Beschwerden.

Psychische Erkrankungen besonders im Gesundheitswesen verbreitet
Die Branchen „Gesundheitswesen“ sowie „Öffentliche Verwaltung“ weisen überproportional viele Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen auf. So verursachten 100 Beschäftigte im Gesundheitswesen im Jahr 2012 gut 300 Fehltage. In der Öffentlichen Verwaltung waren es 269 Ausfalltage. Im Schnitt über alle Branchen hinweg kam es zu knapp 204 Fehltagen.

Allgemeiner Krankenstand
Im Jahr 2012 sank der allgemeine Krankenstand leicht um 0,1 Prozentpunkte und lag bei 3,8 Prozent. Dies bedeutet, dass von 1.000 Erwerbstätigen an jedem Tag des Jahres im Schnitt 38 krankgeschrieben waren. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten legten 2012 ihrer Firma keine Krankmeldung vor. An der Spitze der Krankheitsarten lagen die Muskel-Skelett-Erkrankungen. Auf 100 Versicherte entfielen durchschnittlich 326 Fehltage. Es folgen die psychischen Leiden mit 204 Tagen pro 100 Versicherte und die Atemwegsleiden mit 203 Tagen. Für den Gesundheitsreport hat die DAK-Gesundheit die Krankschreibungen von 2,7 Millionen erwerbstätigen Versicherten mit Hilfe des IGES Instituts aus Berlin ausgewertet.

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