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Betriebliche Gesundheitspolitik – eine Chance für die Mitbestimmung

Der Leser mag sich beim Titel des besprochenen Buches fragen: „Warum steht die Rezension eines Forschungsberichtes, der sich in erster Linie an Gewerkschaften und Betriebsräte wendet, in einer Zeitschrift für Arbeitsmediziner? Und dann auch noch in einer mit explizitem Bezug auf die betriebsärztliche Praxis?“ Die kurze Antwort lautet: „Eben deswegen!“

Die lange Antwort greift ein paar tausend Jahre zurück: So lange schon ist das Thema „Gesundheit und Arbeit“ die Domäne von Krankheiten. Vor kaum einer Generation kam es dann „plötzlich“ zu einem Paradigmenwechsel: Gesundheitsförderung war en vogue. Kaum 20 Jahre hatten wir Ärzte Zeit zu realisieren, dass im Betrieb nunmehr nicht nur Betriebsmediziner das Gesundheitsfeld bestellen, sondern auch Sozial- und Ernährungswissenschaftler, Sportlehrer und Physiotherapeuten u.a.m.; da kam schon die nächste Welle: Betriebliches Gesundheitsmanagement. Mit ihr traten die Betriebswirte, Manager für Betriebssicherheit und solche für Demographie, Wiedereingliederung oder Vitalität und noch viele mehr auf den Plan.

Und jetzt auch noch Betriebliche Gesundheitspolitik! Wer denkt bei „Gesundheitspolitik“ nicht zuerst an Parteien, an Regierungen? An die großen Fragen, die die sektoren- und professionenspezifischen Interessenvertretungen untereinander und mit den verschiedensten Gesundheitsexperten, den Krankenversicherungen und eben „der Politik“ diskutieren?

Ein solcher Prozess von Interessenwahrnehmung und -ausgleich findet auch auf dem Gebiet „Arbeit und Gesundheit“ statt: So rückt dieses Thema in Tarifverhandlungen zunehmend auf die Tagesordnung. Dies gilt auch für die betriebliche Ebene. Ähnlich wie bei der „großen“ Politik (ver-)handeln hier Interessenvertretungen im Sinne eines gemeinsamen Zieles: Gesundheit des Betriebes und der Beschäftigten. Aktuelle Herausforderungen wie der demographische Wandel und der damit eng verbundene Fachkräftemangel erhöhen dabei den Handlungsdruck.

Die heutige Arbeitswelt ist ein Spiegel der modernen Gesellschaft. Hier wie dort kommt der Beteiligung der Menschen eine wachsende Bedeutung zu. Wie Politik ist auch Unternehmenspolitik eben nicht nur Politik „von oben“, sondern geprägt durch Partizipation „von unten“ im Gegenstromprinzip. Denn Krankheiten einer Organisation können Grund für die individuellen Krankheit der Beschäftigten sein – und umgekehrt. Deshalb spielen bei einer wirklich ganzheitlichen betrieblichen Gesundheitspolitik die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen eine wesentliche Rolle.

Die Autoren geben in ihrer wissenschaftlichen Studie zunächst einen Überblick über aktuelle Ansätze in Sachen „betriebliche Gesundheitspolitik“ – sowohl der Gewerkschaften als auch der Arbeitgeberverbände. Im Kern aber haben sie untersucht, welche Möglichkeiten sich Betriebsräten bieten, auf diesem Gebiet als treibende Kraft pro- und nicht nur reaktiv tätig zu werden. Hierzu analysieren sie deren Potenziale, beschreiben notwendige gesundheitspolitische Kompetenzen, aber auch die wesentlichen Handlungshemmnisse. Eigentlich überraschend stellen die Autoren (noch immer) Defizite im Bereich der Gefährdungsbeurteilung (hier insbesondere bei der Einbeziehung psychischer Aspekte) oder beim BEM fest, während sie bei den (eher verhaltenspräventiven) Ansätzen des BGF einen guten Entwicklungsstand konstatieren.

Aber die Autoren kommen auch zu dem Ergebnis, dass betriebliche Gesundheitspolitik in der Regel kein Top-Thema für Betriebsräte ist und sie ihre einschlägigen Mitbestimmungsmöglichkeiten oft nicht hinreichend ausnutzen. Damit schließt sich nun der Bogen zu den Betriebsärzten. Es liegt eigentlich nahe, dass sie die richtigen (motivierenden) Ansprechpartner für Betriebsräte sind. Denn einerseits sind sie die geborenen betrieblichen Gesundheitsexperten (siehe insbesondere das ASiG sowie das insofern hierauf rekurrierende ArbSchG), andererseits aber auch die (gesetzlich verbrieften) Kooperationspartner der Arbeitnehmervertretungen (siehe § 9 ASiG).

Für beide Seiten ergeben sich damit „Verbündete“ auf dem Feld der betrieblichen Gesundheitspolitik. Hinzu kommt, dass die Arbeitnehmervertreter gegenüber dem Arbeitgeber ein aktives Initiativrecht auch bei „Arbeit und Gesundheit“ haben – im Gegensatz zum Betriebsarzt, der „lediglich“ berät und dabei unter Umständen rasch seine Grenzen aufgezeigt bekommt. Bedauerlicherweise sagt die Studie aber auch, dass die einschlägigen Beratungsressourcen der Betriebsärzte in manchen Fällen nicht „profund nutzbar“ sind.

Um dieses Manko auszugleichen, empfiehlt es sich – auch dem Betriebsarzt – die Handlungsempfehlungen der Autoren aufmerksam zu lesen. Ihre Vorschläge für praxistaugliche Lösungen, die sie originär an die Betriebsräte (und ihre gewerkschaftlichen Verbände) richten, zeigen mittelbar auch den Betriebsärzten Möglichkeiten auf, ihrerseits das „Packende“ für Kooperationen mit den Betriebsräten zu finden.

Andreas Meyer-Falcke

Andreas Blume, Uta Water, Ralf Bellmann, Holger Wellmann

Betriebliche Gesundheitspolitik – eine Chance für die Mitbestimmung

Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 136, 342 Seiten

Hrsg.: Hans Böckler Stiftung, Düsseldorf

Verlag edition sigma, Berlin, 2011

ISBN: 978–3–8360–8736–0

Preis: 21,90 EUR

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