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Entwicklung und Erprobung neuer Diagnosetestsysteme für Vorsorgeuntersuchungen im Rahmen des G 46

Zusammenfassung Im Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) werden für die ärztliche Untersuchung Schwingungsexponierter der Kälteprovokationstest und die Pallästhesiometrie (Messung der Vibrationssensibilität) empfohlen. Mit einem neuentwickelten Pallästhesiometer und einer Stimmgabel wurden an gesunden und erkrankten Probanden Wahrnehmungsschwellen an unterschiedlichen Körperstellen ermittelt. Die Schwellen sind altersabhängig und unterscheiden sich bei Frauen und Männern nur wenig. Patienten mit einem VVS sowie solche mit einem Diabetes mellitus wiesen höhere Werte auf. Für die unteren Extremitäten korrelierten die Ergebnisse des Pallästhesiometers mit denen der Stimmgabel, wobei sich das neue Diagnosegerät jedoch als sensitiver erwies. Schlüsselwörter

· Vibrationsbedingtes Vasospastisches Syndrom

· Vorsorgeuntersuchung

· Durchblutungsstörung

· Kälteprovokationstest

· Vibrationswahrnehmungsschwelle

· hand-arm vibration syndrome

· follow-up examination

· circulatory disorder

· cold provocation test

· vibration perception threshold

1 Einleitung
Durch den Einsatz von handgeführten Arbeitsgeräten (z.B. Bohrhammer, Motorsäge, Schleifgerät) wird eine immer größer werdende Anzahl von Arbeitnehmern mit Schwingungen belastet. So schätzt Hecker1 die Anzahl der Beschäftigten in Deutschland, die mit gesundheitsschädlichen Hand-Arm-Schwingungen exponiert werden, auf 1,5 bis 2 Millionen.

Die langjährige Schwingungsexposition kann im Bereich des Hand-Arm-Systems zu Durchblutungs- und Nervenfunktionsstörungen führen2. Im Jahr 1977 wurde die als Weißfingerkrankheit bezeichnete Schwingungserkrankung unter der Nummer BK 2104 „Vibrationsbedingtes Vasospastisches Syndrom“ (VVS) in die Berufskrankheitenliste aufgenommen. Mit Verabschiedung der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutz-Verordnung (LärmVibrArbSchV)3 im März 2007 ist nun jeder Arbeitgeber verpflichtet, hinsichtlich Lärm und Vibrationen eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen und ggf. Maßnahmen zu ergreifen, um die Belastung zu reduzieren. U.a. wird auch gefordert, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen der Schwingungsexponierten durchzuführen. Im berufsgenossenschaftlichen Grundsatz G 46 „Belastung des Muskel- und Skelettsystems“ werden zwei Diagnoseverfahren für die arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung empfohlen:

· der Kälteprovokationstest (KPT) zur Bestimmung der Gefäßdynamik und

· die Pallästhesiometrie zur Ermittlung der Vibrationswahrnehmungsschwelle.

2.1 Untersuchungsablauf und Bewertung
Beim Kälteprovokationstest (KPT), der bei gesunden Personen eine hinreichende intraindividuelle Reproduzierbarkeit aufweist4, werden die Hände in einem kalten Wasserbad eine festgelegte Zeit abgekühlt. Anschließend wird die Wiedererwärmung der Finger als indirektes Maß der peripheren Durchblutung gemessen.

Der KPT wird nicht nur in Deutschland, sondern auch von internationalen Arbeitsgruppen zur Diagnose von Schwingungserkrankungen bzw. zur Analyse der Gefäßdynamik eingesetzt. Seit 2005 ist der Test (Wassertemperatur: 12°C, Provokationsdauer: 5 min) in der DIN ISO 14835–15 genormt.

Die Temperatur kann dabei mit einfachen Temperaturmessgeräten ermittelt werden. Da in einer Zeitspanne von 25 Minuten alle zehn Finger mindestens einmal pro Minute gemessen werden sollen, ist die manuelle Messdurchführung sehr umständlich. Nicht nur aus diesem Grund ist der Einsatz eines automatisiert ablaufenden Tests sinnvoll. Bei einem automatisierten Testsystem wird die Temperatur jedes Fingers mit Temperatursensoren fortlaufend erfasst. Der Kontakt erfolgt entweder über Auflegen oder über Kleben der Finger auf die Sensoren. Beim Auflegen kann die Fingerauflagekraft auf die Sensoren jedoch nicht sehr gut kontrolliert werden. Untersuchungen u.a. von Bovenzi et al.6 haben gezeigt, dass eine zu hohe Ankopplungskraft die Durchblutung vermindern kann.

Der Wiedererwärmungsverlauf wird wie folgt interpretiert7 (Abbildung 1):

· normaler Wiedererwärmungsverlauf (N): Die Temperatur der Fingerkuppe erreicht spätestens nach 20 min 28 °C.

· mäßig verzögerter Wiedererwärmungsverlauf (mV): Die Temperatur der Fingerkuppe hat nach 20 min 28 °C noch nicht erreicht.

2.2 Entwicklung eines neuen Diagnosesystems
Da auf dem Markt keine Diagnosesysteme erhältlich sind, haben die ergonomie.experten 2007 ein entsprechendes Gerät entwickelt. Dabei flossen die Erfahrungen aus über 300 Kälteprovokationstests, die an der Universität Mainz durchgeführt wurden, in die Entwicklung des Messsystems ein8. Das neue Messsystem medaSENS-T erlaubt einen automatisierten Versuchsdurchlauf mit Messwerterfassung, wobei die Temperatursensoren mittels Elektrodenkleberingen auf die Fingerkuppen geklebt werden (Abbildung 2).

3.1 Untersuchungsmethoden
Zur Bestimmung der Vibrations-Wahrnehmungsschwelle wird hauptsächlich die Rydel-Seiffer Stimmgabel eingesetzt. Bei der klinischen Diagnose werden in der Regel Werte von 4/8 bis 0/8 als pathologisch angesehen9; das sind nur 5 Stufen (Abbildung 3).

Beim Ablesen der Skalen können zudem Fehler durch den Bediener erfolgen. Als weiterer Nachteil muss aufgeführt werden, dass bei der Stimmgabel weder die Andruckkraft noch der exakte Auflagepunkt auf die Körperstelle konstant gehalten werden können11 und die Messergebnisse somit vom Bediener abhängig sind. Die Andruckkraft ist jedoch entscheidend für die Reproduzierbarkeit der Messergebnisse. So stellte Ahrend12 fest, dass sich die Vibrationswahrnehmungsschwelle bei einer Erhöhung der Andruckkraft von 0,5 N auf 2,0 N halbiert.

Zur Bestimmung der Vibrationssensibilität kann alternativ ein elektrodynamischer Schwingerreger, das so genannte Pallästhesiometer, eingesetzt werden. Bei der Messung mit einem Pallästhesiometer wird ein schwingender Stift auf die Finger oder andere zu untersuchende Körperstellen aufgesetzt und die Wahrnehmungsschwelle (Höhe der Amplitude) gemessen10. Pallästhesiometer verfügen über eine Vorrichtung, mit der eine definierte Andruckkraft konstant gehalten wird. Alle weiteren Prüfbedingungen, wie z.B. Schwingungsdauer, Frequenz, auf- oder absteigendes Verfahren, können beim Pallästhesiometer genau und standardisiert festgelegt werden. Danach läuft der komplette Messalgorithmus bei diesem Messsystem automatisch und nach einer festgelegten Vorgabe ab13. Der Aufbau und die Funktion des Pallästhesiometers sind in dem Standard ISO 13091–1 definiert14.

3.2 Entwicklung und Erprobung eines neuen Pallästhesiometers
In einem von der Stiftung Rheinland-Pfalz für Innovation geförderten Forschungsprojekt wurde ein neues Pallästhesiometer entwickelt und im Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universitätsmedizin Mainz und im Institut für klinische Forschung und Entwicklung IKFE, Mainz, getestet (Abbildung 4). Das neue Pallästhesiometer, das aus einem Schwingerreger und einer Verstärkereinheit besteht, wird über einen angeschlossenen Computer angesteuert. Um an unterschiedlichen Körperstellen messen zu können, war der Schwingerreger an einem großen Stativ montiert.

Die Vibrationswahrnehmungsschwellen wurden am liegenden Probanden in standardisierter Reihenfolge zunächst mit dem Pallästhesiometer und danach mit einer medizinischen Stimmgabel (Rydell-Seiffer, 125 Hz) gemessen: Begonnen wurde mit einer Messung am Brustbein, um den Probanden mit der Methode vertraut zu machen. Im Anschluss erfolgten beidseitige Messungen an Mittelfingerbeere, Mittelfingerendgelenk, großer Zeh Endgelenk und Außenknöchel.

An der Untersuchung nahmen 205 gesunde Versuchspersonen, 25 Patienten mit VVS sowie 60 Patienten mit Diabetes mellitus teil. Bei der Auswahl der Referenzgruppe wurde auf eine ausgeglichene Altersverteilung geachtet. Um in die Studie aufgenommen zu werden, mussten die Probanden unterschiedliche Ein- und Ausschlusskriterien (z.B. schriftliches Einverständnis zur Teilnahme an der Studie, kein Alkoholmissbrauch, keine außerberufliche Ursachen einer Polyneuropathie usw.) erfüllen15. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz gebilligt.

3.3 Untersuchungsergebnisse
Gesunde Probanden: Die niedrigsten Wahrnehmungsschwellen mit rechts 0,171 und links 0,178 m/s² (Mittelwert aller Versuchspersonen) wurden am Mittelfingerendgelenk gemessen. Die Schwellen an der Fingerbeere lagen bei 0,203 m/s² (vergl.16).

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern war gering (Abbildung 5). Nur beim Außenknöchel rechts (P = 0,009, nach U-Test) und beim Fingerendgelenk rechts und links (P < 0,001; P = 0,031) differierten die Messwerte signifikant. Die Messwerte der dominanten und der nicht-dominanten Körperseite unterschieden sich um weniger als 6%. Mit Zunahme des Alters nahm, wie auch Ahrend16 und Harazin et al.17 beobachtet hatten, die Wahrnehmungsschwelle deutlich zu (Abbildung 6). Das Durchschnittsalter der drei untersuchten Versuchspersonengruppen unterschied sich teilweise erheblich: · gesunde Probanden – 18 bis 83 Jahre, Ø 41,1 Jahre · Probanden mit VVS – 41 bis 74 Jahre; Ø 55,1 Jahre · Probanden mit Diabetes mellitus – 37 bis 80 Jahre, Ø 66,3 Jahre Zur Berücksichtigung der Altersabhängigkeit wurden daher für den Vergleich der Schwellenwerte zwischen den Gruppen nicht alle Probanden hinzugezogen. Die drei Gruppen, deren Messergebnisse in der Abbildung 7 dargestellt sind, haben in etwa die gleiche Altersstruktur. Erkrankte Probanden: Wie zu erkennen ist, hatten die Versuchspersonen mit Erkrankungen deutlich und signifikant höhere Schwellenwerte als gesunde Probanden (P < 0,05 nach U-Test). Zwischen der Stimmgabel und dem Pallästhesiometer korrelieren mit Ausnahme des rechten großen Zehs und des Brustbeins die Wahrnehmungsschwellen (r = –0,49 bis –0,76; Berechnung nach Pearson). Jedoch liegen die mit dem Pallästhesiometer gemessenen Wahrnehmungsschwellen in einem viel größeren Messbereich (Abbildung 8). 4 Diskussion
Die Diagnosemethoden Kälteprovokationstest und Pallästhesiometrie können helfen, bei Beschäftigten, die durch ihre berufliche Tätigkeit hochfrequenten Hand-Arm-Schwingungen ausgesetzt sind, eine Gefäß- und/oder Nervenschädigung in einem frühen Stadium festzustellen (siehe BG Grundsatz G 46). Selbstverständlich muss eine eingehende ärztliche Anamnese der Untersuchung vorausgehen18.

Mit Hilfe des automatisierten Kälteprovokationstests zur Diagnose von Durchblutungsstörungen könnte die Durchführung des Tests wesentlich vereinfacht werden.

Durch die im Vergleich zur Stimmgabel höhere Messgenauigkeit wie auch durch eine höhere Auflösung innerhalb des Messbereichs ermöglicht die Messung mit dem Pallästhesiometer ein frühzeitiges Erkennen von Sensibilitätsstörungen. Somit können rechtzeitig präventive Maßnahmen ergriffen und gegebenenfalls ein Fortschreiten der Erkrankung (VVS) verhindert werden. Ein vermindertes Vibrationsempfinden ist nicht spezifisch für ein VVS. Differentialdiagnostisch ist insbesondere an Polyneuropathien unterschiedlicher Ätiologie zu denken. Aber auch die frühzeitige Diagnose einer berufsunabhängigen Erkrankung kann im Einzelfall von Nutzen sein.

Danksagung

Die Studie wurde von der Stiftung Rheinland-Pfalz für Innovation gefördert.

5 Literatur

1. Hecker Ch. Zur betrieblichen Umsetzung der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung – Teil „Vibrationen“ der Verordnung. FASI Vortragsveranstaltung in Bayreuth am 18. April 2008. http://www.vdsi-hamburg.de/sitefiles/down loads/c422/VDSIHH_LVASV_Vibrationen_ Hecker.pdf

2. Riedel S. Schwingungswirkungen auf den Menschen – Analyse des Normungsdefizits und experimentelle Arbeiten zur Ergänzung des Kenntnisstandes. Dissertation TU Darmstadt, Shakerverlag, Herzogenrath, 2000

3. Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch Lärm und Vibrationen (Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung – LärmVibrationsArbSchV), Ausfertigungsdatum: 06.03.2007, http://www.bmas.de/portal/9164/arbschlaermvibrationsv.html

4. Steeger D. Intraindividuelle Variationen des Fingertemperaturverlaufes nach Kälteprovokation. Med. Dissertation Mainz, S. 1–87, 1988

5. DIN ISO 14835–1: Mechanische Schwingungen und Stöße – Kälteprovokationstests zur Beurteilung der peripheren Gefäßfunktion, Teil 1: Messung und Bewertung der Hauttemperatur der Finger. Beuth Verlag, Berlin, 2005

6. Bovenzi M, Welch AJL, Della Vedova A, Griffin MJ. Acute effects of force and vibration on finger blood flow. Occup Environ Med 63: 84–91, 2006

7. Völter-Mahlknecht S, Letzel S. Neue Beurteilungskriterien des Kälteprovokationstest im Rahmen des vibrationsbedingten vasospastischen Syndroms (VVS). Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, 40 (3), 142–143, 2005

8. Dupuis H, Riedel S. Experience on the reversibility of the vibration-induced white finger disease. Cent Eur J Public Health. 1995; 3 Suppl: 19–21.

9. Halsbeck M, Luft D, Neudörfer B, Stracke H, Hollenrieder V, Bierwirth R. DDG-Praxis Leitlinie Diabetische Neuropathie. Diabetologie; 3 (2): 134–140, 2008

10. Riedel S, Muttray A, Forst Th, Geißler B, Kremer C, Schneider M. Die Entwicklung eines Messinstruments zur Ermittlung der Vibrationswahrnehmungsschwelle. In: 4. Nationale VDI-Tagung Humanschwingungen; Auswirkung auf Gesundheit – Leistung – Komfort. 4.und 5 Mai 2010 in Würzburg, VDI-Berichte 2097, VDI Verlag Düsseldorf 2010

11. Bell-Krotoski JA, Buford WL. The force/time relationship of clinically used sensory testing instruments. J Hand Ther Oct-Dec; 10(4): 297–309, 1997

12. Ahrend KD. Validierung der Pallästhesiometrie als Sreening-Methode zur Diagnostik der beruflichen Schwingungsbeanspruchung – Literaturstudie. Forschungsprojekt BMFT 01 HK 450 3 – HVBG, 1994

13. Hilz MJ, Claus D, Rosl G, Hofmann E, Braun J, Neundorfer B. Improvement of temperature and vibration sense in chronic uremia after a single dialysis. Fortschr Neurol Psychiatr 1995 Jul; 63(7): 264–9, 1995

14. ISO 13091–1. Mechanical vibration – Vibrotactile perception threshold for the assessment of nerve dysfunction, Part 1: Methods of measurement at the fingertip. Beuth Verlag, Berlin, 2001

15. Geißler B, Kremer C, Riedel S, Götte H, Schneider M, Forst Th, Muttray A. Erhebung von Vibrationsschwellenwerten bei gesunden Probanden mit einem neuen Pallästhesiometer. 50. wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM), in Dortmund, vom 16.–19. Juni 2010. Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, 45 (6), 360–361, 2010

16. Ahrend DK. Validierung der Pallästhesiometrie als Sreening-Methode zur Diagnostik der beruflichen Schwingungsbeanspruchung – Ermittlung von Normalwerten. St. Augustin: HVBG, Verbundprojekt Pallästhesiometrie, Abschlußbericht Dez. 1994

17. Harazin B, Kuprowski J, Lechowska AH, Socholik V. Reference Values of Vibrotactile Perception Thresholds at the Fingertips for Women. 10th International Conference on Hand-Arm Vibration Las Vegas, Nevada, USA, 7–11 June 2004

18. Voelter-Mahlknecht S, Muttray A, Riedel S, Dupuis H, Letzel S. Bedeutung der Anamnese bei der Diagnostik des Vibrationsbedingten Vasospastischen Syndroms (VVS). Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 42 (2007) 484–489

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