Sonstiges

Kombinationseffekte in der Arbeitswelt, Referat des Symposiums am 6. November 2004 in Mainz

Zu seinem 70. Geburtstag wurde Professor Dr. Johannes Konietzko, der ehemalige Inhaber des Lehrstuhls für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Mainz, mit einem Symposium zur Multikausalität geehrt. Die Beurteilung der Auswirkungen mehrerer verschiedener und verschiedenartiger Expositionen auf den Menschen, seine Organe und Organsysteme ist nach wie vor problematisch und bietet noch kein durchgehendes Lösungsschema auf allfällige Fragen, insbesondere, ob multiple Einwirkungen mit geringer Intensität genau so schädlich sein können wie eine singuläre höherer Konzentration. Kann auf diese Frage für ähnliche Substanzen (Lösungsmittel, (kanzerogene) Substanzen mit gleichen Wirkansätzen) noch eine einigermaßen plausible Antwort bzw. Voraussage gegeben werden, so wird dies für so unterschiedliche Expositionen wie physikalische und chemische Einwirkungen am Arbeitsplatz, Rauchen, Bewegungsmangel und Stress deutlich schwieriger. Trotzdem werden von der Naturwissenschaft Modelle und Erkenntnisse sowie Lösungsmöglichkeiten, von der Jurisdiktion aber pragmatische Entscheidungen hierfür erwartet.
Namhafte Juristen, Epidemiologen und Arbeitsmediziner haben in diesem Symposium den Stand der Erkenntnis auf ihren Fachgebieten aufgezeigt. (Der Beitrag von H. Krüger kann in dieser Ausgabe noch nicht referiert werden.)

A. Muttray: Organische Lösungsmittel und ihre Gemische
Organische Lösemittel sind industriell weit verbreitet und werden sehr häufig als Gemische eingesetzt. Die Beurteilung der Toxizität solcher Gemische ist problematisch. Zur formalen Regelung wird im Bereich der Prävention für das Zusammenwirken der verschiedenen Lösungsmittel in erster Näherung von einer Additivität ausgegangen (TRGS 403). Die tatsächlichen Mechanismen und die molekularen Grundlagen des Zusammenwirkens verschiedener Lösemittel sind komplex. Sie wurden von A. Muttray exemplarisch erläutert.
Eine gemeinsame Endstrecke der Wirkung bestimmter Lösungsmitteln ist die Radikalbildung. So entstehen beim Abbau von Tetrachlorkohlenstoff unter der enzymatischen Wirkung mischfunktioneller Oxidasen freie Radikale, die Membranen und Makromoleküle schädigen können. Diese Wirkung wird durch Alkohol noch verstärkt.
Konkurrenz um ein detoxifizierendes Enzym kann zur Akkumulation toxischer Metaboliten führen. n-Hexan wird zum toxischen 2,5-Hexandion oxidiert, dass schnell weiter abgebaut und damit detoxifiziert wird. Methylethylketon hemmt diesen enzymatischen Abbau, vermutlich aber auch die Urinexkretion kompetitiv, so dass es zur Kumulation des toxischen Metaboliten und damit zur Ausbildung von Polyneuropathien kommt.
Außer den unspezifischen Membranwirkungen der organischen Lösemittel, hervorgerufen durch deren Lipophilie, sind besonders ihre Interaktionen mit verschiedenen Nervenrezeptoren von zentralem Interesse bei der Ergründung der Neurotoxizität der organischen Lösemittel. Hierzu gehören die Glycin-Rezeptoren, NMDA-Rezeptoren (N-methyl-d-aspartat), Nikotinische Acetylcholin-Rezeptoren und insbesondere die GABAA-Rezeptoren (g-Aminobuttersäure). Untersuchungen mit Hilfe der quantitativen EEG-Analyse zeigten unter Exposition gegenüber verschiedenen Lösungsmitteln auch in Abhängigkeit von deren Konzentration typische Muster für die Anregung spezifischer Rezeptoren. Den derzeitigen Kenntnisstand zur Interaktion von Lösemitteln mit Rezeptoren des Nervensystems fasste Muttray wie folgt zusammen:
• Die akuten zentralnervösen Wirkungen organischer Lösungsmittel sind stoffspezifisch und dosisabhängig.
• Je nach Substanz sind bei Konzentrationen in Höhe der Grenzwerte verschiedene Rezeptoren einschließlich präsynaptischer Rezeptoren involviert: Dies ist für n-Heptan wahrscheinlich der GABAA-Rezeptor, für Methanol über direkte oder indirekte Mechanismen Noradrenalin-Rezeptoren, Toluol hingegen wirkt wohl als Dopamin-Rezeptor-Antagonist.
• Die Wirkung von Gemischen lässt sich deshalb häufig nicht vorhersagen und ist in diesen Fällen experimentell zu untersuchen.
• Die sedierende Wirkung hoher Dosen organischer Lösungsmittel wird wahrscheinlich im Wesentlichen über GABAA-Rezeptoren vermittelt.
• Die beschriebenen Wirkungsmechanismen lassen Interaktionen mit zentral wirksamen Medikamenten und Ethanol vermuten.

L. Edler: PCDD/Fs und PCBs, Statistische Anmerkungen zur Dosis-Additivität der Wirkung von POPs
Persistente Organochlorverbindungen (persistent organochlorine pollutants=POP) kommen in Nahrung, Umwelt und Arbeitswelt vor. Von einer bestimmten Gruppe von ihnen, nämlich den polychlorierten Dibenzo-p-Dioxinen (PCDD), den polychlorierten Dibenzofuranen (PCDF) und definierten polychlorierten Biphenylen kann man eine Additivität ihrer Wirkung annehmen.
Im Handbuch der Arbeitsmedizin von Konietzko/Dupuis wird diese Additivität der Kongenere der PCDD und PCDF folgendermaßen beschrieben: „Da die Toxizität dieser Kongenere sehr unterschiedlich ist, diese aber niemals als Einzelverbindungen, sondern immer zusammen mit weiteren Kongeneren emittiert werden, hat man versucht, der Toxizität dieser Gemische dadurch Rechnung zu tragen, dass man mit Hilfe von in vitro- und Tierexperimenten den Toxizitätsgrad der jeweiligen Substanz bestimmt und mit dem der toxischsten Substanz 2,3,7,8 TCDD verglichen hat ….. Mit Hilfe von TCDD-Äquivalenzfaktoren (TEF) lässt sich das TCDD-Äquivalent (TEQ) des gesamten Kongenerengemisches errechnen“.
TEQ = ?n=1….PCDDi x TEFi +
?j=1….PCDFj x TEFj +
?k=1….PCBk x TEFk
Welche Schwierigkeiten in einer solchen Annahme liegen, welche Überlegungen angestellt und im Experiment verifiziert werden müssen, um die Verwendung eines additiven Modells zu rechtfertigen, war Inhalt des Vortrags „PCDD/Fs und PCBs, Statistische Anmerkungen zur Dosis-Additivität der Wirkung von POPs“ von L. Edler vom Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg.
L. Edler präsentierte einen Par-Force-Ritt durch die mathematisch-statistischen Voraussetzungen der Risikobewertung (Risk Assessment) und der Anwendbarkeit eines additiven Modells bei der Abschätzung von Expositionen gegenüber einem Gemisch an toxischen Substanzen.
Im Rahmen der Risikobewertung sind die Identifizierung einer Gefährdung (Hazard Identification) und deren Charakterisierung (Hazard Characterization) sowie die Messung der Exposition (Exposure Assessment) Domänen der Naturwissenschaften Chemie, Toxikologie, Medizin. Insbesondere bei der Charakterisierung des Risikos ist Interdisziplinarität gefragt. Schon die Festlegung des für die Risikobewertung relevanten Endpunkts der Toxizität stellt eine kritische Entscheidung dar.
Für die Risikobewertung gilt: Aufgrund ihrer höheren Relevanz haben in-vivo-Daten ein höheres Gewicht als in-vitro-Daten, diese wiederum schlagen QSAR (Quantitative Structure Activity Relationship)-Daten. Letzeres ist gerade im Falle der POP nicht trivial, da das bisherige Toxizitätsmodell der POP eng mit der strukturellen Vorstellung verbunden ist, dass
1. sämtliche Wirkungen bestimmter POP über die Bindung an den Ah (Arylhydrocarbon)-Rezeptor, auch bekannt als Dioxin-Rezeptor, vermittelt werden und
2. das Ausmaß der Wirkung direkt mit der Stärke der Bindung des Toxins an den Rezeptor korreliert ist.
Damit kennt man bei POPs sehr genau den Ort der ersten Einwirkung auf den Organismus. Sogar die Struktur des Ah-Rezeptors ist bekannt und somit sollte sich die Bindungsstärke (und damit die Toxizität) der verschiedenen POP elegant vorhersagen lassen.
Die bisher vorhandenen Informationen zur relativen Wirkungsstärke der o.g. POP werden in einer Datenbank am Karolinska-Institut in Stockholm gesammelt. In diese Datenbank gehen Einzelstudien ein, in denen mindestens ein PCDD, PCDF oder PCB und ein Referenzkongener (TCDD oder PCB126) im gleichen Versuch oder in verschiedenen Versuchen, aber mit gleichem Versuchsplan und gleichem Autor bezüglich eines Dioxin-spezifischen Zielparameters verglichen werden. Aus den versuchsspezifischen relativen Potenzes des jeweils betrachteten Kongeners (z.B. ED50, LD50, EC50, Tumorpromotionsindex, Dissoziationskonstante der Ah Bindungskinetik, Enzyminduktion usw.) wird dann ein TEF (TCDD-Äquivalenzfaktor) ermittelt. (Haws et al. (2004): Dioxin-2004, Berlin: Refined Data Base).
Tiefer in die Mathematik wurde bei der Definition der Additivität eingestiegen. Man nennt eine Kombinationswirkung zweier Substanzen global additiv, wenn Additivität für alle Dosiskombinationen (d1, d2), d1>0, d2>0, gilt. In der graphischen Darstellung (s. Abbildung) sind die Isobolen (Dosiskombinationen gleicher Wirkungsstärke) dann Geraden mit positivem Achsenabschnitt.
Ein Validierungsversuch der errechneten TEF wurde am National Institute of Environmental Health Sciences (NIEHS) in Triangle Park, North Carolina unternommen (Walker et al. (2004): Dose-additive carcinogenicity of a defined mixture). Unter Gabe von äquipotenten Dosen von 2,3,7,8-TCDD (TEF=1), 1,2,3,7,8-PeCDF (TEF=0,5), 3,3’,4,4’,5-PCB (126) (TEF=0,1) und einem Gemisch dieser drei Substanzen, zu dessen Toxizität sie jeweils zu einem Drittel beitrugen, wurden bei weiblichen Harlan SD Ratten verschiedene Endpunkte betrachtet. Es ergab sich, dass die Annahme einer Toxizitätsaddition dieser Toxinkombination konsistent für Leberzelladenome und Plattenepithelkarzinome der Gingiva, nicht aber für Cholangiokarzinome und bestimmte Epitheliome der Lunge ist.
Das Mainzer Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin untersuchte in einer Feldstudie an hoch gegenüber Dioxinen und Furanen exponierten Arbeitern die Wirkung dieser Gemische auf Parameter des autonomen Nervensystems. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das TEF-Konzept bezüglich der Veränderungen des Farbensehens bewährt (A. Muttray,
L. Edler, H. Heinzl und D. Jung:
Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen PCDDs/Fs und dem autonomen Nervensystem).
L. Edler resümierte,
1 dass sich aus theoretischen Annahmen, aber auch gestützt auf experimentelle Daten, gute Hinweise auf die Korrektheit des Prinzips der additiven Wirkung der POP ergeben,
2 dass die experimentelle Nachprüfung bei komplexeren Gemischen an aufwandbedingte Grenzen stößt,
3 dass sich das TEF-Konzept für POPs in der Praxis bewährt hat,
4 dass in das TEF-Konzept in Zukunft vermutlich weitere „dioxin-ähnliche“ (dioxin-like) Substanzen einbezogen werden.

W. Keller: Konkurrierende Ursachen aus Sicht des Sozialrechts, und
J. Schneider: Synkanzerogenese
Die Vorträge von Joachim Schneider, dem kommissarischen Leiter des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität Gießen, zur Synkanzerogenese und Wolfgang Keller, Richter am Landessozialgericht Mainz, zu den konkurrierenden Ursachen aus Sicht des Sozialrechts, stellten sich als teilweise Pendants heraus, ein Umstand, der in der Diskussion zu einer außerordentlichen Belebung und Vertiefung des Themas führte. Diese beiden Vorträge werden daher im Folgenden zusammen referiert.
Die Problematik der Mehrfacheinwirkung ist für die Jurisdiktion nichts Neues, sie wird in der Fragestellung der wesentlichen Bedingung seit über hundert Jahren behandelt. Keller hob hervor, dass der naturwissenschaftliche Kenntnisstand über das Zusammenwirken verschiedenartiger Einwirkungen bisher unzureichend ist. Zudem seien chemische Stoffe in immer geringeren Konzentrationen analysierbar, in Konzentrationen, in denen es fraglich ist, ob überhaupt noch eine Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht. Ein wichtiges Problem ist die Bewertung der Mitursächlichkeit. Zuletzt bleibt immer noch die praktische Hürde der Einordnung in das Rechtssystem, in diesem Fall in das Listensystem des Berufskrankheitenrechts.
J. Schneider verwies darauf, dass die Berufskrankheitenliste im Bereich der chemischen Einwirkungen historisch bedingt monokausal strukturiert ist. In sieben Nummern der Berufskrankheitenliste wird auf einen einzelnen Stoff, in 21 Nummern auf jeweils eine Stoffgruppe wiederum in monokausalem Sinn und nur in einer Listennummer (BK-Nr. 1317) auf eine Stoffgruppe (nämlich die organischen Lösungsmittel) und deren Gemische abgehoben.
In seinem Vortrag analysierte Richter Keller den Vorgang der Kausalitätsprüfung, die Beurteilung gleichartiger Noxen im versicherten und unversicherten Bereich, die Bewertung unterschiedlicher Noxen und die Problematik des § 9 Abs. 2 SGB VII.
Einwirkung unterschiedlicher Noxen aus dem versicherten Arbeits- und aus dem unversicherten Privatbereich
Am Beispiel eines an einem hirnorganischen Psychosyndrom erkrankten Versicherten erläuterte er, wie die dem versicherten Bereich zuzurechnenden Faktoren (z.B. Lösemitteleinwirkungen) und die berufsunabhängigen Faktoren (z.B. anlagebedingtes Gefäßleiden) als Ursachen der Krankheit zu prüfen sind. Im Rahmen der zunächst zu erfolgenden Prüfung der Ursächlichkeit im naturwissenschaftlichen Sinne ist Maßstab die Wahrscheinlichkeit. Dabei stellt sich folgende Frage: Machen die bisherigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse es wahrscheinlich, dass eine kausale Beziehung zwischen Einwirkung und Erkrankung anzunehmen ist? Bei Vorliegen mehrerer wahrscheinlicher Ursachen ist als nächstes die Wesentlichkeit abzuwägen. Eine Bedingung ist immer dann wesentlich, wenn sie nicht von anderen Bedingungen ganz in den Hintergrund gedrängt wird. Eine Bedingung kann demnach auch wesentlich sein, obwohl sie gegenüber anderen Mitursachen nicht annähernd gleichwertig ist. Da die Unfallversicherung der Ablösung der zivilrechtlichen Haftung des Unternehmers dient, muss sie sich in ihrer Leistungsgewährung mit dem zivilen Schadensersatzrecht vergleichen lassen. Eine vergleichbar hohe Hürde der Leistungsgewährung wie die annähernde Gleichwertigkeit der Ursachen existiert aber im zivilen Schadensersatzrecht nicht.
Ohne dass sie in Gutachten oder die Urteilsfindung explizit Eingang finden sollte oder gar rechtlich verbindlich wäre, ist die Krasney’sche Formel zur Beantwortung der Frage der Wesentlichkeit doch zur Abschätzung hilfreich. Sie besagt, dass bei einem Verursachungsanteil von mindestens 1/3 eine wesentliche Mitursache anzunehmen ist, bei einem Verursachungsanteil bis zu 10 % diese zu verneinen ist und bei einem Verursachungsanteil zwischen 10 % und 1/3 in der Regel keine wesentliche Mitursache besteht, aber Ausnahmen möglich sind.

Einwirkungen unterschiedlicher Noxen in der versicherten Tätigkeit
Wirken bei der versicherten Tätigkeit unterschiedliche Noxen (auf das gleiche Zielorgan) ein, die für sich jeweils in der BK-Liste erfasst sind, so genügt für eine wesentliche Mitursächlichkeit, dass die verschiedenen Noxen jedenfalls im Zusammenwirken den Körperschaden wesentlich verursacht haben (BSG, Urt. v. 12.6.1990, Az. 2 RU 14/90: Versicherter mit Lungenfibrose war Einwirkungen durch Quarz (BK Nr. 4101), Aluminium (BK Nr. 4106) sowie Titan und anderen Hartmetallen (BK Nr. 4107) ausgesetzt). Anzuerkennen ist die Nummer der Liste, der die stärksten Einwirkungen zuzuordnen sind, im Notfall wird eine Wahlfeststellung getroffen.

Nur eine Noxe kann einer Listenerkrankung zugeordnet werden
Kann nur eine Noxe einer Listenerkrankung zugeordnet werden, so muss diese Noxe für sich allein eine wesentliche Mitursache darstellen, damit eine Berufskrankheit anerkannt werden kann. Ist dies nicht der Fall, kommt allenfalls eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII mit all seinen Facetten (generelle Geeignetheit, Gruppentypik, neue Erkenntnisse, Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs im Einzelfall) in Betracht.
Hier bezogen sich beide Vortragenden auf dasselbe Urteil (Hessisches LSG vom 31.10.2003, Az. 11/3 U 740/02 ZVW: Bei dem an Lungenkrebs leidenden Versicherten – als Dachdecker tätig – bestanden berufliche Asbesteinwirkungen von 14,6 Faserjahren sowie Einwirkungen durch PAK von 39 BaP-Jahren), das wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung für erhebliches Aufsehen gesorgt hat. Dieser Fallkonstellation liegen nun folgende juristischen Vorgaben zugrunde:
1. In der Berufskrankheitenlisten-Nr. 4104 ist in der 3. Alternative eine asbestbedingte Lungenkrebserkrankung erfasst, wenn eine Exposition von 25 Faserjahren erreicht oder überschritten wird
2. Empfehlung des ärztlichen Sachverständigenbeirats (BArbBl. 1998, Heft 4, S. 54; bisher nicht in der Berufskrankheitenliste umgesetzt) „Lungenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzo(a)pyren-Jahren“
Die Frage war nun, ob bei der bestehenden Koexposition eine Entschädigung nach § 9 Abs. 2 SGB VII möglich sei? Noch in einem Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 13.10.2003, Az. L 2 U 119/03 (“höchstens” 18,6 Asbestfaserjahre und 47,7 BaP-Jahre) wurde die Möglichkeit einer Anerkennung als Berufskrankheit (entsprechend Koch, Arbeitsmedizinisches Kolloquium Bad Reichenhall 2001) verneint, da bei Vorliegen von Dosisgrenzen in der Liste oder in der Empfehlung des ärztlichen Sachverständigenbeirats diese Entscheidung nicht über § 9 Abs. 2 SGB VII unterlaufen werden könne.
Das Hessisches LSG kam hingegen im hier geschilderten Fall in Übereinstimmung mit dem Urteil des BSG vom 4.6.2002, B 2 U 16/01 R zu der Auffassung, dass § 9 Abs. 2 SGB VII auch in solchen Fällen in Betracht komme, da die Sperrwirkung (auch bei Multikausalität) nur gelte, wenn der Verordnungsgeber eine abschließende Entscheidung getroffen habe. Dies sei nicht der Fall, weil er die Aufnahme in die Liste bei Synkanzerogenese hinsichtlich Asbest und PAK nicht geprüft habe. Es müssten allerdings
1. die generelle Geeignetheit des Zusammenwirkens von Asbest und PAK zur Verursachung von Lungenkrebs nach herrschender medizinischer Lehrmeinung gegeben sein und
2. eine verallgemeinerungsfähige Aussage zur Wechselwirkung der einzelnen Substanzen, d.h. zur jeweiligen Dosis-Wirkungs-Beziehung gemacht werden können. Es müsse geklärt sein, inwieweit der feststehende Schwellenwert der einen oder der anderen Substanz zur Entstehung der Krankheit unterschritten werden darf, um dennoch eine gruppentypische Risikoerhöhung darstellen zu können.
Hierzu führte das Hessische LSG allerdings weiter aus, dass bei Erkrankungen, die multifaktoriell auf mehrere Kausalfaktoren zurückgehen, die Forderung von Erkenntnissen gerade in Bezug auf jede Einwirkungskombination (hier also 14,6 Asbestfaserjahre und 39 BaP-Jahre) erkenntnistheoretisch und praktisch eine Überforderung der realen Möglichkeiten der Wissenschaft sei. Daher sei hier der Lösungsansatz von Woitowitz anzuwenden, der gesicherte Erkenntnisse im Sinne des § 9 Abs 2 SGB VII bei einer Risikoerhöhung hinsichtlich der Personengruppe, zu welcher der Versicherte zählt, im Verhältnis zur Allgemeinbevölkerung um mindestens den Faktor 2,0 für gegeben sieht. Dies sei bei dem zu entscheidenden Sachverhalt gegeben gewesen. Die Annahme einer zumindest additiven Risikoerhöhung wird durch das Kommuniqué der DGAUM über ein Symposium am 28.4. 2004 gestützt, das zur Synkanzerogenese die Aussagen trifft,
1. dass für Asbest und PAK gesicherte Daten über synkanzerogene Kombinationswirkungen aus molekularbiologischen, tierexperimentellen und epidemiologischen Erkenntnissen vorliegen und
2. dass das Zusammenwirken dieser Kanzerogene mit gleichem Zielgewebe/Zielorgan bei einem Individuum in der Regel zu einer mindestens additiven Erhöhung des Krebsrisikos führt.
Die Auffassung des Hessischen LSG, dass in solchen Fällen eine Anwendung des § 9 Abs 2 SGB VII möglich ist, wurde von Richter Keller geteilt. Dieser stellte allerdings klar, dass der Grenzwert der Risikoverdoppelung aus juristischer Sicht nicht, auch nicht geringfügig, unterschritten werden dürfe. Die Verdoppelungsrate führe im Übrigen nicht per se zur Bejahung des Ursachenzusammenhangs im Einzelfall. Bei Bejahung der Verdoppelungsrate würden sich in den allermeisten Fällen keine Gründe finden lassen, die es rechtfertigen, den wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang zu verneinen. Der zusätzliche Faktor „Rauchen“ rechtfertige i.d.R. nicht die Verneinung des ursächlichen Zusammenhangs im Einzelfall, weil Rauchen gerade im Zusammenwirken mit Asbest und PAH das Einzelfallrisiko noch steigert.
Nach diesen beiden Vorträgen entspann sich eine lebhafte Diskussion, in der vor allem eines klar wurde: Im Feststellungsverfahren sind die Aufgaben von Naturwissenschaft und Medizin gegenüber der Jurisdiktion klar verteilt. Die Medizin hat die naturwissenschaftlichen Fakten und damit die Entscheidungsgrundlage für die juristische Entscheidung zu liefern. Zu berücksichtigen sind die notwendigerweise unterschiedlichen Denkschemata von Naturwissenschaft und Rechtsprechung. Drücken sich schon in den naturwissenschaftlichen Begriffen von Mittelwert und Standardabweichung Erkenntnisdefizite für den Einzelfall bzw. die prinzipielle Unmöglichkeit aus, von Gruppenergebnissen unzweideutig auf den konkreten Einzelfall zurück zu schließen, gibt es also für den Naturwissenschaftler in der Beurteilung des Einzelfalls immer ein Mehr oder Weniger, so wird vom Richteramt ein Ja oder Nein im konkreten Einzelfall erwartet. Aus Sicht des Naturwissenschaftlers ist es durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, dass auch einmal eine Asbestbelastung unter 25 Faserjahren zum Lungenkrebs führt, die Jurisdiktion muss sich aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens auf einen Grenzwert festlegen. Es ist also möglich, dass eine juristische Entscheidung nicht jedem als gerecht im Sinne der vermeintlichen naturwissenschaftlichen Wahrheit erscheint, auf alle Fälle ist es aber nötig, dass im Einzelfall unter Berücksichtigung allgemeiner Grundsätze Recht gesprochen wird.

Detlev Jung

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