Rubriken

Arbeitsmedizin in Deutschland, es fährt ein Zug nach nirgendwo …..?

Haben Sie je das unwirkliche Gefühl gespürt, in einem stehenden Zug zu sitzen, während auf dem Nebengleis ein anderer sich in Bewegung setzt? Es ist nur eine kurze Enttäuschung, einige Minuten später befinden Sie sich selbst schon wieder auf der freien Strecke. Die Demotivierungsgrundlage, die Verhältnisse seien starr und es bewege sich nichts, ist nur eine scheinbare.

In dieser orientierenden Lücke scheint sich die Arbeitsmedizin zu bewegen, wenn allenthalben seit Jahren aus berufenen Mündern deren Niedergang herbeigeplaudert wird. Wen wundert es, wenn diese negative Stimmung von den nachgeordnet Betroffenen (das arbeitsmedizinische Assistenzpersonal) ebenfalls Besitz ergreift.

Glauben Sie wirklich, dass die diesbezüglichen deutschen Fundamente und sozialen Errungenschaften im 19. und 20. Jahrhundert sowie die in 1974 mit Inkrafttreten des ASiG erzeugte Hochstimmung mit nachfolgendem Aufbau bewährter Strukturen nur deshalb dem Untergang unterliegen sollen, weil notwendig korrigiert werden muss?

Der Standpunkt „es ist egal, was wir machen“, ist schon oft entgleist.

Allein das deutsch-unglückliche Wort Arbeitsmedizin gibt nicht den Inhalt wieder, den die EU-Richtlinie fordert, und wir schielen ständig – nicht nur deshalb – auf anglo-amerikanische Schlagwörter, die z.Tl. das wiedergeben, was wir als Fundamente bereits angelegt hatten.

Der Politik wird vorgeworfen, die Machtfrage im Gesundheitswesen zu vermeiden, sie habe kein Interesse, ihr genüge ein paar Vorzeigemodelle, die Masse der K+M-Betriebe werde vernachlässigt. Was kann sie auch tun, wenn sie sich dem augenblicklichen Weltbild der Ökonomisierung aller Lebensbereiche unterworfen fühlt? Weltbilder sind aber immer partikulare Erkenntniswelten, der Mensch ist grundsätzlich mehr, als er von sich wissen kann (ph.).

Das Heilsversprechen der im Moment vorgegebenen Arbeitsmedizin liest sich so:

„Der salutogenetische Ansatz bei der arbeitsmedizinischen Pflege der Humanressourcen fördert Motivation und Leistungsvermögen bei der Arbeit. Der Return on Investment (der rechnerische Einsatz der Arbeitsmedizin) ist in betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Relationen nachweisbar ….., u.s.w., u.s.w.“. Vor so viel Allmacht kann man sich nur wegducken.

Man entfernt sich vom Menschen und beschäftigt sich mit den eigenen Höhepunkten. Ein Dogma muss her, liberalisieren bedeutet ja, sich selbst aufzugeben.

Diese Sprache versteht der Kostenrechner Arbeitgeber; dafür zahlt er in Umlagen, vielleicht doch, ohne genau zu wissen, warum?

Gerade er müßte sich fragen, warum er zahlt! Ist die Arbeitsmedizin wirklich nur in reinen Lohnzusatzkosten zu bemessen? Und ist diese Ansicht einiger Dienstleister in der Arbeitsmedizin glaubhaft?

Wenn unsere nationale Umsetzung über die gesetzlichen Vorgaben des EU-Rechts angeblich hinausgeht (das ist nicht der Fall, gesetzliche Rahmenvorgaben sind Mindestvorgaben, nationale auch bei neuen Vorgaben positiv bestehende Regeln sollen erhalten bleiben, und ohne sie wäre kein EU-Recht in der bestehenden Form entstanden), dann bräuchten wir nicht weiter zu deregulieren, sondern nur zu warten, bis auch das „letzte Land“ in der EU erscheint und sich die ganze Angelegenheit wunschgemäß aufgelöst hat.

Offenbar soll nicht mehr verstanden werden, für wen diese Vorgaben überhaupt gemacht werden. Die Vor-Ort-Betreuung ist bereits fast abgeschafft. Niemand will von Einzelvorgaben bis zum Hals stranguliert werden, doch sollte man einfach mal auf die Bedürfnisse und Akzeptanz der Betroffenen (Arbeitgeber und Mitarbeiter) achten und nicht zum Erhalt eines weniger sinnvollen Überbaus täglich neue Thesen in die Welt setzen. Wissenschaftliches Arbeiten muss zwar nicht unbedingt vor Ort bestehen, aber Schlüsse aus Schlüssen zu ziehen, die nicht definiert (verifiziert) sind, verbietet sich.

Kommt man im jetzigen Leben nicht zurecht, wendet man sich dem nächsten zu, in dem die künftige Rolle der Arbeitsmedizin sein soll: Förderung, Erhaltung und Mitwirkung bei der Wiederherstellung von Gesundheit sowie der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit des Menschen, ganzheitliche Betrachtung des arbeitenden Menschen unter Berücksichtigung somatischer, psychischer und sozialer Prozesse. Wissenschaft und Praxis (Kenntnis der konkreten Arbeitssituation, Gefährdungsanalysen) seien zu berücksichtigen sowie die Analyse und Beurteilung der Arbeitsbedingungen, die individuelle Gesundheitsförderung und die Integration und Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Nostra culpa, kann ich nur sagen, wieso künftig? war das nicht schon immer die Aufgabe der Arbeitsmedizin? wurde sie vergessen bei der hausärztlichen Ersatzarbeit und den diensteifernden gebuckelten Gelegenheitsarbeiten?

Wir wollen vorsorgen (im Sinne der EU-Richtlinie), was die Fürsorge (im Sinne der Bedeutung des englischen Wortes) einschließt; und das beginnt bekanntermaßen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist (Krankheit).

In den nächsten Jahrzehnten (?) soll der Anteil älterer Menschen an den Beschäftigten deutlich steigen werden; Mitarbeiter über 45 Jahre sollen dann die Mehrheiten in den Belegschaften stellen werden; gleichzeitig werden Unternehmen mehr qualifizierte, motivierte und vor allem gesunde Mitarbeiter benötigen, damit gleichzeitig der vom Erhalt der Erwerbsfähigkeit abhängige künftige Bestand der Sozialsysteme gesichert werden wird. Unter dem Vorbehalt der Aufrechterhaltung der jetzigen Sicherungsstrukturen erwarten uns somit große Aufgaben; nur: wer glaubt bei den uns bisher eingeimpften Denkschablonen, in denen die Anpassung an etwas gelehrt wird, so wie man Krankheiten und Patienten der gültigen Ökonomisierung unterstellt, wirklich an diese Zielsetzung?

Bleiben wir beim Heute: Gesundheitsvorsorge ist auch das ständige Bemühen um den Erhalt des Erreichten. Nun heißt die neue Aufgabe: „Nicht das Umsetzen von Vorschriften und Regeln steht im Vordergrund, sondern das Erreichen von Arbeitsschutzzielen bestimmt das Handeln.“ Hier spielt die jeweils persönliche Disposition hinein. Es wird mehr auf den „gesunden Menschenverstand“ gesetzt, denn auf eine Verrechtlichung aller Probleme in Rechtsnormen. Der Knackpunkt liegt also beim Verzicht auf detaillierte Verhaltensvorgaben. Die Frage sei erlaubt: wenn Arbeitsplätze, Arbeitsmittel, Maschinen, Anlagen und Werkzeuge nicht krank machen dürfen –, benötigt man dann keine definierten kompetenten Hilfen? Beschreitet man lieber den Weg der organisierten Eigenhilfe?

Beim jeweils menschlich begrenzten Erkenntnisstand ist es natürlich nicht angezeigt, schlicht alles zu regulieren, da es keine Einmütigkeit des endgültig Erkannten gibt.

Die neue Aufgabe aber erfordert eine große Transparenz, die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen und gegenseitige Unterstützung – keine einsamen Entschlüsse – in den Unternehmen. Kooperation, sich einbringen und sachlicher Austausch aller Beteiligten ist gefragt, das schafft kommunikativ Vertrauen.

Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie Ihr Sachgebiet Arbeitsmedizin differenziert und selektiv wahr. Sie stehen als Bindeglied zwischen den Experten, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arzt. Sollten Sie von den Experten im Betrieb ausgeklammert werden, dann taugt Ihr Expertenteam nichts und die geforderte neue Rolle wird konterkariert.

Das Sich-Einbringen erfordert Wissen, Hintergrundwissen. Bleiben Sie nicht stehen beim täglich Notwendigen. Wenn Sie von nichts wissen wollen, wird Ihre Unwissenheit von anderen verwendet. Und wer Ihr geistiges Eigentum „Wissen“ als nicht notwendig erachtet (diese Aussage hören wir öfters), der verhält sich anmaßend und strategisch falsch. In Zeiten, in denen das examinierte Krankenpflegepersonal die Kliniken verlässt und durch Medizinische Fachangestellte (Nurse Practitioner) ersetzt wird, in denen die Arztpraxen ihr medizinisches Personal durch kaufmännische Angestellte ersetzt und das arbeitsmedizinische Assistenzpersonal zunehmend aus den Betrieben rekrutiert wird, ist durchgängige Wissenserweiterung besonders notwendig.

Übrigens: Ende 2007 soll der Streit um die Winter-/Sommerzeit wieder fortgesetzt werden. Es wird gesagt, unser Körper benötige Tage für die jeweilige Umstellung.

Sollte man hier nicht auf den Umstand der vorübergehenden Leistungsminderung achten? Von unseren Experten aus der Arbeits-, Umwelt- und Sozialmedizin haben wir bisher weniges bis nichts darüber vernommen.

Zum bevorstehenden Jahreswechsel wünschen wir Ihnen allen einige ruhige und nachdenkliche Tage und ein gutes und gesundes Jahr 2008, Ihr

VAF e.V.

H. Schwertner

Aktuelle Ausgabe

Partnermagazine

Akademie

Partner