01_Betriebliches Gesundheitsmanagement

Selbstreflexion statt Autopilot

Petra Jauch

„Die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit wie nie zuvor“, betont Olga Zumstein, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Betriebsärztin bei der BASF SE. „Denn das Gehirn als Organ ist genauso wichtig wie Gelenke oder Skelett.“

Das hat ihr Arbeitgeber vergleichsweise früh erkannt: Das Unternehmen stellte nicht nur 1866, ein Jahr nach seiner Gründung, den ersten Fabrikarzt der Chemischen Industrie in Deutschland ein, sondern ist auch Vorreiter in Sachen psychische Gesundheit und Prävention: „Die BASF war jahrzehntelang die einzige Firma mit einer eigenen Psychiaterin“, erklärt Zumstein. Heute sorgen insgesamt 28 zwei‐ und dreifache Fachärzte in der firmeneigenen Ambulanz für die arbeitsmedizinische Vorsorge und notfallmedizinische Betreuung der Mitarbeiter – mit Dr. Kristin Hupfer und Olga Zumstein auch zwei Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie.

Die Unterstützung und Beratung von Mitarbeitern mit psychischen Problemen war von Anfang an ein Anliegen der Firma. 1922 gründete die BASF die Sozialberatung, die heute eine BASF Stiftung ist und Sozial‐ und Lebensberatung für die Mitarbeiter ermöglicht. Medizinischfachliche Beratung bekamen sie in der Ambulanz im Rahmen von psychiatrischen und arbeitsmedizinischen Sprechstunden. „Professor Dr. Lang, Leiter der Abteilung Corporate Health Management der BASF, betrachtete bereits
Ende der 90er Jahre, noch bevor die Burnout‐Welle in den Medien eingeschlagen ist, Stressmanagement als systematischen Prozess“, erzählt Zumstein.

Fünf Phasen bis zum Burnout

Je nach Persönlichkeitstyp und individuellem Umfeld reagierten Menschen sehr unterschiedlich auf die an sie gestellten Anforderungen: Was den einen krank mache, verkrafte ein anderer möglicherweise unbeschadet, erklärt die Ärztin. Hinter der Diagnose Burnout steckten insofern Belastungen – private und berufliche – aber immer auch persönliche Strukturen. „Bei genauer Betrachtung der fünf Entwicklungsphasen zum Burnout wird klar, dass Burnout keine Krankheit ist, sondern ein Zustand, der sich während des Berufslebens entwickeln kann. Wenn sich dieser manifestiert, kann daraus eine psychische Störung entstehen“, fasst Zumstein zusammen (siehe Kasten „Die fünf Phasen des Burnouts“).

Rechtzeitig zum Stoppen bringen könne diese Entwicklung nur eine gute Selbstwahrnehmung beziehungsweise Achtsamkeit gegenüber sich selbst. „Ganz wichtig für eine gesunde Psyche ist Selbstreflexion. Das vergessen die Leute jedoch, sie schalten einfach auf Autopilot.“ Die Fähigkeit zur Selbstreflexion sei auch nicht selbstverständlich, sondern müsse erlernt werden. „Unser Leben ist ein Prozess. Um langfristig belastbar zu sein, bedarf es einer gewissen Professionalität im Umgang mit sich selbst. Es ist hilfreich, sich immer wieder selbst zu fragen: Wie weit gehen meine Belastbarkeitsgrenzen und wie weit darf ich diese überstrapazieren?“

Stressmanagement mit vier Säulen

Hilfestellung dazu gibt das Stressmanagement in der BASF SE. Ziel ist, die Beschäftigten vor psychischen Erkrankungen zu bewahren beziehungsweise Betroffenen die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu erleichtern. Das Instrument basiert auf vier Säulen:

  1. Analyse
  2. Verhältnisprävention
  3. Verhaltensprävention
  4. Case Management

Die Analyse stützt sich auf arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen und Gesundheits‐Checks, um Belastungsfaktoren zu identifizieren und bedarfsgerechte Beratungsangebote für die Mitarbeiter zu entwickeln. Zum anderen geht es um die Ergebnisse der betriebsärztlichen Begehungen und die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz. Hier sieht Zumstein eine Herausforderung für „das Riesenhaus BASF“ mit seinen 39.000 Mitarbeitern allein am Standort Ludwigshafen: „Angesichts dieser Größenordnung ist es sehr schwer, einen einheitlichen Prozess zu implementieren. Es wurden verschiedene Instrumente geprüft. Am Ende ist ein standardisierter Drei‐Stufen‐Prozess entstanden, der von einer Checkliste
mit elf Fragen begleitet wird.“ Nach mehreren Pilotprojekten beginnen nun Reihenworkshops für Führungskräfte zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz.“

Führung gibt den Ton vor

Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen verunsichert laut Zumstein immer noch viele Führungskräfte deutschland‐ und europaweit. „Sie fragen sich, was dabei herauskommt – vielleicht Kritik an ihrem Verhalten?“ Der Führungsstil sei jedoch eindeutig ein Schlüsselelement für das psychische Wohlbefinden der Mitarbeiter, denn „Vorgesetzte diktieren den Tonfall.“ Deshalb spielen Führungskräfte auch im Stressmanagement der BASF eine entscheidende Rolle: Die obere Führung und Executive Candidates sind Hauptadressaten der Maßnahmen zur medizinischen Verhältnisprävention. Die Aufgaben der Führungskräfte würden dabei nicht leichter: „Digitalisierung, Globalisierung, Information Overload, Multikulti – je mehr auf die Beschäftigten zukommt, desto feinfühliger müssen Führungskräfte sein“, meint Olga Zumstein. Sie sollten zum einen verstehen, wie ihre Mitarbeiter ticken – „das gelingt nicht durch zwei Mitarbeitergespräche jährlich.“ Zum anderen müssten sie imstande sein, den eigenen Stress zu regulieren.

Zur Unterstützung der Führungskräfte sieht das Stressmanagement Seminare für „Gesundheitsorientiertes Führen“ vor. Hinzu kommen persönliche Beratung und Unterstützung bei schwierigen Fällen und regelmäßige Angebote des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) in Form von Seminaren oder Workshops. Um bei den Führungskräften Empathie und Verständnis für die Bedürfnisse und Ängste
psychisch erkrankter Mitarbeiter zu wecken, werden bei einigen dieser Seminare Videos gezeigt. In diesen Kurzfilmen sprechen Mitarbeiter der BASF, die an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt sind, in anonymisierten Interviews über ihre Erkrankungen. Die authentischen Berichte bewirken mehr als jedes Fallbeispiel: „Psychisch Erkrankte denken oft ‚Ich bin unfähig, ich bin ein Versager‘. Sie empfinden Angst und Scham, befürchten Gesichtsverlust und Blamage“, weiß die Ärztin.

Die persönlichen Aussagen der Betroffenen in den Videobotschaften helfen, offener mit dem Thema umzugehen und senken die Hemmschwelle, sich gegebenenfalls selbst an die Ambulanz oder Sozialberatung zu wenden. Ein weiteres Mittel, um Ängste abzubauen und sich zu informieren, ist die Intranetseite „Psychische Gesundheit“ des Corporate Health Managements.

Primärprävention für alle Mitarbeiter

Während sich die Verhältnisprävention vornehmlich an die Führungskräfte richtet, umfasst die Verhaltensprävention Angebote für alle Mitarbeitergruppen. Diese Primärprävention ist vor allem ein Arbeitsfeld des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM): Es umfasst Gesundheitsseminare, Sportaktivitäten, Vorträge und Workshops zu verschiedenen Themen wie zum Beispiel guter Schlaf, gesunde Ernährung, Work‐Life‐Balance und Achtsamkeit. Auch die speziellen Gesundheitsseminare im Haus Breitnau, dem Aktivhotel der BASF im Hochschwarzwald, gehören dazu.

Die beiden Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie halten jährlich etwa hundert Vorträge und Workshops mit Themen rund um die psychische Gesundheit. Diese Angebote sind schnell ausgebucht – ein Beleg für die große Akzeptanz und das Interesse in der Belegschaft. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen der BASF, wie zum Beispiel dem Work‐Life‐
Zentrum LuMit oder der Sozial‐ und Lebensberatung, hilft den Medizinern, die Mitarbeiter zu erreichen und für Themen wie Life Balance, Glücklichsein und gesunden Lebensstil zu sensibilisieren.

Individuelle Betreuung

Bei der vierten Säule im Stressmanagement, dem sogenannten Case Management, stehen die Erkrankten im Mittelpunkt. Hier geht es sowohl um akute Fälle als auch um chronisch Kranke oder Beschäftigte, die nach längerer Krankheitsphase eine berufliche Wiedereingliederung anstreben. Die firmeneigene Ambulanz mit den Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie ermöglicht in Krisensituationen oder bei akut auftretenden Erkrankungen eine schnelle Betreuung. Zu ihren Patienten im Case Management pflegen die Ärztinnen grundsätzlich eine vertrauensvolle Beziehung, alles wird unter Einhaltung strikter Schweigepflicht behandelt.

Stärke durch Vernetzung

Um Mitarbeitern schnell helfen zu können, sind die firmeneigenen Mediziner auch auf ein externes Netzwerk angewiesen. Dies umfasst die Zusammenarbeit und Kooperation mit nah gelegenen Krankenhäusern sowie niedergelassenen Kollegen. Seit einigen Jahren hilft darüber hinaus ein Kooperationsprogramm mit der Betriebskrankenkasse pronova BKK und dem Ärztenetzwerk GO‐LU (Gesundheitsorganisation Ludwigshafen) bei der schnelleren Vermittlung eines Psychotherapieplatzes für die Versicherten. Vergleichsweise neu ist das Kooperationsprogramm „Stärke durch Vernetzung“, an dem neben der pronova BKK auch die Deutsche Rentenversicherung beteiligt ist: Der Zusammenschluss sorgt für beschleunigte Verfahren bei Reha‐Anträgen – ein eindrückliches Beispiel für integriertes Gesundheitsmanagement.

Schnittstelle Personalmanagement

Die stufenweise Wiedereingliederung von Erkrankten ist zwar primär eine medizinische Maßnahme, weist aber auch Schnittstellen zum Personalmanagement auf. „Bei psychiatrischen Fällen arbeiten wir sehr eng zusammen.“ Seit 2017 hilft der strukturierte BASF‐BEM‐Prozess, also das betriebliche Eingliederungsmanagement, bei der Reintegration der Patienten am Arbeitsplatz. „Damit kümmern sich nicht nur Ärzte, sondern auch Mitarbeiter der Personalabteilung um die Betroffenen“, erklärt Zumstein. Dank des BEM‐Prozesses mache sich die Firma noch mehr Gedanken um jeden Einzelfall, überprüfe die individuellen Arbeitsbedingungen und die Gestaltung des Arbeitsplatzes.

Zwar richtet sich das Angebot im Case Management in erster Linie an die Mitarbeiter am Standort Ludwigshafen, in besonderen Fällen reicht es aber auch über die Stadtgrenzen hinaus. „Wir haben zum Beispiel schon einige Patienten mit schweren Erkrankungen oder nach Unfällen aus dem Ausland zurückgeholt“, erzählt die Ärztin. Obwohl Case Management bei psychiatrischen Fällen zeitaufwändig und intensiv sei, werde es auch in diesem Bereich angewandt. „Die Firma stempelt psychisch Erkrankte nicht ab, sondern gibt ihnen einen Korridor und grünes Licht zur Weiterentwicklung. Das kann ich aus eigener Erfahrung mit meinen Patienten bestätigen“, lobt Olga Zumstein. Ihr selbst verleihe dies ein gutes Gefühl und Freude an ihrem Beruf. „In einer Firma mit diesen Möglichkeiten zu arbeiten, ist sehr erfüllend für einen Psychiater.“

Bindeglied Sicherheitsbeauftragte

Als besonders wertvoll empfindet Zumstein zudem den Kontakt und die Zusammenarbeit mit den Sicherheits‐ und Gesundheitsbeauftragten (SiGeBe). Anders als in anderen Unternehmen betrachtet die BASF Sicherheit‐ und Gesundheit als eine Einheit, weshalb die Ausbildung und Kompetenzen der Sicherheitsbeauftragten vor einiger Zeit erweitert wurden. „Sie sind erste Ansprechpartner im Betrieb zu Gesundheitsangeboten und kennen uns in der Regel: Manchmal rufen sie an, manchmal schreiben sie Mails“, freut sich die Ärztin. Die SiGeBe zeigten Interesse an Informationen zum Thema Gesundheit, besuchten Seminare und Vorträge zur Weiterbildung – manche Veranstaltungen darunter seien auch Pflicht. „Sie sind unsere erweiterte Hand in die Betriebe.“

Auch für andere Unternehmen hat die Ärztin einen Tipp: Nach dem Motto „Wir machen so viel, aber ist es auch wirksam?“ seien viele Firmen unsicher, ob sie sich in der Stressprävention auf dem richtigen Weg befänden. Olga Zumsteins Rat dazu lautet, nicht alle Maßnahmen in einen Topf zu werfen, sondern nach Zielgruppen zu unterscheiden – so wie es im systematisierten Stressmanagement der BASF gehandhabt wird.

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