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Schläfrigkeitswarnsysteme in PKW – was sollte der Betriebsarzt davon wissen? eingereicht: 12.11.2010, angenommen: 12.11.2010

In einer rund um die Uhr arbeitenden Gesellschaft sitzen viele Fahrer nicht ausgeruht am Steuer. Fahrerschläfrigkeit, insbesondere Sekundenschlaf, stellt eine wesentliche Ursache auch für tödliche Verkehrsunfälle dar.

Fahrerlaubnis-Verordnung und G25
Gemäß der novellierten Fahrerlaubnis-Verordnung muss der untersuchende Arzt jetzt auch zur Frage einer möglichen Tagesschläfrigkeit Stellung nehmen (Anhang 5). In diesem Zusammenhang ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Einschlafunfälle am Steuer gehäuft in der Zeit zwischen Mitternacht und den frühen Morgenstunden auftreten 1. Diese besondere Gefährdung wird jedoch nicht explizit in der novellierten Fahrerlaubnis-Verordnung behandelt. Kürzlich wurde der Berufsgenossenschaftliche Grundsatz G25 „Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten“ um eine Anlage „Schlafapnoe“ ergänzt, die dem Betriebsarzt Hinweise für die Untersuchung gibt. Die rein medizinischen Aspekte einschließlich der Nachtarbeit sind dem Betriebsarzt bekannt und sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Ein wesentlicher Bestandteil der betriebsärztlichen Tätigkeit ist die Beratung des Untersuchten, die im Hinblick auf eine mögliche Fahrerschläfrigkeit auch Kenntnisse des Arztes über die Möglichkeiten und Grenzen von Fahrerassistenzsystemen erfordert.

Schläfrigkeitswarnsysteme für PKW-Fahrer
In den letzten Jahren werden zunehmend Schläfrigkeitswarnsysteme für PKW, vor allem in der gehobenen Preisklasse, von verschiedenen Herstellern angeboten. In Einzelfällen wurde recht aggressiv damit geworben. Beispielsweise wurde von einem Vertreter einer bekannten ausländischen Marke auf der IAA 2007 gegenüber dem Autor erklärt, dass der Spurhalteassistent eines beworbenen Modells sicher vor Sekundenschlaf warnen könne. Wenn der Fahrer die Spur verlasse, ohne den Blinker zu betätigen, vibriere die entsprechende Seite des Sitzes unter dem Oberschenkel. Durch das Rütteln des Sitzes werde ein eingeschlafener Fahrer so rechtzeitig geweckt, dass er noch einen Unfall vermeiden könne. In einem Werbeprospekt desselben Herstellers wurde behauptet, dass ein „in einen Sekundenschlaf“ eingenickter Fahrer beim Verlassen der markierten Fahrspur durch das Vibrieren des Sitzes gewarnt werde, so dass er die Fahrtrichtung „sofort“ korrigieren könne.

Diese Mär hat sich bis in eine renommierte medizinische Fachzeitschrift verbreitet 2. In Bezug auf ein anderes Fahrerassistenzsystem war in der Laienpresse zu lesen: „Vergessen Sie, was Sie bisher über Sicherheit im Auto wussten und beim Fahren für erforderlich hielten. … So stellt künftig ein Achtungsassistent fest, ob der Fahrer eine Pause braucht und signalisiert ihm das auf einem Display und mit einem Warnton“3. Dies sind Beispiele für eine irreführende Berichterstattung in den Printmedien, wie sie auch im Internet zu finden ist („Macht müde Männer munter“). Der Betriebsarzt muss davon ausgehen, dass die zu Beratenden entsprechende Werbung und Presseberichte kennen und möglicherweise auch glauben. Er sollte deshalb das Thema von sich aus aktiv ansprechen. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, ihm Hinweise für das Beratungsgespräch zu geben.

Eine umfassende Darstellung aller Fahrerassistenzsysteme (nicht nur für die Erkennung von Fahrerschläfrigkeit), die auf dem Markt angeboten werden, einschließlich der veröffentlichten technischen Informationen würde den Rahmen dieses Beitrags bei Weitem übersteigen. Bezüglich unterschiedlicher Fahrerassistenzsysteme und ihres möglichen Nutzens sei der interessierte Leser auf einen kürzlich erschienenen Beitrag von Chiellino et al. 4 hingewiesen. Im Folgenden werden zwei verschiedene Schläfrigkeitswarnsysteme exemplarisch besprochen und daraus die für den Betriebsarzt relevanten Schlussfolgerungen abgeleitet.

Der Betriebsarzt sollte das Thema Fahrerschläfrigkeit von sich aus aktiv ansprechen.

Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf dem Besuch aktueller Kongresse (Jahrestagung der DGAUM 2010 einschließlich der Veranstaltung „Risiko raus! – Prävention von Unfällen im Straßenverkehr“, Symposium Vigilanz 2010 in Schmalkalden und Gemeinsames Symposium der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin 2010). Außerdem hat sich der Autor auf der Internationalen Automobilausstellung (IAA) 2009 bei verschiedenen PKW-Herstellern über Schläfrigkeitswarnsysteme informiert sowie Informationsmaterial besorgt. An einem Tag konnten nur eine begrenzte Anzahl von Gesprächen geführt und nicht alle Hersteller aufgesucht werden.

Ein Schwerpunkt meines Besuchs der IAA lag auf dem ATTENTION ASSIST von Mercedes-Benz. Das System ist bei Geschwindigkeiten zwischen 80 und 180 Kilometern pro Stunde aktiviert und fordert einen als schläfrig klassifizierten Fahrer sowohl akustisch als auch optisch auf, eine Pause einzulegen (Abbildung 1). Mercedes-Benz demonstrierte die Wirkungsweise des ATTENTION ASSIST an einem sehr realistischen Fahrsimulator (Abbildung 2). Die grundlegende Idee basiert auf der Tatsache, dass ein schläfriger Fahrer ruckartigere und gröbere Lenkradbewegungen als ein wacher Fahrer durchführt. Dies wurde dem Beobachter demonstriert: Auf der Leinwand wurde eine reale Nachtfahrt auf der Autobahn aus der Fahrerperspektive vorgeführt. Gleichzeitig wurde ein Video mit der Ansicht des Fahrers von vorne eingeblendet. Seine realen Lenkbewegungen wurden zeitgleich im Demonstrationsfahrzeug mit Hilfe eines speziellen Antriebs nachgestellt. Aufgabe des Beobachters war es, die Videofilme zu verfolgen und gleichzeitig die Bewegungen des Lenkrads zu fühlen. Anfangs machte der Fahrer einen wachen Eindruck, und die Lenkradbewegungen waren gleichmäßig und sanft. Auf späteren Videoaufnahmen war gut erkennbar, dass der Fahrer sehr schläfrig wurde (vgl. 5). Mit zunehmender Fahrerschläfrigkeit wurden die Lenkradbewegungen deutlich ruckartiger. Die Demonstration war sehr eindrucksvoll. Jedoch kann man nicht mit einem einzelnen gut ausgewählten Beispiel beweisen, dass ein solches System generell dazu geeignet ist, Fahrerschläfrigkeit in einem frühen Stadium sicher zu erkennen. Diese Frage war Gegenstand eines eingehenden Gesprächs mit Herrn Dr. Petersen, Mercedes-Benz Cars Entwicklung. Umfangreiche Experimente, die sowohl im Fahrsimulator als auch im realen Straßenverkehr durchgeführt worden waren, bildeten die Grundlage für die Entwicklung des Algorithmus, der im aktuellen ATTENTION ASSIST verwendet wird. Dabei werden außer dem Lenkradwinkel als Hauptmerkmal mehr als 70 Parameter wie Tageszeit, Fahrdauer und indirekt auch die Fahrbahneigenschaften (z.B. Schlaglöcher) berücksichtigt. Aus Gründen des Patentschutzes sind keine Details des Algorithmus veröffentlicht worden. Für die Validierung wurde auch die neunstufige Karolinska Sleepiness Scale herangezogen, auf der die Fahrer ihre subjektive Schläfrigkeit einschätzten. Auf der Skala bedeutet die 6: „erste Anzeichen von Schläfrigkeit“. Hier soll der ATTENTION ASSIST keine Warnung abgeben. Bei 7, definiert als „schläfrig – kann mich aber ohne Mühe wach halten“, gilt eine Warnung als „akzeptabel“. Ab einem Score von 8, der mit „schläfrig – kann mich aber mit ein wenig Mühe wach halten“ beschrieben wird, muss eine Warnung erfolgen. Da sich die einzelnen Fahrer in ihrer individuellen Fahrweise und damit auch in ihren Lenkbewegungen sehr unterscheiden können, dienen die ersten Minuten der Fahrt als Referenz für die nachfolgende Fahrtstrecke.

Ein Fahrerassistenzsystem entbindet den Fahrer keinesfalls von seiner Sorgfaltspflicht, selbst auf mögliche Zeichen von Schläfrigkeit zu achten.

Dies ist nicht unproblematisch, wenn sich der Fahrer bereits in einem schläfrigen Zustand, z.B. im Anschluss an eine Nachtschicht, ans Steuer setzt. Sinnvoll wären Referenzdaten, die zu einem früheren Zeitpunkt in wachem Zustand aufgezeichnet wurden. Die dafür erforderliche Datenspeicherung erschien aber in rechtlicher Hinsicht als problematisch. Im Übrigen wies Herr Dr. Petersen ausdrücklich darauf hin, dass ein Fahrerassistenzsystem wie der ATTENTION ASSIST den Fahrer keinesfalls von seiner Sorgfaltspflicht, selbst auf mögliche Zeichen von Schläfrigkeit zu achten, entbindet. Der ATTENTION ASSIST sei vielmehr als eine Hilfestellung für den Fahrer gedacht. Weitere Informationen zum Nutzen des Systems erhofft man sich von der Auswertung von Unfalldaten, die das Kraftfahrtbundesamt den Herstellern zur Verfügung stellt. Falsch positive Warnungen des Fahrerassistenten scheinen relativ selten vorzukommen.

Einen anderen technischen Weg wählte Audi mit seinem Spurhalteassistenten. Mittels einer Kamera im Gehäuse des Innenspiegels werden die Fahrbahnbegrenzungen erkannt, wenn gut erkennbare Fahrbahnmarkierungen vorhanden sind. Ab einer Geschwindigkeit von ca. 60 km/h warnt der Assistent den Fahrer durch eine Vibration im Lenkrad, wenn er seine Fahrspur verlässt, ohne den Blinker zu betätigen. Der Warnzeitpunkt und die Vibrationsstärke sind einstellbar. Das System korrigiert nicht die Lenkbewegungen des Fahrers. Auch Audi wies ausdrücklich darauf hin, dass der Spurhalteassistent den Fahrer unterstützen soll, ihn aber nicht von seiner Verantwortung entbindet. Audi hatte ebenfalls noch keine Unfallanalysen zur Effektivität des Assistenten.

Auffällig war, dass an den Ständen mehrerer anderer bekannter Hersteller auf der IAA 2009 keine oder nur sehr spärliche Informationen zu erhalten waren. Es ist zu erwarten, dass demnächst weitere Systeme zur Erkennung von Fahrerschläfrigkeit auf dem Markt eingeführt werden. Beispielsweise kündigte Bosch im September 2010 ein System zur „Müdigkeitserkennung“ für PKW und leichte Nutzfahrzeuge an, das auf der Analyse des Lenkwinkels basiert.

Schlussfolgerungen für die Praxis
Bisher gibt es meines Wissens keine auf dem Markt eingeführten Systeme, die den Fahrer rechtzeitig und absolut zuverlässig beim Auftreten von Fahrerschläfrigkeit warnen (vgl. auch 6). In dieser Beurteilung besteht Konsens mit den Experten, mit denen ich auf den o.g. Kongressen die Thematik erörtert habe. Von den mir bekannten Schläfrigkeitswarnsystemen für PKW scheint der ATTENTION ASSIST ein relativ weit ausgereiftes System zu sein. Die Annahme, dass ein solches System allein oder auch in Kombination mit anderen Fahrerassistenzsystemen Unfälle vermeiden kann, ist naheliegend. Es bleibt abzuwarten, welche konkreten Effekte die noch ausstehenden Unfallanalysen zeigen werden. Für den Fahrer ist von Bedeutung, wie sicher die Aussagekraft einer Warnung bzw. die ihres Fehlens ist. Wissenschaftlich belastbare Daten zum positiven und negativen prädiktiven Wert von auf dem Markt eingeführten Fahrerassistenzsystemen zur Detektion von Schläfrigkeit sind aber meines Wissens bisher nicht publiziert worden. Trotz ihres mutmaßlichen Nutzens entbinden Fahrerassistenzsysteme den Fahrer keinesfalls von der Pflicht, Fahrten richtig zu planen und sorgfältig auf mögliche Zeichen von Fahrerschläfrigkeit zu achten. Dies sollte im Gespräch zwischen Betriebsarzt und Mitarbeiter ausdrücklich thematisiert werden. Der qualifizierten Beratung durch den Betriebsarzt kommt hier eine hohe Bedeutung zu. Denn wenn sich schlecht informierte Fahrer in schläfrigem Zustand im Vertrauen auf ihr Fahrerassistenzsystem ans Steuer setzen, kann sich der potentielle Nutzen der neuen Technik rasch in das Gegenteil verkehren.

Literatur

1. Geißler B, Hagenmeyer L, Erdmann U, Muttray A. Sekundenschlaf – eine unterschätzte Gefahr? ErgoMed 2007; 31: 16–21

2. Werner H. Citroën C6: Zurück in die Zukunft. Dtsch Ärztebl 2006; 103: A-875

3. Adams U. Das denkende Auto kommt. Mainzer Rheinzeitung, 15.11.2008

4. Chiellino U, Winkle T, Graab B, Ernstberger A, Donner E. Was können Fahrerassistenzsysteme im Unfallgeschehen leisten? Z Verkehrssicherheit 2010; 56: 131–137

5. Muttray A, Hagenmeyer L, Unold B, du Prel J-B, Geißler B. Videoanalyse der Schläfrigkeit von Fahrern. Z Arb Wiss 2007; 61: 245–254

6. Golz M, Sommer D, Trutschel U, Sirois B, Edwards D. Evaluation of fatigue monitoring technologies. Somnologie 2010; 14: 187–199

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